Mit den 2018 in Kraft getretenen umfassenden Verfassungsänderungen wird der Türkei gemeinhin eine Aushöhlung der horizontalen Gewaltenteilung attestiert. Hiermit ist primär eine Machtkonzentration auf die Ein-Personen-Exekutive gemeint und für gewöhnlich bleibt die Judikative hiervon ausgeklammert. Schließlich gilt das türkische Verfassungsgericht seit geraumer Zeit als Hüter des AKP-Regimes, was der autoritär regierende Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, öffentlich verdeutlichte, indem er ankündigte, die Regierung werde unliebsame Entscheidungen des potenziellen Vetospielers nicht akzeptieren.

Freilich hat sich seine nunmehr nahezu ohnmächtige institutionelle Stellung im Laufe der AKP-Ära etappenweise entwickelt; noch 2008 votierte beispielsweise eine Mehrheit der Richterinnen und Richter für ein Verbot der Regierungspartei, indes wurde die hierfür benötigte Dreifünftelmehrheit denkbar knapp um eine Stimme verfehlt. Ehedem galt das Verfassungsgericht in den ersten beiden Jahrzehnten nach seiner Gründung (1962) als ein bedeutsamer Akteur im politischen Betrieb und fungierte partiell sogar als Ersatzgesetzgeber. Es war so einflussreich, dass die damalige Regierungspartei Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei AP; 1965 bis 1971) sich über gravierende Einmischungen beschwerte. Obwohl sie die absolute Mehrheit innehatte, scheiterte eine von ihr verabschiedete Wahlsystemreform an einem Verfassungsgerichtsurteil (1969). Infolge des neokemalistischen Militärputsches 1980 und der daran anschließenden im autoritären Geist formulierten Verfassung von 1982, wurde zwar die Rolle des Gerichts modifiziert, dennoch blieben seine Entscheidungen relevant und teilweise höchst umstritten. Zu nennen wäre hier das Urteil von 1996 in dem das Gericht den Investiturprozess der damaligen Regierung für ungültig erklärte, jedoch kein Problem in einer Fortführung der Koalition sah.

Sowohl die ihm zugeschriebene als auch selbstperzipierte gewichtige Rolle im politischen System stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den eher mangelhaften wissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich der Funktions- und Arbeitsweise sowie der Entscheidungsfindung des Gerichts. Diese Diskrepanz ist in der Vergleichenden Politikwissenschaft ebenfalls offensichtlich. In vielen komparatistisch angelegten StudienFootnote 1 findet die Türkei im europäischen Kontext kaum bis keinerlei Beachtung, obwohl sie seit jeher in europäischen Strukturen eingebunden ist und nach wie vor den Status einer offiziellen Beitrittskandidatin in die Europäische Union aufweist.

Mit ihrer zugleich als Dissertation erschienen Studie, in der sich Maria Abad Andrade mit der Struktur und den Entscheidungslogiken des türkischen Verfassungsgerichts zwischen 1962 und 2012 beschäftigt, trägt sie zur Schließung dieser Forschungslücke bei. Im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit dem türkischen Verfassungsgericht hat die Autorin alle Urteile der Entscheidungssammlung des Gerichts in einem Zeitraum von 50 Jahren inhaltsanalytisch auf für ihre Studie relevanten Merkmalen hin untersucht. Eine besondere Hürde stellte sicherlich das mühsam zugängliche Datenmaterial dar, auch die teilweise unsaubere bzw. nicht konsistente Arbeitsweise der Richterinnen und Richter haben ihren Teil hieran. Die Verfasserin berichtet von über 80 unterschiedlichen Begriffen oder Schreibweisen, die verwendet wurden um abweichende Meinungen zu kennzeichnen. Ergänzend zu diesen generierten Daten führte sie Experteninterviews mit 16 ehemaligen Mitgliedern des Verfassungsgerichts, die zwischen 1979 und 2013 in diversen Funktionen arbeiteten, um die Entscheidungsfindungsprozesse besser nachvollziehen zu können. Trotz des immensen Aufwands ist die sorgfältige und gewissenhafte Dokumentation ihres Vorgehens besonders erwähnens- und lobenswert, denn jeder ihrer Schritte ist stets nachvollziehbar.

