Zusammenfassung
Der Berliner Klima-Entscheid ist gescheitert. Obwohl eine Mehrheit der Abstimmenden (50,9 %) die Vorlage annahm, konnte der Entscheid das Zustimmungsquorum von 25 % nicht überwinden. Nur 35,7 % der Abstimmungsberechtigten hatten sich beteiligt, umgerechnet stimmten damit nur 18,2 % der Abstimmungsberechtigten zu. Doch wie ist die niedrige Beteiligung erklärbar? Zur Annäherung an diese Frage analysiert der folgende Beitrag eine Nachbefragung. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem Faktoren, die dem Rational-Choice Ansatz zugeordnet sind, zur Erklärung der individuellen Entscheidung, sich an der Abstimmung zu beteiligen, beitragen können. Positiv beeinflusst wurde die individuelle Beteiligungswahrscheinlichkeit durch einen hohen instrumentellen (hohe Wichtigkeit des Themas) und expressiven Nutzen (internalisierte Wahlnorm). Diejenigen, die die Umsetzbarkeit Berliner Entscheide anzweifeln und nicht an der vorangegangenen Abgeordnetenhauswahl teilgenommen hatten, haben sich hingegen in geringerem Maße an der Abstimmung beteiligt. Der Beitrag knüpft an die empirische Forschung zu Abstimmungen in Deutschland an, die immer noch schwach ausgeprägt ist.
Abstract
The Berlin Climate Referendum has failed. Although a majority of voters (50.9%) approved of the proposal, the decision did not meet the required approval quorum of 25%. Only 35.7% of the eligible voters participated, which means that only 18.2% of the eligible voters approved of the referendum. How can this relatively low turnout be explained? To address this question, the following article analyses a post-referendum survey. The results show that factors primarily associated with the Rational Choice theory can explain the individual decision to participate in the vote. Individual participation probability was positively influenced by high instrumental (high issue saliency) and expressive benefits (duty to vote). On the other hand, those who doubted the feasibility of Berlin’s referendum and did not participate in the previous parliamentary elections were less likely to participate in the vote. The article contributes to the empirical research on voting in Germany, which is still in its early stages.
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1 Einleitung
Am 26. März 2023 stimmten die Berlinerinnen und Berliner darüber ab, ob die Stadt bereits 2030 statt wie bisher geplant im Jahr 2050 „klimaneutral“ werden soll. Der Entscheid ist gescheitert. Zwar stimmte eine knappe Mehrheit der Abstimmungsteilnehmenden (50,9 %) für den Gesetzentwurf der Organisation „Klimaneustart Berlin“, allerdings verfehlte das Ergebnis das Zustimmungsquorum. Die Berliner Verfassung sieht vor, dass 25 % der Abstimmungsberechtigten einfachen Gesetzesabstimmungen zustimmen müssen. Aufgrund der geringen Abstimmungsbeteiligung von 35,7 % lag die Zustimmung nur bei 18,2 %.
Auf den ersten Blick mag die geringe Beteiligung nicht überraschen. Werden Abstimmungen nicht mit Wahlen zusammengelegt, so wie im vorliegenden Fall, fällt die durchschnittliche Beteiligung in Deutschland gering aus (Thomeczek 2021); selbst bei einer der prominentesten Volksabstimmungen der letzten Jahre zu Stuttgart 21 beteiligten sich in Baden-Württemberg weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten (Brettschneider und Schuster 2013). Da vergangene Studien zu Volksabstimmungen gezeigt haben, dass mit einer geringeren Beteiligung häufig Verzerrungen einhergehen, beispielsweise bezüglich einer Überrepräsentation von ressourcenstarken Wählerinnen und Wählern (Fatke und Freitag 2013; Schäfer und Schoen 2013), erscheint eine geringe Beteiligung aus dieser Sicht problematisch.
Da die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung maßgeblich von der Salienz des Themas abhängt (Goldberg et al. 2019; Thomeczek 2021), ist die geringe Beteiligung am Berliner Klimaentscheid durchaus überraschend. Vor allem in Berlin, wo grüne Parteien traditionell besser abschneiden als im Rest der Republik und das Klimathema als drittwichtigstes bei der kurz zuvor abgehaltenen Abgeordnetenhauswahl genannt wurde (Schönenborn 2023), wäre eine höhere Beteiligung erwartbar gewesen.
Der folgende Beitrag rückt die Forschungsfrage in den Mittelpunkt, wie die niedrige Beteiligung am Berliner Klimaentscheid erklärt werden kann. Dazu wird zunächst der Kontext der Berliner Abstimmung vorgestellt. Im folgenden Teil werden dann der Forschungsstand zur Abstimmungsbeteiligung in Deutschland zusammengefasst und Hypothesen für die Analyse abgeleitet. Im Hauptteil werden die Einflussfaktoren der Abstimmungsbeteiligung analysiert. Dazu werden auf Basis einer Nachbefragung individuelle Determinanten der Abstimmungsbeteiligung diskutiert, die in der Literatur vor allem vom Ressourcen-Modell und dem Rational-Choice-Ansatz identifiziert wurden. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse und Implikationen für zukünftige Arbeiten.
