Während es an Forschungsliteratur zum Europäischen Parlament (EP) nicht mangelt, gilt dies deutlich weniger für die Phase vor dessen erster Direktwahl 1979. Mechthild Roos nimmt sich in ihrer Dissertation, die 2021 unter dem Titel „The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power“ im Verlag Palgrave MacMillan erschienen ist, dieser Forschungslücke an und verbindet dies mit einem ebenfalls für diese Zeitspanne wenig untersuchten Politikfeld, nämlich der Sozialpolitik.

Unter der Fragestellung: „How did the EP shape social policy, and thereby its own role and powers, in the European Communities prior to the first direct elections in 1979?“ analysiert sie am Beispiel des Politikfeldes Soziales den allmählichen Machtausbau des EP in dieser frühen Phase der Integrationsgeschichte. Sie greift dabei auf bewährte Muster zur Erklärung institutionellen Wandels zurück und kombiniert diese miteinander: Zum einen werden aus dem Historischen Institutionalismus (HI) etablierte Kategorien wie Pfadabhängigkeit und critical junctures ebenso verwendet wie die späteren Ergänzungen zu inkrementellem Wandel, der nicht notwendigerweise mit externen Schocks oder anderen Krisenerscheinungen in Verbindung steht. Zum anderen verbindet Mechthild Roos dies mit Kategorien des Soziologischen Institutionalismus (SI) wie Ideen, Sozialisierung, Selbstverständnis und Visionen von MdEPs, um deren Aktivismus und ‚Entrepreneurship‘ mit Blick auf konkrete Politikfelder einerseits und das politische System der Gemeinschaften einschließlich der Rolle des EP andererseits zu erklären. Der Institutionenwandel im zeitlichen Verlauf wird folglich als mit dem Aktivismus von MdEPs verknüpft betrachtet, dabei jedoch stets analytisch sauber getrennt.

Die Ausgangsthese ist, dass sich aufgrund des damals – und im Grunde noch für weit längere Zeit – geringen Integrationsstandes sowie des direkten Bezugs zu den Bürger*innen das Feld der Sozialpolitik besonders für eine Betrachtung der schrittweisen Ausweitung von Aktivitäten und Kompetenzen des EP eignet. Das EP, so die Vermutung, konnte sich mittels einer zunehmend aktiven Rolle in der Sozialpolitik als „Volksvertretung“ positionieren und dies zugleich zur Unterstützung einer insgesamt engeren Integration sowie als „Sprungbrett“ für die eigene Rolle im Institutionengefüge der Gemeinschaft nutzen.

Die Analyse basiert methodisch auf einer umfangreichen Datengrundlage, bestehend aus den Ergebnissen einer Dokumentenanalyse von ca. 4000 Primärdokumenten, die in intensiver Archivarbeit gesichtet wurden, sowie 25 Interviews mit Zeitzeug*innen primär aus dem EP selbst, und gliedert sich wie folgt: Nach der Herleitung des Analyserahmens (Kap. 2) wird zunächst die „institutionelle Evolution“ des EP vor 1979 skizziert (Kap. 3). Dies fungiert anschließend als Hintergrundfolie für vier Fallstudien, in denen jeweils die feldspezifischen Entwicklungen mit Blick auf Policies und Strukturen dargestellt und mit dem Agieren und den Motiven des EP und seiner Abgeordneten in Verbindung gesetzt werden. Die Fallstudien adressieren die Bereiche Arbeitnehmerfreizügigkeit (Kap. 4), Gleichstellung (Kap. 5), Kinder und Jugend (Kap. 6) sowie als eine Art Querschnittsthema den Europäischen Sozialfonds (ESF, Kap. 7).

Ein Grundbefund mit Blick auf die institutionelle Entwicklung ist zunächst, dass sich fast von Beginn der Integrationsgeschichte an eine Lücke zwischen den formalen und den faktischen Kompetenzen und Einflüssen (im Original: formal und real powers) feststellen lasse, getrieben durch den Aktivismus der bzw. von einzelnen oder Gruppen von MdEPs. Die unterschiedlichen Mittel dazu, bspw. die Einrichtung von Ausschüssen und Fraktionen, die Ausdehnung von Sitzungszeiten, die Etablierung eines Misstrauensvotums, die enge Kooperation mit der Kommission und zeitweise bzw. themenspezifisch auch mit dem Rat oder die Etablierung des Konsultationsverfahrens ordnet Mechthild Roos überzeugend in die HI-Kategorien ein und ergänzt dies unter Bezugnahme auf den SI um den Einfluss geteilter Normen, Visionen und Sozialisierung auf individuelle „Normunternehmer*innen“.

Es folgt eine detaillierte und nuancierte Auseinandersetzung mit den genannten Sub-Feldern von Sozialpolitik, für die durchaus unterschiedliche Zielsetzungen, Mittel und auch Erfolge oder Misserfolge festgestellt werden. So sei die Arbeitnehmerfreizügigkeit aufgrund ihrer thematischen Nähe zum gemeinsamen Markt als eine Art Testfeld für die soziale Integration verstanden worden. Die Ausdehnung der EP-Aktivitäten sei im Verbund mit Kommission und Gerichtshof erfolgt, begünstigt durch das gemeinsame Ziel der ‚Identitätsförderung‘ durch eine wachsende Arbeitnehmermobilität über nationale Grenzen hinweg. Dem EP sei es gelungen, Freizügigkeit nicht nur als ökonomische Frage, sondern auch als eine der sozialen Belange von Migrant*innen zu framen. Unter den MdEPs habe dabei die polity-Idee, mittels dieses Themenfeldes die eigene Rolle zu stärken, als einigendes Band fungiert und breiten Aktivismus begünstigt. Zudem sei es gelungen, die anderen Institutionen, namentlich den Rat, in eine Art normative Falle zu locken, indem dieser sich zunächst in Teilbereichen darauf eingelassen habe, durch Einbeziehung des EP die Legitimität eigener Entscheidungen erhöhen zu wollen, worauf das EP dann in der Folge wiederholt Bezug nehmen konnte (normative entrapment).

Im Feld der Gleichstellungspolitik (Equality) konstatiert die Autorin weniger institutionelle Eigeninteressen, sondern vielmehr stark politikfeldspezifische Ziele, die wiederum im Verbund mit Kommission und Gerichtshof verfolgt worden seien. Einzelne, insbesondere weibliche MdEPs hätten die europäische Ebene als Mittel zur Verwirklichung ihrer policy-Ziele betrachtet und dies zumindest teilweise erfolgreich umsetzen können. Im Feld der Kinder- und Jugendpolitik dagegen sei trotz durchaus vorhandener Bemühungen vor 1979 kein großer Erfolg zu verzeichnen. Dem ideellen Motiv der „Erziehung zum/r Europäer*in“ seien wenig Initiativen seitens der Kommission gefolgt und der Rat habe sich eher ablehnend positioniert, bspw. mit Blick auf eine entsprechend pro-europäische Gestaltung von Schul-Curricula. Der Versuch des „treaty-stretching“ – denn eigentlich war dem EP nur die Ermutigung von Austauschen zugedacht – sei folglich in diesem Zeitraum mäßig erfolgreich gewesen, so dass allenfalls auf Umwegen über angrenzende Felder wie Beschäftigungs- oder Regionalpolitik kleinere Erfolge erzielt worden seien.

Als letzte Fallstudie wird mit dem Europäischen Sozialfonds kein weiteres Politikfeld, sondern vielmehr ein Förderinstrument und damit ein Mittel der sich entwickelnden europäischen Sozialpolitik betrachtet. Der ESF, so die Autorin, wurde dabei neben der Umsetzung von policy-Zielen auch für eine allgemeine Ausweitung der sozialen Dimension über Bereiche mit direktem Arbeitsbezug hinaus sowie wiederum zur Aufwertung der Rolle des EP genutzt, insbesondere nach dem Vertrag von Luxemburg, der dessen Haushaltsbefugnisse gestärkt hatte, im Jahr 1970. Positiv ausgewirkt hätten sich auf die Umsetzung dieser Ziele sowohl die oft ähnlichen Interessen der Kommission als auch der Umstand, dass der Rat sie teilweise aus Legitimitätserwägungen sowie begünstigt durch konkrete finanzielle Interessen einzelner Mitgliedsstaaten mitgetragen habe.

Insgesamt zeichnet die Studie überzeugend die dynamische Entwicklung von einer parlamentarischen Versammlung mit wenigen formalen Rechten zu einem direkt gewählten Parlament mit erheblich ausgeweiteten Kompetenzen in allen Bereichen nach, sowohl legislativ als auch initiativ (Letzteres indirekt) sowie bzgl. der Kontrollfunktion und des Budgets. Der Ansatz, institutionelle Entwicklungen einerseits und Ideen, Normen und Aktivismus – bzgl. polity und policy gleichermaßen – andererseits analytisch miteinander zu verzahnen, wird stringent umgesetzt und die Mechanismen sowohl in den einzelnen Fallstudien klar dargestellt als auch überzeugend vergleichend diskutiert. Vor allem Letzteres bietet potenziell Anknüpfungspunkte über das Feld der Sozialpolitik hinaus, sowohl mit Blick auf die Kompetenzausdehnung des EP in anderen Feldern in dieser oft vernachlässigten Phase der Integrationsgeschichte als auch hinsichtlich einer möglichen längerfristigen ‚Evolution‘ der parlamentarischen Versammlungen anderer internationaler Organisationen.

Relevant ist diese historisch-politikwissenschaftliche Studie aber auch nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der Nachzügler-Charakter der Sozialpolitik auf europäischer Ebene auch in den folgenden Jahrzehnten weitgehend erhalten blieb bzw. eine neue Dynamik allenfalls phasenweise und mittels ‚nicht-klassischer‘ Instrumente wie der Offenen Methode der Koordinierung festzustellen war, wenngleich sich diese Logik mit der Europäischen Säule sozialer Rechte und deren Folgeprozessen gegenwärtig grundlegender zu verändern scheint. Darstellungen der sozialpolitischen Integrationsgeschichte verweisen dann auch in der Regel nur kursorisch auf die frühen Jahrzehnte – ein weiteres Defizit, das mit diesem Buch und seiner Erschließung eines wichtigen Korpus an Dokumenten und Aussagen von Zeitzeug*innen ein gutes Stück kleiner wird.