In diesem Jahr wird der Gero Erdmann-Preis für vergleichende Area-Forschung zum vierten Mal vergeben. Gero, einer der Mitbegründer der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft ist im Sommer 2014 viel zu früh verstorben. Zur Würdigung seines Andenkens und zur Förderung seines wissenschaftlichen Vermächtnisses in Bezug auf die vergleichende Area-Forschung hat der Arbeitskreis Demokratieforschung der DVPW, das German Institute of Global and Area-Studies (GIGA) und die Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft diesen mit € 1500 dotierten Preis ins Leben gerufen, der alle zwei Jahre von der ZfVP ausgeschrieben wird. Die Jury, bestehend aus Vertreter*innen der drei Organisationen denen Gero in vielen Jahren seiner beruflichen Tätigkeit verbunden war, setzte sich in diesem Jahr aus Hans-Joachim Lauth für die Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Susanne Pickel für den Arbeitskreis Demokratieforschung und Thomas Richter für das German Institute of Global and Area-Studies zusammen.

Ein herzlicher Dank gilt zunächst denjenigen, die ihre Dissertation bis zum 15. Oktober 2021 eingereicht hatten. Alle Arbeiten, die die in der Ausschreibung aufgeführten formalen Kriterien erfüllt haben, wurden von der Jury gelesen und begutachtet. Alle Einreichungen sind als gelungene Forschungsarbeiten zu verstehen und hätten eine Würdigung verdient. Eine Dissertation wurde von der Jury jedoch als outstanding bewertet. So ist diese zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen, den Gero Erdmann Preis 2022 an Tim Glawion zu vergeben. Sein im Jahr 2020 bei Cambridge University Press erschienenes Buch mit dem Titel „The Security Arena in Africa: local order-making in the Central African Republic, Somaliland, and South Sudan“ basiert auf seiner im Jahr 2018 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg abgeschlossenen Promotion, die von Andreas Mehler und Lotje de Vries betreut wurde.

„The Security Arena in Africa“ beginnt mit der Feststellung, dass die oftmals zusammen verwendeten Bezeichnungen „fragiler Staat“ und „Bürgerkrieg“ suggerieren, dass öffentliche Sicherheit in vielen afrikanischen Ländern zusammengebrochen ist. Andererseits lässt sich jedoch feststellen, dass die Menschen in Ländern mit fragiler Staatlichkeit in einigen Landesteilen unter Unsicherheit leiden, in anderen jedoch in relativer Sicherheit leben. Dieses Phänomen besser zu verstehen und zu theoretisieren ist der Hauptbeitrag von Tim Glawions Buch. Das Material wurde zwischen 2014 und 2018 als Teil eines von der DFG finanzierten Projekts vor Ort recherchiert und basiert auf Feldforschungen in neun Kommunen in Südsudan, der Zentralafrikanische Republik während ihrer anhaltenden Bürgerkriege sowie in Somalias abtrünnigem ‚Staatsgebiet‘ Somaliland. Mit einer Bottom-up-Perspektive – so die Grundidee der Arbeit – sollen komplexe Sicherheitsdynamiken erforscht werden. Theoretische Erkenntnisse werden auf reale Erfahrungen übertragen und zeigen, wie Sicherheit in diesen fragilen Staaten geschaffen und untergraben wird.

Die Arbeit ist generell in den Bereich der Friedens- und Konfliktforschung im Kontext fragiler Staatlichkeit einzuordnen. Doch bereits mit der Fragestellung befasst sich die Studie mit originellen Forschungsperspektiven, in dem nach der Wahrnehmung von (Un)Sicherheit gefragt wird. Zugleich wird mit dem Konzept der Sicherheitsarenen ein innovatives Kategorienraster geschaffen, das die folgende qualitative Untersuchung strukturiert. Eine wichtige Grundlage bildet dabei die Schärfung der Begrifflichkeit, die zu einer Ersetzung des Begriffspaares „stability – fragility“ durch „stability – fluidity“ bzw. „more stable“ versus „more fluid constellations“ führt. Innerhalb dieser Pole liegen die unterschiedlichen Ausprägungen einer Sicherheitsarena. Anhand von vier Dimension/Relationen werden diese erfasst: „inner“ versus „outer circle“, „centre“ versus „peripherie“, „state actors“ versus „non-state actors, and international actors“. In den Fallstudien werden dann jeweils die Präferenzen dieser Akteure für „stable“ bzw. „fluid ordering“ erfasst.

Das methodische Vorgehen der Arbeit bei Fallauswahl und die Vergleichsanlage kann neben der theoretischen Grundlegung gleichfalls überzeugen. Dies gilt ebenso für die sorgfältige Datenerhebung, die auf Feldforschung vor Ort basiert, wobei unterschiedliche Instrumente zum Einsatz kommen. Das Vorgehen wird entsprechend reflektiert und transparent gemacht. Die Datenverarbeitung und Datenauswertung erfolgen stringent nach den theoretisch aufgestellten Kategorien.

Insgesamt zeigt die Arbeit, dass der Aufbau einer funktionierenden Staatlichkeit beziehungsweise präziser, die Schaffung von Sicherheitsstrukturen, auf der lokalen Ebene ansetzen sollte. Dabei kann die Etablierung von hierarchischen Ordnungsstrukturen förderlich sein, die in die Schaffung bekannter Staatsstrukturen einfließen. Aber solche Maßnahmen können auch kontraproduktiv sein, da sie fluide Aushandlungskonstellationen unterminieren und damit neue Konflikte schaffen. Notwendig ist somit stets eine Analyse der jeweils vielschichtigen Akteurskonstellationen, in der unterschiedliche Kombinationen von Handlungslogiken deutlich werden. Die Arbeit kann und möchte dabei keine neue Theorie formulieren, die überall Gültigkeit beansprucht; dazu sind die lokalen Konstellationen zu unterschiedlich. Aber sie kann zeigen, dass die aufgestellten Kategorien helfen, das Feld angemessen zu vermessen. In dem explorativen Zugang der Erfassung kausaler Mechanismen zeigt sich zudem die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten.

Tim Glawions Buch ist zweifellos die ambitionierteste Dissertation im diesjährigen Bewerber*innenfeld. Sie basiert auf einer innovativen und relevanten Fragestellung, die angemessen theoretisch konzeptualisiert wird. Es ist nicht nur die aufwendige Feldforschung und qualitativ-vergleichende Auswertung zu neun lokalen Gemeinden in drei hochfragilen afrikanischen Staaten, welche besticht. Er arbeitet darüber hinaus eine wichtige Forschungslücke heraus und beginnt diese mit seiner theoriegenerierenden Analyse und Darstellung des Materials auf produktive Art und Weise durch weiterführenden Überlegungen zum Verständnis von fragiler Staatlichkeit und hybriden Ordnungen abzudecken. Die Ergebnisse werden luzide zusammengefasst und ermöglichen neue Einblicke in lokale Sicherheitsarrangements, die produktiv zu weiterführenden Überlegungen zum Verständnis fragiler Staatlichkeit oder hybrid orders führen. Insgesamt ist die Arbeit sowohl in der theoretischen Konzeption als auch im methodischen Vorgehen eine außergewöhnlich reife Leistung, die nicht nur auf einer umfangreichen Kenntnis des Forschungsstandes beruht, sondern in der Lage ist, diesen fortzuentwickeln. Zugleich entspricht die Studie in vorbildlicher Weise der Idee einer vergleichenden Area-Forschung und verdient damit zurecht den Gero-Erdmann Preis für 2022.