2 Kontext und Abstimmung zum Berliner Klimaentscheid
Volksentscheide in Berlin, die auf einfache Gesetze abzielen, müssen zunächst ein erfolgreiches Volksbegehren durchlaufen. Laut Berliner Verfassung (Art. 63, Abs. 1) musste dazu im ersten Schritt ein Unterschriftenquorum in Höhe von 20.000 Unterschriften der Wahlberechtigten überwunden werden. Diese Hürde wurde mit 27.326 gültigen Unterschriften im Falle des Klimaentscheides, der durch die Organisation „Klimaneustart Berlin“ initiiert wurde, erreicht (Abgeordnetenhaus Berlin 2022). Im zweiten Schritt mussten weitere 7 % Unterstützungsunterschriften von Abstimmungsberechtigten gesammelt werden, was mit 7,4 % ebenfalls erreicht wurde (Landeswahlleiter Berlin 2022). Das erfolgreiche Begehren wurde dann dem Berliner Abgeordnetenhaus vorgelegt – im Falle einer Annahme der Gesetzesänderung wäre das Verfahren beendet gewesen. Hier wurde es jedoch einstimmig von allen Fraktionen abgelehnt, was mit der mangelnden Umsetzbarkeit begründet wurde (Latz 2022). Das hatte zur Folge, dass das Begehren in einem Volksentscheid zur Abstimmung gestellt wurde. Laut Art. 63, Abs. 1 gilt ein Volksentscheid für einfache Gesetze als angenommen, wenn mindestens die Hälfte der Abstimmenden und ein Viertel der Abstimmungsberechtigten zustimmen. Bei dieser Abstimmung galt also ein 25-%-Zustimmungsquorum (Meerkamp 2011).
Kontrovers diskutiert wurde im Verlauf der Kampagne der Abstimmungstermin. Die im Jahr 2021 durchgeführte Berliner Abgeordnetenhauswahl, die parallel zur Bundestagswahl abgehalten wurde, musste aufgrund gravierender organisatorischer Mängel nach einem Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs wiederholt werden (Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin 2022). Da die Wiederholung der Wahl wenige Monate nach dem erfolgreichen Begehren bekannt gegeben wurde, wollte „Klimaneustart Berlin“ eine Durchführung parallel zur Wiederholungswahl erwirken, was der Senat ablehnte. Letztlich scheiterte eine entsprechende Klage vor dem Landesverfassungsgerichtshof (Kögl 2022).
Zentrale Ergebnisse der Abstimmungsbeteiligungsforschung deuten darauf hin, dass die Ausgangslage des Berliner Klimaentscheids eher beteiligungshemmend war. Die Mobilisierung der politischen Eliten, die maßgeblich zu einer Erhöhung der Beteiligung beitragen können (Kriesi 2005; Bowler et al. 1992; Dermont und Stadelmann-Steffen 2018; Goldberg et al. 2019), war nur schwach ausgeprägt. Wie erwähnt, lehnte das Abgeordnetenhaus das Volksbegehren einstimmig ab und begründete dies mit mangelnder Umsetzbarkeit. Das bedeutet, dass auch alle Abgeordneten der Bündnis ’90/Die Grünen-Fraktion, deren Parteihaltung als (Junior‑)Regierungspartner ambivalent blieb, das Vorhaben als nicht umsetzbar einstuften. Hier spielten vermutlich koalitionsstrategische Erwägungen eine Rolle, da insbesondere der Seniorpartner SPD dem Entscheid sehr kritisch gegenüberstand. Im Laufe der Kampagne riefen die Grünen auf ihrer Website zwar zu einer Befürwortung des Gesetzentwurfs auf (Bündnis ’90/Die Grünen Berlin 2023). Der Senat hatte sich jedoch offiziell, auf Vorlage von Grünen-Senatorin Jarasch, weiter für eine Ablehnung ausgesprochen (Berliner Senat 2022).
Der zweite Kontextfaktor, der sich wahrscheinlich ungünstig auf das Beteiligungsniveau ausgewirkt hat, ist die Entscheidung der Nicht-Zusammenlegung mit der Abgeordnetenhauswahl, die letztlich sechs Wochen zuvor durchgeführt wurde. Da ein erfolgreicher Entscheid den Senat stark unter Druck gesetzt hätte, ist es möglich, dass durch eine Nicht-Zusammenlegung ein Scheitern des Entscheids am Quorum forciert wurde. Das warfen beispielsweise Abgeordnete der Linken der SPD vor (Gabriel 2022). Fernab politischer Motive stand allerdings auch der reibungslose Ablauf der Wiederholungswahl im Vordergrund; organisatorische Risiken durch eine parallel stattfindende Abstimmung sollten daher vermieden werden (Schulz 2022). Aus Forschungssicht ist aber eindeutig festzuhalten, dass die Abstimmungsbeteiligung durch eine gemeinsame Durchführung mit Landtags- oder Bundestagswahlen deutlich erhöht werden kann (Jung 1999; Thomeczek 2021; Marx und Leininger 2022). Letztlich ist die Beteiligung im Berliner Fall ähnlich hoch gewesen wie bei der Abstimmung zum bayerischen Nichtraucherschutz (37,7 %), die ebenfalls unabhängig von einer Parallelwahl durchgeführt wurde.
3 Abstimmungsbeteiligungsforschung in Deutschland
Die Partizipationsforschung in repräsentativen Demokratien konzentriert sich, nach wie vor, auf Wahlen und schenkt Abstimmungen deutlich weniger Beachtung (Schoen 2012). Die Logiken der Wahlbeteiligung sind jedoch nicht ohne weiteres auf Abstimmungen übertragbar, auch wenn es Schnittpunkte gibt (Goldberg und Sciarini 2023). Eine Forschungslücke bezüglich Abstimmungsbeteiligung liegt insbesondere für Deutschland vor. Im internationalen Vergleich liegen geografische Schwerpunkte auf Abstimmungen in der Schweiz und den USA. Ein Grund für die Forschungslücke ist die Beschränkung der deutschen Volksgesetzgebung auf die subnationale Ebene. Der Parlamentarische Rat lehnte die Einführung direktdemokratischer Elemente auf der Bundesebene seinerzeit ab. Neben den vielzitierten, negativ perzipierten „Weimarer Erfahrungen“ war der wichtigere Grund, dass man einer möglichen Instrumentalisierung einer Abstimmung zur deutschen Wiedervereinigung vorbeugen wollte (Jung 1994; Schiffers 2002). Allerdings ist seit den 1990er-Jahren eine zunehmende Offenheit der Bundesländer beobachtbar, die sich in aufgehobenen Themenrestriktionen und abgesenkten Quoren ausdrückt (Meerkamp 2011). In der Konsequenz sind vor allem seit der Jahrtausendwende einige Entscheide auf Landesebene durchgeführt worden, die deutschlandweit Resonanz fanden.
Für einige dieser Abstimmungen liegen Individualdaten vor. So wurden der Volksentscheid zum bayerischen Nichtraucherschutz (Schoen et al. 2011) und die Abstimmung über Stuttgart 21 (Brettschneider und Schuster 2013; Gabriel et al. 2014) durch Befragungen begleitet. Darüber hinaus bieten Studien zur individuellen Abstimmungsbeteiligung insbesondere aus der Schweiz (z. B. Goldberg und Sciarini 2023; Kriesi 2005) und den USA (z. B. Dyck und Seabrook 2010; Filer und Kenny 1980; Bowler et al. 1992) Aufschluss. Aufgrund der begrenzten Anzahl an Studien für deutsche Abstimmungen ist es sinnvoll, einerseits stärker die Forschungsergebnisse aus anderen Ländern einzubeziehen, sofern übertragbar, aber auch Erkenntnisse aus der Wahlforschung zu berücksichtigen (Schoen 2012). Eine Meta-Analyse zur Wahlbeteiligungsforschung auf der Individualebene liegt von Smets und van Ham (2013) vor. Zu den verbreitetsten Ansätzen, die in der Studie analysiert werden und auch für die Berliner Abstimmung die größte Relevanz haben, gehören der ressourcenzentrierte Ansatz (Verba und Nie 1972) und der Rational-Choice Ansatz (Downs 1957), auf welche sich auch die Diskussion des Forschungsstands konzentriert.
Das Ressourcen-Modell basiert auf der Annahme, dass sich breitere Ressourcen positiv auf die Beteiligung auswirken (Brady et al. 1995, S. 271–272). Die wichtigsten Prädiktoren gehören zum Bereich des sozio-ökonomischen Status, wobei hier vor allem Bildung, Einkommen und Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle spielen (Smets und van Ham 2013, S. 348–350). Ein niedriger sozio-ökonomischer Status wirkt sich entsprechend negativ auf die Beteiligung aus. Für Deutschland sind hier die Studien von Schäfer zu nennen, welche zeigen, wie stark sich Partizipation in wohlhabenden Stadtteilen und sozialen Brennpunkten unterscheidet (Schäfer 2012, 2013). Dieser Zusammenhang ist auch bei Volksentscheiden zu erkennen (Schäfer und Schoen 2013): Die Beteiligung zum Hamburger Schulentscheid (2010) ist in den Bezirken positiv mit Durchschnittseinkommen und Wahlbeteiligung bei der vorangegangenen Landtagswahl korreliert und negativ mit der Arbeitslosenquote. Zudem deutet eine Kreisanalyse zur Abstimmung über Stuttgart 21 darauf hin, dass der Arbeitslosenanteil negativ mit Wahlbeteiligung korreliert war (Fatke und Freitag 2013). Weitere ressourcenbezogene Faktoren, die häufig diskutiert werden, sind Alter (mehr Ressourcen der älteren gegenüber jüngeren Kohorten) und Bildung (mehr Ressourcen Hochgebildeter), wofür es beim bayerischen Nichtraucherschutzentscheid (Schoen 2012) und bei der Abstimmung über Stuttgart 21 (Gabriel et al. 2014, S. 99) empirische Evidenz gibt. Bezüglich des Alters lässt sich jedoch das Gegenargument anbringen, dass jüngere Altersgruppen aufgrund ihres Alters längere Zeit unter den Folgen des Klimawandels leiden werden, woraus sich eine größere Betroffenheit (siehe nächster Absatz) ergibt. Daher wird auf die Formulierung einer konkreten Hypothese in Bezug auf das Alter verzichtet.
Für die individuelle Beteiligung am Berliner Klimaentscheid wird davon ausgegangen, dass Wahlberechtigte mit größeren Ressourcen sich eher an der Abstimmung beteiligt haben. Daher werden folgende Hypothesen aufgestellt:
H1
Hohe Bildung hat einen positiven Effekt auf die Abstimmungswahrscheinlichkeit.
H2
Eine ökonomisch prekäre Situation hat einen negativen Effekt auf die Abstimmungswahrscheinlichkeit.
Der Rational Choice Ansatz, der in der Wahl- und Abstimmungsforschung weit verbreitet ist, legt seinen Schwerpunkt auf die Identifikation von Einflussfaktoren, die das Kosten-Nutzenkalkül verändern (Downs 1957; Riker und Ordeshook 1968). Ein möglichst hoher instrumenteller Nutzen bei möglichst geringen Beteiligungskosten wirkt sich dabei günstig auf dieses Kalkül aus und erhöht die Teilnahmewahrscheinlichkeit. Der Nutzen bei Abstimmungen wird vor allem durch die individuelle Salienz des Themas bestimmt. Ergebnisse aus der Schweiz zeigen, dass die Beteiligung höher ausfällt, wenn dem Abstimmungsgegenstand mehr Bedeutung beigemessen wird (Goldberg und Sciarini 2023) oder eine hohe individuelle Betroffenheit vorliegt (Kirchgässner und Schulz 2005). In eine ähnliche Richtung deuten Ergebnisse aus der Wahlforschung (Smets und van Ham 2013, S. 352). Für die Teilnahme am Berliner Klimaentscheid wird entsprechend vermutet, dass diese mit der individuellen Wichtigkeit des Themas zusammenhängt:
H3
Die Abstimmungswahrscheinlichkeit wird positiv durch die wahrgenommene Wichtigkeit des Abstimmungsthemas beeinflusst.
Auf Seiten der Kostenaspekte ist festzuhalten, dass die Beteiligungskosten für diejenigen niedriger liegen, die sich bereits in der Vergangenheit an Wahlen beteiligt haben, beispielsweise durch gesammelte Erfahrungen zum Ablauf der Wahl oder zur Anreise zum Wahllokal (Smets und van Ham 2013, S. 352). Zahlreiche Forschungsarbeiten haben diesen Effekt empirisch belegt (Goldberg und Sciarini 2023; Gabriel et al. 2014, S. 53, 99; Schäfer und Schoen 2013, S. 109). Für den Berliner Klimaentscheid wird vermutet, dass die Beteiligung innerhalb der Gruppen derjenigen, die sich bereits an der sechs Wochen zuvor durchgeführten Landtagswahl beteiligt hatten, höher ausfällt, wobei die Teilnahme zwischen den Wählerinnen und Wählern der unterschiedlichen Parteien vermutlich auch differiert (Rohm und Wurster 2016):
H4
Die Abstinenz bei der vorangegangenen Wahl zum Abgeordnetenhaus hat einen negativen Effekt auf die Abstimmungswahrscheinlichkeit.
Weitere beteiligungsfördernde Faktoren bilden expressive Aspekte des Wählens, die Eingang in verschiedene Erweiterungsformen des Rational Choice Ansatzes gefunden haben (erstmals bei Riker und Ordeshook 1968). Dieser Aspekt wird häufig über die Internalisierung der „Wahlnorm“ operationalisiert, wobei sich diese positiv auf die Teilnahme an Abstimmungen auswirkt. In der deutschsprachigen Forschung wird dieser Faktor unter dem Schlagwort „Wählen als Bürgerpflicht“ diskutiert (Bühlmann und Freitag 2006; Schoen 2012). Es wird vermutet, dass eine Zustimmung zu eben jener Aussage einen positiven Effekt auf die Teilnahmebereitschaft hat:
H5
Die Internalisierung des „Wählens als Bürgerpflicht“ hat einen positiven Effekt auf die Abstimmungswahrscheinlichkeit.
Ein weiterer Faktor, der das Kosten-Nutzen-Kalkül beeinflusst, ergibt sich explizit aus dem Berliner Kontext. Wie oben bereits erwähnt, hatten alle Fraktionen das Begehren, das dem Entscheid voranging, mit der Begründung abgelehnt, dass die Umsetzung nicht realistisch sei. Eine ähnliche Konstellation existierte bereits bei den Berliner Entscheiden zur Offenhaltung des Flughafens Tegel (2017) sowie zur Enteignung von Wohnungskonzernen (2021). In beiden Fällen handelte es sich, anders als beim Klimaentscheid, um eine unverbindliche Aufforderung und keine Gesetzesvorlage, für die sich jedoch jeweils eine Mehrheit aussprach.Footnote 1 Allerdings ist davon auszugehen, dass der Eindruck der beiden vorangegangenen Entscheide, die trotz des erreichten Quorums folgenlos blieben, bei den Wahlberechtigten nachwirkte. Dieser „Berliner Trend“, dass erfolgreiche Volksentscheide folgenlos bleiben, wird zunehmend kritisch gesehen (Schulz 2023). Der Effekt wurde möglicherweise noch dadurch verstärkt, dass Abgeordnetenhaus und Senat explizit die Realisierbarkeit des Gesetzes angezweifelt haben. Daher wird angenommen:
H6
Eine kritische Haltung zur Umsetzbarkeit der Berliner Volksentscheide beeinflusst die Abstimmungswahrscheinlichkeit negativ.
4 Daten und Operationalisierung der Hypothesen
Die Daten, die für die vorliegende Analyse verwendet werden, entstammen einer Nachbefragung zum Volksentscheid. Zur Rekrutierung der Teilnehmenden wurde auf eine Werbeanzeige auf der Social-Media-Plattform Meta zurückgegriffen (Neundorf und Öztürk 2021).
In der Forschung werden verschiedene Vor- und Nachteile dieser Samplingmethode diskutiert. Ein großer Vorteil besteht zunächst darin, dass über Meta bestimmte Subgruppen deutlich besser erreicht werden können (Jäger 2017; Schneider und Harknett 2022). Die Beschränkung auf bestimmte geografische Einheiten oder Alters- und Geschlechtsgruppen kann dabei über das sogenannte Microtargeting direkt in der Werbeanzeige erreicht werden (Neundorf und Öztürk 2021). Eng damit verknüpft ist ein zweiter Vorteil, nämlich die verhältnismäßig kostengünstige Rekrutierung von Teilnehmenden, die gerade für Subgruppen über Umfrageinstitute aufgrund der schwierigen Erreichbarkeit kostspielig sein können. Diesen Vorteilen stehen auch Nachteile gegenüber. Der größte Nachteil liegt darin, dass die Grundgesamtheit auf die Nutzerinnen und Nutzer von Facebook und Instagram beschränkt ist. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit Meta-Nutzerinnen und Nutzer sich bezüglich sozialstruktureller Merkmale, aber auch bezüglich ihrer politischen Präferenzen von den übrigen Wahlberechtigten unterscheiden. Beispielsweise herrscht in der öffentlichen Wahrnehmung häufig der Eindruck, dass in den sozialen Medien, insbesondere Facebook, radikale Meinungen überrepräsentiert sind. Der empirische Vergleich mit Zufallsstichproben zeigt, dass tatsächlich bestimmte politische Gruppierungen über- und unterrepräsentiert sein können, wobei sich hier nur schwerlich einheitliche Trends (z. B. in Form eines generellen „Rechtsdralls“) ausmachen lassen (Boas et al. 2020). In diesem Zusammenhang ist außerdem zu erwähnen, dass zu Meta mit Facebook die populärste und Instagram die viertpopulärste Social-Media-Plattform gehören, über die insgesamt alle Altersgruppen in der Breite erreicht werden können (DataReportal 2023).
In der vorliegenden Studie ist ebenfalls keine Überrepräsentation von radikalen Präferenzen zu beobachten: Abb. 1 zeigt die Links-Rechts-Selbsteinstufung (0–10) der Befragten, die sich deutlich um die Einordnung in der Mitte (5) konzentriert.
Generell hat die Forschung gezeigt, dass die Erkenntnisse aus Meta-Samples mit denen aus repräsentativen Befragungen vergleichbar sind (Boas et al. 2020; Zhang et al. 2020; Schneider und Harknett 2022). Basierend auf den Erkenntnissen dieser Forschungsarbeiten wurden in der folgenden Analyse zwei Verfahren angewendet, um potenzielle Verzerrungen zu adressieren. Unterrepräsentierte Gruppen wurden, erstens, nach der Hälfte des Befragungszeitraums identifiziert, wobei vor allem Befragte ohne Studienabschluss betroffen waren, die anschließend über Microtargeting gezielt rekrutiert wurden. Für die Analyse wurden, zweitens, Poststratifizierungsgewichte berechnet, wobei die gewichteten soziodemografischen Verteilungen der repräsentativen Befragung zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 (Forschungsgruppe Wahlen 2022) als Referenz dienten (zur Verteilung der Gewichte siehe Appendix, Abb. 7).
Wer die Teilnahme an Wahlen oder Abstimmungen analysieren will, steht grundsätzlich vor dem Problem des Overreportings. Da die Teilnahme an demokratischen Prozessen sozial erwünscht ist, wird die Nichtteilnahme seltener berichtet als sie tatsächlich auftritt (Cabarello 2014, S. 443). Um das Problem für Volksentscheide zu quantifizieren, kann die Differenz zwischen berichteter und tatsächlicher Beteiligungsrate berechnet werden. Am Entscheid zum Bayerischen Nichtraucherschutz (2010) beteiligten sich beispielsweise 37,7 % der Wahlberechtigten. In der Vorbefragung gaben jedoch 72,8 % der Befragten an, „bestimmt“ oder „wahrscheinlich“ am Entscheid teilzunehmen oder bereits per Briefwahl teilgenommen zu haben (eigene Berechnung auf der Basis von Schoen 2013). Die Differenz betrug also bei 35,1 Prozentpunkte. Bei der Abstimmung über Stuttgart 21 lag die tatsächliche Abstimmungsbeteiligung um ca. 10 Prozentpunkte höher (48,3 %). In fast ebenso großem Ausmaß fällt auch das Overreporting entsprechend höher aus (84,2 % Beteiligung in der Vorbefragung, 86,6 % in der Nachbefragung, siehe Gabriel et al. 2014).
Bei Wahlen, an denen sich durchschnittlich deutlich mehr Wahlberechtigte beteiligen, bereitet das Overreporting tendenziell größere Probleme. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021, bei der die Beteiligung 75,4 % betrug, gaben 98,5 % der Befragten der Forschungsgruppe Wahlen an, „auf jeden Fall“ oder „wahrscheinlich“ an der Wahl teilzunehmen oder bereits per Brief gewählt zu haben (eigene Berechnung auf der Basis von Forschungsgruppe Wahlen 2022). Obwohl das Overreporting bei der Landtagswahl kleiner ausgefallen ist als bei den beiden Entscheiden, gestaltet sich eine statistische Analyse der Daten zum Volksentscheid einfacher, da hier die Gruppengröße derjenigen, die sich nicht beteiligt haben, deutlich größer ausfällt.
Abb. 2 zeigt an, wie hoch die berichtete Abstimmungsbeteiligung in der durchgeführten Befragung zum Berliner Entscheid ausgefallen ist. Berücksichtigt wurden alle Befragten, die alle Fragen, die in den folgenden Abschnitten analysiert werden, beantwortet haben (\(n=591\)). 73,2 % der Befragten gaben in der Nachbefragung an, am Entscheid teilgenommen zu haben. Gemessen an der tatsächlichen Beteiligung (35,7 %) fällt das Overreporting damit ähnlich hoch aus wie bei der genannten repräsentativen Befragung zum Nichtraucherschutz in Bayern. Als Zwischenergebnis lässt sich also festhalten, dass über die Online-Befragung Nichtabstimmende in einem vergleichbaren Maße wie bei der repräsentativen Befragung im bayerischen Fall erreicht wurden.
