Allen mahnenden Rufen aus der Wissenschaft zum Trotz – die vierte Welle der COVID-19-Pandemie erzeugt Ende 2021 Inzidenzraten, die alles bisher Dagewesene deutlich übersteigen. Durch die deutlich infektiösere Omikron-Variante verschärft sich die Lage zusätzlich. Und wieder, wie bereits im Jahr zuvor, bringt die hohe Zahl an COVID-Infektionen das medizinische und pflegerische Personal in Deutschland an seine Belastungsgrenze. Die drei Partnerorganisationen der Corona-Taskforce, das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft, nahmen diese Entwicklung zum Anlass, sich Ende November 2021 für Kontaktbeschränkungen und eine allgemeine Impfpflicht auszusprechen.

Dabei waren die Warnungen der Expert*innen vor einer vierten COVID-19-Welle am Ende des Sommers 2021 klar. Die politischen Konsequenzen folgten leider dem Leitsatz „Es wird schon nicht so schlimm kommen“. Den Unentschlossenen unter den Ungeimpften signalisierte man durch das Beenden der epidemischen Lage von nationaler Tragweite und die Ankündigung des Freedom Day, dass die Pandemie überwunden sei. Impfzentren wurden geschlossen, eine rasche Durchführung von groß angelegten Impf- und Booster-Kampagnen ist deshalb jetzt schwierig. 2‑ oder 3G-Regelungen in Restaurants oder Bars? Oft genug lax gehandhabt, sowohl von Betreibern als auch von Gästen. 3G-Regelungen in der Arbeitswelt wurden erst am 24.11. für alle Arbeitgeber verpflichtend. Und mit der Einführung der Hospitalisierungsinzidenz hat man zudem die Verschärfung von Coronamaßnahmen von einem Indikator abhängig gemacht, der die Situation der Krankenhäuser erst mit deutlicher Verzögerung und zudem unvollständig anzeigt. Andere europäische Länder, wie etwa Spanien oder Italien, haben – nicht zuletzt aufgrund ihrer deutlich höheren Impfquote – die vierte COVID-19-Welle sehr viel besser im Griff als Deutschland.

Als Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen setzen wir auf Daten, Zahlen, Fakten und Forschungsergebnisse, um unseren Patient*innen zu helfen. Mittlerweile stehen uns wirksame Impfstoffe zur Eindämmung der Pandemie zur Verfügung, und die ersten Medikamente gegen COVID-19 sind zugelassen. Die Pandemie sollte also an Schrecken verloren haben. Trotzdem fordert sie noch immer unnötig Menschenleben. Sie zwingt uns dazu, Behandlungen zu priorisieren. Sie erhöht die Zahl Krebskranker, die aufgrund zu später Behandlung eine schlechtere Prognose haben. Sie verschleißt die Kräfte des ärztlichen und pflegerischen Personals dauerhaft und verursacht wirtschaftliche und soziale Schäden. Ich würde mir wünschen, dass wissenschaftliche Warnungen mehr Gehör in der Politik finden. Viele der genannten Vorteile wurden in den vergangenen Monaten durch ein zu unentschlossenes Krisenmanagement und teilweise schlichtes Nichtstun verspielt. Für mich steht aber auch fest: Der Freiheitswunsch des Einzelnen hört da auf, wo er das Wohl der Allgemeinheit gefährdet. In einer Bevölkerung, die von sich aus Maske trägt, sich in Scharen impfen lässt, und das eigene Freiheitsbedürfnis kurzfristig hintanstellt, um als Ganzes bald wieder mehr Freiheit zu erlangen, wäre die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht nicht nötig.

Ihr Thomas Seufferlein

Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft