Als Krebsexpert*innen freuen wir uns über jede therapeutische Innovation, die dazu beiträgt, das Leben unserer Patient*innen zu verlängern oder ihre Lebensqualität zu verbessern. Doch um wieviel besser wäre es, wenn Krebserkrankungen gar nicht erst entstünden oder frühzeitiger entdeckt würden? Betrachtet man den Zeitraum zwischen 1994 und 2014, dann zeigen sich die stärksten Rückgänge der krebsbedingten Mortalitätsraten bei Krebsarten, bei denen der Rückgang im Wesentlichen einen Rückgang der Neuerkrankungsraten widerspiegelt, insbesondere bei Magenkrebs, Darmkrebs und Lungenkrebs bei Männern. Diese Rückgänge illustrieren deutlich das Potenzial von Prävention und Früherkennung, z. B. durch Verbesserungen von Hygiene und Lebensumständen, durch den Rückgang der Raucherprävalenz bei Männern und die Entdeckung und Entfernung von Darmkrebsvorstufen im Rahmen der Vorsorge-Koloskopie.

Dennoch ist unser Gesundheitswesen weit davon entfernt, dieses Potenzial voll auszuschöpfen. Die Primärprävention leidet nach wie vor unter dem Mangel an evidenzbasierten Programmen. Für viele Krebsarten existiert bislang keine wirkungsvolle Früherkennung, oder man entdeckt zu viele Veränderungen, die sich im Verlauf als harmlos herausstellen. Etablierte Krebsfrüherkennungsuntersuchungen richten sich bisher an die breite Bevölkerung und berücksichtigen bis auf das Alter und das Geschlecht kaum weitere Risikofaktoren, etwa eine familiäre Belastung. Unser Gesundheitswesen braucht dringend mehr Forschung, die diese Fragen adressiert. Dort, wo gute Präventionsmaßnahmen zur Verfügung stehen, stellt sich außerdem die Fragen nach den Barrieren für ihre Nutzung. Wie steht es um die Akzeptanz bei einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die aufgrund eines geringeren Einkommens ein höheres Krankheitsrisiko haben? Gerade bei diesen Menschen müssen wir ein entsprechendes Bewusstsein für Prävention wecken. Leider hat die COVID19-Pandemie dazu geführt, dass Vorsorgeuntersuchungen ausgesetzt oder verschoben wurden. Die Pandemie wird uns noch länger begleiten, die Zahl der Krebsneuerkrankungen nimmt unterdessen aber nicht ab. Es ist wichtig, dass Vorsorge weiter stattfindet und auch wahrgenommen wird – trotz Sars-CoV-2.

In all diesen Bereichen gibt es vielfältige Aufgaben, die von der Deutschen Krebsgesellschaft aufgegriffen werden können. Wir haben den großen Vorteil, dass wir breit aufgestellt sind: Unsere Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Krebsforschung (AEK) verfolgen hochinteressante Ansätze in der Grundlagenforschung. Seit 2015 zertifiziert die Deutsche Krebsgesellschaft – in Kooperation mit anderen Fachgesellschaften – sogenannte gynäkologische Dysplasie-Sprechstunden/Einheiten. Die dort behandelnden Gynäkologen sind in der Beurteilung von Zervixkarzinom-Vorstufen geschult und führen jährlich eine bestimmte Anzahl von Untersuchungen bzw. Eingriffen durch. Die Landeskrebsgesellschaften unter dem Dach der DKG sind mit ihren Angeboten, vielfach auch im Bereich der Prävention, nah bei den Bürger*innen. Aufgrund unserer Mitarbeit am Nationalen Krebsplan und in der Nationalen Dekade gegen Krebs verfügen wir über gute Kontakte zu Entscheidern aus Politik und dem Gesundheitswesen. Unsere Expert*innen kennen die Krebsversorgung in Deutschland aus erster Hand. Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Deutschen Krebshilfe haben wir gute Aussichten, in der Prävention etwas zu bewegen. Wir sollten uns dieser Herausforderung stellen.

Ihr Thomas Seufferlein

Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft