In der Vergleichenden Politischen Ökonomie sind Typologien zur Beschreibung unterschiedlicher Modelle des modernen Kapitalismus prominent vertreten. Sie basieren jedoch empirisch vor allem auf den „Trente Glorieuses“ der Nachkriegsjahre und sind seither mit verschiedenen Krisen bzw. erheblichen Herausforderungen konfrontiert worden. Inzwischen haben sich verschiedene Länder grundlegend verändert und die typologischen Zuordnungen passen vielfach nicht mehr. Das meint aber nicht, dass sich nun ein genereller Trend zum Neoliberalismus mit entsprechenden radikalen Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen durchgesetzt hätte. Das Gegenteil ist – so eine Ausgangsthese des Bandes – der Fall. Aber es gilt, die politisch-ökonomische Unübersichtlichkeit neu zu analysieren und zu strukturieren.

Vor diesem Hintergrund wollen die Herausgeber vor allem drei Ziele verfolgen:

  • Erstens soll das Verständnis dafür verbessert werden, wie sich die fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Untersucht werden dabei besonders die Rolle der Dienstleistungs- und Wissensbasierung sowie der Finanzialisierung und der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).

  • Zweitens soll der Beitrag der Regierungen zu diesen Transformationsprozessen, d. h. ihre Wachstumsstrategien – sowohl nachfrage- wie angebotsbezogen – analysiert werden.

  • Drittens soll die Funktion der Wohlfahrtsstaaten für das Wachstum und den transformativen Wandel, etwa die Rolle der Bildungssysteme, die für Qualifikationen sorgen oder die Nachfrage durch öffentliche oder private Ausgaben stabilisieren, hervorgehoben und erforscht werden (S. 4).

In dem Einleitungskapitel legen die Herausgeber die Besonderheiten des Bandes dar und klären wichtige theoretische Grundfragen und Begriffe. Wichtig ist das Konzept der Wachstumsregime, die mit entsprechenden Wachstumsmodellen und -strategien verknüpft sind (s. Definitionsblock S. 12).

„A growth regime, in its broadest sense, is a mode of governance of the economy. It encompasses the institutional, policy, and organizational frameworks that shape the specialization of firms and the consumption and saving patterns of the population, as well as the use of technology and work organization. A growth regime can be based on a particular type of innovation, the evolution of a particular high-value-added industry, the use of fiscal and monetary policy, and policy instruments that affect the employment rate and human capital. The (welfare) state is an important component of growth regimes for economic management“ (S. 17).

Damit sind drei wichtige Aspekte verbunden:

  • Welcher Sektor ist der Wachstumsmotor und schafft Wohlstand, Arbeitsplätze und Produktivitätszuwächse? Also die Landwirtschaft, das verarbeitendes Gewerbe, Dienstleistungen (mit hoher/geringer Wertschöpfung), das Finanzwesen, der Wohnungsbau, Branchen mit wissensbasierten Tätigkeiten und hohem IKT Einsatz.

  • Welche Institutionen organisieren die Ökonomie: 1) die Art der Finanzierung der Wirtschaft und die Unternehmensführung; 2) die Regulierung des Produktmarktes (einschließlich Industriepolitik, Subventionen, staatliches Eigentum); 3) die Arbeitsbeziehungen, die Art und Weise der Lohnfestsetzung, die Regulierung und die Organisation des Arbeitsmarktes; 4) die Systeme zur Qualifizierung und Humankapitalbildung (allgemeine und berufliche Bildung); 5) die Sozialpolitik (Sozialversicherung, Sozialinvestitionen und Sozialhilfe)

  • Die wichtigsten Komponenten der Gesamtnachfrage: privater Konsum (Haushalte und Unternehmen), private Investitionen, öffentliche Ausgaben (Konsum und Investitionen) und Nettoexporte.

Das Verständnis von Wachstumsregimen ist deshalb – so die Herausgeber – umfassend und beinhaltet sowohl die Nachfrageseite als auch die Angebotsseite der Wirtschaft (s. a. Grafik S. 19). Bezogen auf theoretische Ansätze, die aufgegriffen werden, sind es die Regulationsschule, die Varieties of Capitalism-Ansätze (VoC) und die Trias der Welten des Wohlfahrtskapitalismus.

Nach einer kurzen Darstellung der Finanzialisierung und der IKT, in deren Rolle als Problemerzeuger wie als Lösungsbeitrag, werden fünf Hauptwachstumsregime in den heutigen politischen Ökonomien identifiziert, davon drei exportorientierte und zwei von der Binnennachfrage getragene: Export hochwertiger Produktion (verbunden mit einer Dualisierung des Wohlfahrtsstaates); koordinierte Lohnpolitik und geringe Finanzialisierung. Untersucht werden:

  • Export dynamischer Dienstleistungen (verbunden mit sozialen Investitionen); Finanzialisierung und der IKT und koordinierte Lohnpolitik

  • durch ausländische Direktinvestitionen finanziertes exportorientiertes Wachstum (verbunden mit entsprechenden Anreizen); deregulierte Arbeitsbeziehungen

  • durch Finanzialisierung angetriebener Binnenkonsum (verbunden mit Privatisierung des Wohlfahrtstaates); deregulierte Arbeitsbeziehungen

  • und durch Löhne und Wohlfahrt angetriebener Binnenkonsum (verbunden mit sozialem Protektionismus und Verschuldung) und relativ geringer Rolle von Finanzialisierung und der IKT (S. 39ff).

In elf weiteren Beiträgen (inklusive einem der Herausgeber) wird das komplexe Bild aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Empirie verschiedener Länder beleuchtet. Sie werden in drei Teile gegliedert: im ersten Teil geht es um die allgemeine Untersuchung von Wachstumsstrategien und Wachstumsregimen; im zweiten Teil geht es um die politische Ökonomie von Wachstumsstrategien und der dritte Teil beschäftigt sich mit Wohlfahrtsreformen und deren Einfluss auf Wachstum.

Peter Hall bietet eine kurze Definition von Wachtumsregimen: „Every country has a growth regime, understood as the ensemble of means, both technological and institutional, used to generate economic growth“ (S. 57). Danach betrachtet er die Wachstumsstrategien der Regierungen seit dem Zweiten Weltkrieg und identifiziert drei Perioden: die Ära der Modernisierung (von 1950–1975), die Ära der Liberalisierung (von 1980–1990) und die Ära des wissensbasierten Wachstums (seit 2000). Untersuchte Fälle sind Großbritannien, Frankreich, Schweden und Deutschland. Dabei stellen Wachstumsstrategien eine Antwort auf weitreichende Veränderungen der Ökonomie dar, jedoch nicht deterministisch, sondern mit entsprechenden Verschiebungen in der Wählerschaft und in den Klassenkoalitionen der Produzentengruppen (S. 85). So spielt die Zunahme der Frauenerwerbsquote und korrespondierender sozialpolitischer Nachfragen eine Rolle. Wichtig ist ferner, dass ökonomische Herausforderungen und Probleme im Längsschnitt nicht konstant wahrgenommen werden.

Lucio Baccaro und Jonas Pontusson betrachten die politischen Antworten auf die Rezession in Folge der globalen Finanzkrisen um die Jahrtausendwende. Sie stellen fest, dass besonders in Schweden ein deutlicher Bruch der Wachstumstreiber erfolgt ist: der private Konsum spielt gegenüber der ersten Dekade eine deutlich größere Rolle in den Jahren 2010–2014. In Deutschland hingegen treiben über die gesamte Periode vor allem die Exportüberschüsse das Wachstum, während in Großbritannien dafür insbesondere die erleichterten Zugänge zu privaten Krediten wichtig sind.

Georg Picot vertieft diesen Aspekt und fokussiert auf drei mögliche Quellen zusätzlicher wirtschaftlicher Nachfrage: Staatsschulden, private Defizite und Handelsüberschüsse. Empirisch erfolgt eine Längsschnittanalyse von 28 entwickelten kapitalistischen Ökonomien seit 1995 unter Anwendung der Fuzzy Set Analyse. Außenhandelsüberschüsse treiben als „demand booster“ das Wachstum vor allem in Kontinental- und Nordeuropa sowie in Ostasien an. Im Gegensatz dazu wachsen die Ökonomien in Süd- und Osteuropa sowie in den englischsprachigen Ländern vor allem durch Schulden; in Süd- und Osteuropa durch staatliche und in den englischsprachigen stärker durch private Defizite (vgl. Tabelle S. 141). Bezogen auf die Auswirkungen dieser Strategien und Modelle ergibt sich, dass die über private Schulden finanzierten Länder am besten bei Wachstum und Ausgaben für Bildung abschneiden. Die exportorientierten Modelle performieren gut bei Vollbeschäftigung, während diejenigen Modelle, welche auf Staatsschulden setzen, am schlechtesten abschneiden. Insofern lässt sich angesichts der erheblichen Unterschiede der Wachstumsmodelle auch keine „beste“ politische Strategie empfehlen, geschweige denn mit dem Finger auf Krisenländer zeigen. Man erinnere sich an den Umgang des deutschen Finanzministers mit Griechenland. Denn: „Export-led economies benefit from and fund the demand generated by those domestic deficits“ (S. 157f.).