Die Hypothesen wurden wie folgt operationalisiert. Die abhängige Variable, die berichtete Abstimmungsteilnahme, hat eine binäre Ausprägung (Teilnahme ja/nein). Hohe Bildung wird über eine Dummy-Variable (Universitätsabschluss ja/nein) operationalisiert. Eine ökonomisch prekäre Situation liegt vor, wenn mindestens eine der folgenden Bedingungen zutrifft: arbeitslos, in Kurzarbeit oder gefährdeter Arbeitsplatz (Selbsteinschätzung). Das Alter wird über drei Altersgruppen operationalisiert: 29 Jahre und jünger, 30–59 Jahre, 60 Jahre und älter. Die angegebene Wichtigkeit des Abstimmungsthemas wurde über eine elfstufige Likert-Skala (0–10) abgefragt. Die Zustimmung zum Wählen und Abstimmen als „Bürgerpflicht“ und die Forderung, dass Berlin nur Entscheide zu realistisch umsetzbaren Themen durchführen sollte, wurde jeweils über eine fünfstufige Likert-Skala gemessen. Schließlich wurde die Abstinenz bei der Landtagswahl über die Recall-Frage operationalisiert.
5 Analyse
In der folgenden Analyse werden zunächst auf Basis der gewichteten Daten die deskriptiven Ergebnisse vorgestellt. Alle Nicht-Teilnehmenden wurden nach den Gründen der Wahlabstinenz befragt. Mehrfachantworten waren dabei möglich. Die gestellten Fragen orientieren sind an die Items aus einer ähnlichen Befragung zur Schweizer CO2-Abstimmung (2021) (Golder et al. 2021) und wurden um einige Argumente, die für den Berliner Kontext relevant sind, ergänzt. Die Ergebnisse sind in Abb. 3 als gewichtete Anteile zusammengefasst.
Am häufigsten wurde das Argument genannt, dass das Land keine Kompetenzen bei dem Thema habe, was darauf hindeutet, dass die in Hypothese 6 formulierte Erwartung eine wichtige Rolle bezüglich der individuellen Abstinenz spielte. Am zweithäufigsten wurde eine persönliche Verhinderung genannt. Es folgen einige Argumente, die einen geringen instrumentellen Nutzen andeuten: Zweifel am Einfluss der Abstimmung, ein antizipiertes klares Ergebnis oder mangelndes Interesse. Dies ist gefolgt von Begründungen, die auf grundsätzliche Verdrossenheit in Form von Misstrauen gegenüber demokratischen Prozessen abzielen oder auf eine geringe Selbstwirksamkeit (Efficacy) schließen lassen. Motive, die auf Wahlmüdigkeit oder auf Kritik an den getrennten Wahlterminen schließen lassen, wurden interessanterweise nur selten genannt.
Abb. 4 zeigt die Ergebnisse für die drei Faktoren des Ressourcen-Modells. Grundsätzlich deuten die Ergebnisse empirische Evidenz für die ersten beiden Hypothesen an. Befragte mit Universitätsabschluss weisen eine durchschnittlich höhere Beteiligung auf als Befragte ohne Universitätsabschluss; die Unterschiede betragen acht Prozentpunkte. Diejenigen, die sich in einer prekären Arbeitssituation befinden, weisen eine um fast acht Prozentpunkte niedrigere Abstimmungsbeteiligung auf als diejenigen, die angaben, sich nicht in einer solchen Situation zu befinden. Die berichtete Teilnahme in den Altersgruppen zeigt, dass die älteren Alterskohorten eine durchschnittlich niedrigere Abstimmungsteilnahme aufweisen als die jüngeren Kohorten. Zwischen der jüngsten und ältesten Abstimmungskohorte liegt der Unterschied bei etwas über acht Prozentpunkten. Insgesamt sind die Differenzen bezüglich der Ressourcen-Faktoren aber eher gering.
Die Ergebnisse der vier Variablen des Rational-Choice-Ansatzes sind in Abb. 5 zu finden. Hier finden sich deutliche Belege für alle vier Hypothesen. Die Wichtigkeit des Themas scheint ein starker Prädiktor für die Abstimmungsteilnahme zu sein. Die Beteiligung derjenigen, die das Thema weniger wichtig fanden (0–3), übersteigt 60 % nur knapp. In den Gruppen der bewerteten Wichtigkeit von 7 bis 10 liegt die Teilnahme hingegen bei ca. 80 bis über 90 %. Der Zusammenhang scheint jedoch nicht linear zu sein, da die Gruppe mit der durchschnittlich niedrigsten bewerteten Wichtigkeit nicht die niedrigste Beteiligung aufweist. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass bei einem Teil der Befragten, die dem Thema die geringste Wichtigkeit zuschreiben, auch eine stark ablehnende Haltung des Themas vorliegt. Die Partizipation am Volksentscheid erfolgte dann womöglich, um einen erfolgreichen Entscheid zu verhindern. Diese Annahme deckt sich mit dem Plot oben rechts in Abb. 5, der die durchschnittliche Beteiligung in Abhängigkeit von der Wahlentscheidung bei der sechs Wochen zuvor durchgeführten Landtagswahl zeigt. Mit großem Abstand fällt die Beteiligung bei denjenigen, die nicht gewählt haben, mit 17,3 % am niedrigsten aus, gefolgt von SPD-Wählerinnen und -Wählern mit 56,9 %. Die durchschnittlich höchste Beteiligung weisen jedoch Wählerinnen und Wähler der Grünen (89,4 %) sowie der AfD (82,4 %) auf. Beiden Gruppen war das Thema offensichtlich sehr wichtig, trotz der vermutlich entgegengesetzten Präferenzen.