Das Buch ist in einen typologischen sowie einen materiellen Teil aufgegliedert. Zunächst wird kenntnisreich in diverse (auch historische) Entscheidungsfindungen von Verfassungsgerichten eingeführt. Neben den bekannten „Ex-ante-“ und „Ex-post-Gerichten“, die einer Mehrheits- bzw. Konsenslogik folgen, schlägt Abad Andrade als neuen Typus „In-medio-Gerichte“ vor und nennt zwei Beratungen (Lese- und Entscheidungsberatung) als kennzeichnend. Ihre typologischen Überlegungen versteht sie als Ergänzung zu den Vorarbeiten von Mathilde Cohen. Sowohl das deutsche als auch das türkische Verfassungsgericht seien diesem neuen Typus zuzuordnen, wobei dem Bundesverfassungsgericht folgerichtig eine Konsenslogik zugrunde läge, während das türkische Verfassungsgericht einen deviant case darstelle, da die Entscheidungen trotz einer scheinbar konsensorientierten In-medio Struktur eine außergewöhnlich hohe Dissensrate (Mehrheitslogik) aufweise. Sodann entwickelt Abad Andrade ihr theoretisches Argument, wonach die Kopplung einer Mehrheitslogik mit einer In-medio Struktur zu qualitativ schlechten Entscheidungsfindungen und -ergebnissen führe.

Da das türkische Verfassungsgericht die In-medio Struktur, also die zweifache Beratung, mit dem Bundesverfassungsgericht teilt, aber gleichzeitig wie der US Supreme Court eine hohe Dissensrate aufweist, legt Abad Andrade zunächst kursorisch den US Supreme Court und anschließend das Bundesverfassungsgericht dar. Dieser implizit komparative Exkurs trägt zu einer tiefergehenden Veranschaulichung der Problemstellung bei und ermöglicht, die späteren Ausführungen zum Türkischen Verfassungsgericht besser vergleichen und einordnen zu können.

Im materiellen Teil wendet sie ihre typologische Ergänzung auf das türkische Verfassungsgericht an und spezifiziert die von ihr angedeutete Anomalie, die sie in den Beratungen des Gerichts ausmacht: „(…) insbesondere die Leseberatungen, werden zu Bruchstellen an denen die Inkongruenz von Mehrheitslogik und Konsensverfahren zu Tage treten“ (S. 286). Obwohl eine zweifache Vorberatung den Entscheidungen der Richterinnen und Richter vorausgeht, kommt es zu einer außerordentlich hohen Anzahl abweichender Meinungen. Damit kann Abad Andrade die Grundannahme ihrer Studie, wonach die Türkei einen deviant case unter den von ihr eingeführten In-medio-Gerichten darstelle, überzeugend untermauern.

Im Kap. II.3 begibt sich die Verfasserin auf historische Spurensuche der Entscheidungsfindung und folgt dabei dem Ansatz des Historischen Neo-Institutionalismus. Sie stellt fest, dass abweichende Meinungen aus der historischen Rechtspraxis des osmanischen Gerichtswesens entstammen als die Koexistenz mehrerer Entscheidungen üblich war, um den sozialen Frieden heterogener Gruppen zu gewährleisten. Dies stehe dem kontinental-europäischen Rechtsverständnis entgegen, dessen Ziel eine einzige Lösung für streitende Parteien zu finden sei. Hingegen wurde bei der Gründung des türkischen Verfassungsgerichts das italienische und das bundesrepublikanische Pendant als Vorbild genommen. Somit weisen bereits die Geschäftsordnungen ähnliche Strukturen zu „In-medio-Gerichten“ auf, weswegen Abad Andrade von einem „hybriden Gericht“ spricht, das kontinental-europäische Strukturen übernahm, zugleich osmanische Rechtselemente (abweichende Meinungen) integrierte. Insofern ließe sich dieser historische Prozess als ein Beispiel für „Layering“ in der institutionellen Entwicklung des Gerichts bezeichnen. Als weiterer wichtiger Aspekt für die Etablierung abweichender Meinungen im Verfassungsgericht werden die anderen Gerichte im türkischen Rechtssystem angeführt, da diese schon zuvor „abweichende Meinungen“ zugelassen haben, was wiederum auch eine Akzeptanz ebenjener Praxis im Verfassungsgericht unterstützen würde.