Fritz Scharpf führt diese Überlegung fort und untersucht die Effekte der europäischen Währungsunion und stellt fest, dass dieses ein „asymmetrisches Regime“ darstellt. D. h. es erzeugt deutliche Unterschiede, je nachdem auf welchen politisch-ökonomischen Strukturen die Länder basieren. Etwas platt ausgedrückt: das deutsche Modell aus starkem Export und koordinierten Lohnverhandlungen und Lohnzurückhaltung „passt“ ins europäische Modell und profitiert erheblich davon. Andere Länder, vor allem im Süden, leiden darunter und weisen Wachstumsschwächen auf. Das (inadäquate) Euro-Regime erzeugt zudem auf politscher Ebene Delegitimierungseffekte und leistet einer „depoliticized technocratic form of governance“ (S. 193) Vorschub.

Kathleen Thelen stellt fest, dass sich innerhalb der Gruppe der „koordinierten“ Ökonomien unterschiedliche Trajekte durchgesetzt haben, um auf die Herausforderungen der „digitalen Revolution“ zu reagieren.

„Germany has vigorously defended its strength in high-quality manufactering through the digital transformation of products and production within the traditional industrial core. Sweden, by contrast has moved strongly to compete directly in high-tech sectors, especially information and communication technologies (ICT). Finally, the Dutch have increasingly turned to high-end business services, deploying new technologies to return to the country’s historic strength in trade and finance.“ (S. 203).

Diese neuen Wachstumsstrategien beruhen auf den Veränderungen oder der Stabilität in der Struktur der organisierten Produzenteninteressen (v. a. Gewerkschaften und Arbeitgeber) und dem damit verbundenen Wandel der industriellen Beziehungen sowie den Folgen für das Bildungssystem und die Arbeitsmarktpolitik. In Deutschland bleibt die klassenübergreifende Kooperation innerhalb der Industrie (vor allem Automobil und Maschinenbau) erhalten und bildet die Basis für die traditionelle Stärke der Exportorientierung – aber auch für einen parallel dazu anwachsenden Niedriglohnsektor. In den Niederlanden haben sich die „Klassenstrukturen“ geändert und tragen zur Verschiebung der Wachstumsstrategie in Richtung Handel und Unternehmensdienstleistungen bei.

Cathie Jo Martin verweist ergänzend für den Fall Niederlande darauf, dass diese Wachstumsstrategie mit einem „compartmentalized liberalism“ (S. 247) verbunden ist, zugleich aber das alte Modell der makrokorporatistischen Koordinierung die sozialpolitischen Leistungen stabil halten kann.

Anne Wren analysiert den für den VC Ansatz charakteristischen Bereich der Humankapitalbildung bzw. „educatioal regimes“ vor allem am Beispiel der drei typischen Fälle Deutschland, Schweden und Großbritannien. Der schwedische Weg in Richtung weniger preisempfindliche, High-Tech-Produkte sowie die britische Strategie der gehobenen, exportierbaren Dienstleistungen (vor allem im Finanzsektor) basieren auf der Verfügbarkeit von ausreichend Arbeitskräften mit universitärer Ausbildung. Im Unterschied dazu verbleibt Deutschland im traditionellen industriellen Sektor und seinem etablierten System der beruflichen Bildung und einer begrenzten tertiären Bildung. „The question, however, is whether this strategy remains sustainable in an era in which employment expansion increasingly relies on exploiting the complementaries between ICT and college-educated labor“ (S. 274).