Bezüglich der Zustimmung zum Wählen/Abstimmen als „Bürgerpflicht“ ist eine Korrelation zwischen Zustimmung und Beteiligung beobachtbar. Diejenigen, die diese Aussage vollständig abgelehnt hatten, beteiligten sich nur zu 37,2 %, während die Beteiligung in der Gruppe der Vollzustimmenden bei über 80 % lag. Sichtbar sind schließlich auch die Unterschiede bezüglich der Zustimmung zur These, dass Berlin allgemein nur zu realistisch umsetzbaren Themen Entscheide durchführen sollte. Die Gruppe derjenigen, die dieser Aussage voll zustimmt, beteiligte sich zu ca. 69 % an der Abstimmung. Diejenige Gruppe, die diese Aussage ablehnt, weist hingegen eine Beteiligung von über 85 % auf. Auch wenn dieser Zusammenhang offensichtlich ist, ist es bemerkenswert, dass die Beteiligung derjenigen, die die Umsetzbarkeit der Berliner Entscheide kritisch sehen, trotzdem noch deutlich über 50 % liegt. Hier scheint die Teilnahme einen stark symbolisch-expressiven Charakter zu haben.
Um die unterschiedliche Beteiligung in den jeweiligen Altersgruppen tiefgehender zu analysieren, zeigt Abb. 6 die durchschnittlich bewertete Wichtigkeit (0–10) nach Altersgruppen. Es ist zu erkennen, dass die unterschiedliche Beteiligung in den Altersgruppen durch die durchschnittlich höhere Wichtigkeit des Themas in der jüngsten Altersgruppe erklärbar ist. Die Differenz zwischen den unter 30-Jährigen und den über 60-Jährigen fällt mit ca. 1,7 Skalenpunkten relativ groß aus. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Befund, dass das Thema Klimaschutz bei den unter 30-Jährigen als wichtigstes oder zweitwichtigstes Thema bei der Bundestagswahlentscheidung 2021 genannt wurde (Riebe und Marquardt 2022). Ähnlich gilt dies auch für Bildung: Diejenigen, die über einen Universitätsabschluss verfügen, bewerten das Thema durchschnittlich (5,48) als wichtiger als diejenigen, die über keinen Abschluss verfügen (4,38).
Der Zusammenhang zwischen Wichtigkeit und Alter deutet bereits darauf hin, dass bei der Analyse eine Kontrolle mehrerer Faktoren sinnvoll sein kann. Daher wurden in einem letzten Schritt die verschiedenen Faktoren in multivariaten Logit-Modellen getestet, wobei die binär codierten Abstimmungsteilnahme als abhängiger Variable verwendet wurde. Zur Berechnung wurden die Umfragegewichte berücksichtigt. Die Ergebnisse sind in Tab. 1 dargestellt.
Das erste Modell umfasst die Variablen des Ressourcen-Modells. Einen statistisch signifikanten Effekt weisen hier die Bildungsvariable und die Variable zur prekären Arbeitssituation in die erwartete Richtung auf. Die in den deskriptiven Daten sichtbaren Differenzen zwischen den ältesten und jüngsten Altersgruppen schlagen sich jedoch nicht in einem signifikanten Effekt nieder. Das zweite Modell umfasst die Faktoren des Rational-Choice-Ansatzes. Alle Koeffizienten sind statistisch signifikant, die Schlussfolgerungen aus den deskriptiven Daten bleiben auch nach Kontrolle weiterer Faktoren gültig. Das dritte Modell umfasst schließlich die Variablen aus beiden Ansätzen. Die Variablen des Ressourcen-Modells weisen hier keinen statistisch signifikanten Effekt auf, alle Variablen aus dem Rational-Choice-Modell sind hingegen auch hier statistisch signifikant. Der AIC Wert zeigt sogar an, die Modellgüte für Modell 2 besser ist als für Modell 3, was daran liegt, dass die Berechnungsgrundlage des AIC die Hinzunahme weiterer Prädiktoren „bestraft“ (Burnham und Anderson 2004). Der Rational-Choice-Ansatz scheint also zur Erklärung der individuellen Beteiligungsentscheidung am Berliner Klimaentscheid deutlich geeigneter als der Ressourcen-Ansatz zu sein.
Insgesamt lässt sich also festhalten, dass das Kosten-Nutzen-Kalkül einen starken Effekt auf die berichtete Abstimmungsteilnahme ausübt. Vor allem nehmen expressive Aspekte eine wichtige Rolle ein. Wer die Ansicht unterstützt, dass Wählen und Abstimmen eine „Bürgerpflicht“ darstellen, beteiligt sich eher am Entscheid. In eine ähnliche Richtung weist auch der negative Effekt der zustimmenden Haltung zur Aussage, dass Berlin nur zu Themen Volksentscheide abhalten solle, die realistisch umsetzbar seien.
