Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

wie überstehen wir Krisen? Mit dem Satz „If you’re going through hell, keep going“ versuchte Winston Churchill die Moral seiner Landsleute angesichts der drohenden Invasion der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges zu stärken. Weitermachen, aber wie? Die Krisen scheinen kein Ende zu nehmen. Während viele Menschen auf ein baldiges Ende der Coronapandemie und damit auf ein Stück Normalität hoffen, bringt der Ukraine-Konflikt neues Leid und eine neue Bedrohung des humanistischen Miteinanders und der liberalen Werte unserer Demokratie in Europa, denen wir nicht gleichgültig gegenüberstehen können.

Diese FORUM-Ausgabe widmet sich den Herausforderungen von COVID-19 in der Onkologie. Die Herausforderungen sind enorm – und zwar nicht nur für Patientinnen/Patienten und Angehörige, sondern auch für diejenigen, die für die medizinische Versorgung entscheidend sind. Stehen wir nach dem Abklingen der Infektionszahlen vor einer „sekundären Pandemie“ der psychosozialen Folgeprobleme, derer wir erst allmählich gewahr werden?

Die Pandemie hat im Leben vieler Menschen Veränderungen mit sich gebracht, die das Risiko für psychische Gesundheitsprobleme wie Angstzustände und Depressionen erhöhen. Unsicherheit, Personalknappheit, Überstunden, die Impfdiskussion in Deutschland, unüberschaubare Coronaregeln – nach zwei langen Jahren des Durchhaltens und Weitermachens sind die Menschen näher an ihren Belastungsgrenzen. Viele fühlen sich gestresst, frustriert, überfordert und erschöpft. Auch im Gesundheitswesen. Die Zahl der Krankschreibungen ist gestiegen, die Zahl der Kündigungen auch.

Soziale Bindungen tragen entscheidend zum Funktionieren unserer Gesellschaft bei

Menschen sind soziale Wesen und die pandemiebedingte Isolation hat auch die Bindungen zwischen den Menschen gelockert. So gut sich verschiedene digitale Formate im Alltag bewährt und manches auch erleichtert haben, belastet die lange Isolation uns nicht nur psychisch stark, sie scheint uns auch egoistischer und aggressiver zu machen. Unsere sozialen Bindungen tragen entscheidend zum Funktionieren unserer Gesellschaft bei. Die Lockerung sozialer Bindungen lockert auch die Moral. Menschen neigen dann dazu, ihren eigenen, privaten Interessen Vorrang vor denen anderer oder der Öffentlichkeit einzuräumen. Konnte man beispielsweise zu Beginn der Coronapandemie eine große Hilfsbereitschaft und Solidarität gegenüber den Pflegekräften beobachten, häuften sich im Laufe der letzten Monate Berichte über verbale und körperliche Gewalt von Patienten oder Angehörigen gegenüber der Pflege, z. B. auch aufgrund der Durchsetzung coronabedingter Hygienemaßnahmen. Und, es ist einfacher, auf eine maskierte Person zu schimpfen, als auf einen Menschen, dessen Gesicht man vollständig sehen kann.

Ein Teil der psychosozialen Probleme wird sich mit dem Abklingen der Pandemie von selbst lösen, auch wenn dies vielleicht einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Ob wir zum Status quo vor der Pandemie zurückkehren werden, bleibt zu hoffen. Wir müssen gemeinsam dazu beitragen. Ich wünsche Ihnen Nachdenklichkeit und neue Erkenntnisse beim Lesen der interessanten und anregenden Beiträge dieser Ausgabe zum Thema Herausforderungen der COVID-19-Pandemie für die Onkologie.

Ihre

Anja Mehnert-Theuerkauf