Alison Johnston hinterfragt die Rolle der Lohnzurückhaltung und Koordination für das Wachstum – bei dem in der Regel ein positiver Zusammenhang erwartet wird. Ähnlich wie bei Scharpf gilt hier, dass diese Strategie nur bei komplementären politisch-ökonomischen Strukturen funktioniert. Und: hohe Löhne können sich in unregulierten institutionellen Settings durchaus positiv auf Wachstum auswirken – etwa im britischen Fall.

Alexander Reisenbichler untersucht den Zusammenhang zwischen Finanzierung des privaten Wohneigentums, dem Wohlfahrtsstaat sowie dem Wachstum. Vor allem in den USA und in Großbritannien haben eine expansive Finanzpolitik und entsprechend günstige private Kredite die Nachfrage vergrößert, bzw. als „demand booster“ gewirkt und das Wachstum angeschoben (siehe den Beitrag von Picot). In gewisser Weise weist die (staatlich geförderte) Bildung von Wohneigentum durchaus Wohlfahrtsfunktionen (in liberalen Regimen) auf, da dies eine Möglichkeit zur Sicherung für das Alter oder die Ausbildung der Kinder darstellt.

Tom Chevalier beschäftigt sich mit Bildung, Arbeitsmarktpolitik und wohlfahrtstaatlichen Maßnahmen für junge Menschen in Frankreich, Deutschland, Schweden und Großbritannien. Passend zu den Wohlfahrtsstaats- und Wachstumsregimen lassen sich vier Typen von Jugendwohlfahrt identifizieren. Sie werden als Enabling, Monitored, Second-class und Denied bezeichnet (vgl. Tab. S. 354).

Die Herausgeber Anke Hassel und Bruno Palier untersuchen zusammen mit Sonja Avlijaš die Auswirkungen wohlfahrtsstaatlicher Reformen seit 1990 für die fünf Wachstumsstrategien, die in der Einleitung identifiziert worden sind. Differenziert wird zwischen einer Strategie der Dualisierung (vor allem in Deutschland), der Sozialinvestitionen (Schweden und Dänemark, aber auch den Niederlanden), des Sozialdumpings („fiscal and social attractiveness“ in Osteuropa), der Kommodifizierung (bzw. Privatisierung und Vermarktlichung; besonders in Großbritannien) und des Sozialprotektionismus (Italien und Frankreich). Letzterer verläuft über die hohe Staatsverschuldung zur „Competetive Impoverishment“ (S. 405) und ist eng mit den Restriktionen des Euro Regimes verbunden (siehe den Beitrag von Scharpf). Abschließend heben sie, ähnlich wie Hall. die wichtige Rolle neuer politischer Cleavages und Koalitionen sowie den Einfluss demokratischer Wahlen hervor.

Was bleibt am Ende nach 450 Seiten? Viele kluge Analysen und einige überraschende Ergebnisse zur Thematik Wachstum und Wohlfahrt in entwickelten kapitalistischen Ökonomien. So ist der Wandel etwa der Fälle Schweden, Dänemark und Niederlande so gravierend, dass man vorsichtig sein muss mit den alten Interpretationsschablonen. Oder der politisch relevante Hinweis, dass zwischen dem Erfolg der einen im Norden und der Misere der anderen im Süden ein gewisser Zusammenhang besteht, oder dass man die Frage der Finanzialisierung differenzierter betrachten sollte.

Der Versuch, mit dem Band möglichst breit auf unterschiedliche theoretische Ansätze einzugehen und relevante Faktoren zu integrieren und damit eine bunte Empirie zu generieren, hat sicherlich den Vorteil, dass die theoretische Komplexität der empirischen Vielfalt entspricht. Und die eingangs entwickelten fünf Wachstumsregime werden in den folgenden Beiträgen auch meist rezipiert, sodass sich in der Summe eine bemerkenswerte argumentative Dichte einstellt – wenngleich jedoch gelegentlich die Gefahr aufblitzt, dass die Kombination dieser mit weiteren Typen an Anschaulichkeit verliert – und am Ende stehen Analysen einzelner Fälle ohne Vergleich und Generalisierung.

Mit einer starken Betonung von Wachstumsstrategien, politischen Akteuren, Wahlen und Implementationsprozessen wird die Gefahr des funktionalistischen Überhangs, den Typologien oft aufweisen, zurecht gegengesteuert und damit die Dynamik politisch-ökonomischer Entwicklungen und deren Brüche besser erfasst.