Ein kausaler Effekt zwischen Einstellung zur Realisierbarkeit und Beteiligung kann an dieser Stelle nicht belegt werden. Es erscheint jedoch naheliegend, dass diejenigen, welche die Abstimmungsgegenstände als nicht umsetzbar bewerten, sich in geringerem Maße beteiligen. Hinzu kommen die Erfahrungen mit den nicht umgesetzten Beschluss-Entscheiden zum Flughafen Tegel und zur Enteignung der Wohnungskonzerne. Insofern ist es wahrscheinlich, dass sich eine gewisse Frustration in Teilen der Bevölkerung etabliert hat, die dann in Abstimmungsabstinenz resultiert – insbesondere unter den Wählerinnen und Wählern der SPD, die die Landtagswahl „verloren“ hatte. Wenn dadurch langfristig Teile der Bevölkerung passiv bezüglich ihrer politischen Partizipation werden, könnte dies eine problematische Entwicklung einläuten. Dieser Effekt kommt zu dem bereits bekannten Problem der Verzerrung bei Wahlen und Abstimmungen hinzu (Schäfer 2012, 2013; Schäfer und Schoen 2013).
Es zeichnet sich eine Spaltung der Wählerschaft ab, und zwar in diejenigen, die nicht partizipieren, weil sie die Realisierbarkeit des Abstimmungsgegenstandes kritisch sehen, und diejenigen, für die Partizipation, unabhängig vom direkten Einfluss, eine stark symbolische/expressive Wirkung hat. Problematisch ist jedoch, dass die zweite Gruppe deutlich kleiner ist, und bei einem anhaltenden Trend die Legitimation von Volksentscheiden in Berlin leidet, wenn die Beteiligung weiter sinkt.
6 Fazit
Der Berliner Klimaentscheid hat für ein mediales Aufsehen gesorgt. Zwar stimmte eine knappe Mehrheit für den Entscheid, allerdings scheiterte die Abstimmung am Zustimmungsquorum. Die Beteiligung betrug nur 35,7 %. Da die Abstimmung nicht mit der Abgeordnetenhaus-Wiederholungswahl zusammengelegt wurde, war die niedrige Abstimmungsteilnahme erwartbar, verglichen mit anderen Abstimmungen ohne Parallelwahl wie beispielsweise dem bayerischen Nichtraucherentscheid (2010). Allerdings ist das nicht der einzige Kontextfaktor, der die Beteiligung vermindert hat. Die Mobilisierung der parteipolitischen Elite war nur schwach ausgeprägt, und die parteilichen Ressourcen waren auf den zuvor stattgefundenen Wahlkampf konzentriert. Alle großen Berliner Parteien meldeten Zweifel an der Umsetzbarkeit an, auch die Grünen sendeten gegensätzliche Signale und haben sich dem Koalitionspartner SPD gebeugt. Wahrscheinlich existierte eine gewisse Wahlmüdigkeit, da die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus nur sechs Wochen zuvor stattfand. Auch das gültige Quorum hatte vermutlich keine beteiligungsfördernde Wirkung.
Die Analyse der individuellen Beteiligungsdeterminanten hat gezeigt, dass vor allem Faktoren, die dem Rational-Choice-Ansatz zugeschrieben werden, einen signifikanten Einfluss auf die Abstimmungswahrscheinlichkeit haben. Demnach ist die Beteiligung höher, wenn das Thema als wichtiger erachtet wird, der Wahlnorm zugestimmt wird und bei der letzten Landtagswahl gewählt wurde. Jedoch zeigt sich auch, dass die Beteiligung niedriger ausfällt, wenn die Ansetzung „unrealistischer“ Entscheide kritisch gesehen wird. Aus normativer Sicht ist dies bedenklich, da die beiden zuvor erfolgreichen Beschluss-Entscheide zur Offenhaltung des Flughafens Tegel und zur Enteignung von Wohnungskonzernen nicht umgesetzt wurden. Wenn dieser Trend von anberaumten, aber, je nach Lesart, nicht umgesetzten oder nicht umsetzbaren Entscheiden anhält, dürfte die Beteiligung und damit Legitimation direktdemokratischer Verfahren zurückgehen.
Somit steht Berlin vor einem Dilemma. Auf der einen Seite wurden direktdemokratische Verfahren historisch betrachtet erst kürzlich thematisch geöffnet und Quoren gesenkt (Meerkamp 2011) – eine demokratische Errungenschaft, die Partizipation und Teilhabe abseits der repräsentativen Demokratie vereinfacht. Ein „Zurückschrauben“ dieser Standards, beispielsweise durch thematische Einschränkungen, erscheint weniger wünschenswert. Auf der anderen Seite sollte das Ergebnis eines erfolgreichen Entscheids nicht folgenlos bleiben. Die Folge ist Frustration, was langfristig zu Verdrossenheit und – wie im aktuellen Beispiel – zu einer Abstinenz von direktdemokratischen Prozessen führen kann.
Insgesamt zeigt die Analyse der Individualdaten wertvolle Erkenntnisse, die nicht über die Aggregatebene gewonnen werden können. Insofern bleibt zu hoffen, dass dieser Beitrag auch die Forschung auf der Individualebene zu Volksabstimmungen in Deutschland vorantreibt, die bislang leider immer noch sehr schwach ausgeprägt ist.
Notes
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Thomeczek, J.P. Die (geringe) Beteiligung am Berliner Klimaentscheid 2023: Empirische Erklärungsversuche. Z Vgl Polit Wiss (2024). https://doi.org/10.1007/s12286-024-00609-8
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