Hinzu kommt, dass Abad Andrade die numerische Anzahl der abweichenden Meinungen nicht als alleinigen Beweis für eine Mehrheitslogik verstehen will, insbesondere dann nicht, wenn die Sondervoten auf lediglich wenige Mitglieder zurückzuführen wären. Im türkischen Verfassungsgericht stellt sie wiederum einen intensiven Gebrauch abweichender Meinungen fest; nur drei von 124 Richterinnen und Richter zwischen 1962 und 2012 verfassten keine abweichende Meinung. Anders ausgedrückt, die errechneten 2,4 % sind näher an den Kolleginnen und Kollegen am US Supreme Court (sämtliche Mitglieder machen von abweichenden Meinungen Gebrauch), als an der Bundesrepublik, wo zwischen 1970 und 2007 20 % der Mitglieder in ihrer Amtszeit ohne abweichende Meinung auskamen.

Anhand ihrer Interviews lassen sich Selbstzuschreibungen der Mitglieder des Verfassungsgerichts erkennen, die über Gesetzestexte, Geschäftsordnungen und Entscheidungen hinausgehen. Dies bringt sehr erhellende Einsichten in die tatsächlichen Prozesse, Hindernisse und Besonderheiten der Entscheidungsfindung. Ferner erfahren wir, dass die Befragten abweichende Meinungen als probates sowie absolut legitimes Mittel betrachten und somit der individuellen Spruchkompetenz eine eindeutige Relevanz zuschreiben. Dies ist auch insofern interessant, weil sie in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht sogar Widerspruch, zum grundlegenden Verständnis des Verfassungsgerichts als (einheitlicher) Spruchkörper steht.

Als ein weiteres Hindernis für eine gemeinsame Entscheidungsfindung im Sinne einer In-medio Struktur betrachtet sie die Personenzahl im Gericht. Während eine Gruppengröße von fünf oder sieben Richterinnen und Richter ideal sei, werden größeren Gruppen kognitive und zeitliche Überforderung attestiert. Bis 1982 umfasste das türkische Verfassungsgericht 15, fortan elf Mitglieder, was eine gemeinsame Entscheidungsfindung naturgemäß erschwert. Auch die kurzen Amtszeiten – zwar waren die Richterinnen und Richter auf Lebenszeit ernannt, mussten jedoch mit 65 Jahren in den Ruhestand treten – von durchschnittlich sechs Jahren und somit die personale Diskontinuität habe die Herausbildung von Kollegialitätsnormen und Kompromissbereitschaft gehemmt (S. 265).

Zum Abschluss entdeckt die Verfasserin in der Entscheidungsfindung ein „unauflösliches und sich gegenseitig verstärkendes Dilemma“, denn der auf Konsens angelegte Gesamtprozess wird durch die Mehrheitslogik (Regeln, Normen und Bedeutungssysteme) erschwert, weswegen gemeinsame Lösungen unrealisierbar erscheinen und abweichende Meinungen an Bedeutsamkeit gewinnen. Diese Annahme prüft sie anhand dreier ausgewählter Urteile (1979, 1995 und 1996) im Themenfeld Religionszugehörigkeit auf die Entscheidungsqualität. Die Auswahl ist besonders gut gelungen, da sich die Urteile einerseits im umstrittensten gesellschaftlich-politischen Konfliktfeld (Laizismus) bewegen. Andererseits zeigen die letzten beiden Entscheidungen, dass Urteile häufig mit knappen Mehrheiten entschieden werden und somit bereits der personelle Austausch – in diesem Fall zweier Mitglieder – zu einer umfassenden Wandlung der Rechtsprechung innerhalb weniger Monate führte. Obwohl der Prozess im Konsensverfahren eingebettet ist, sind eindeutig Konsequenzen der Mehrheitslogik in den Entscheidungen zu identifizieren, was wiederum zu einer inkonsistenten Rechtsprechung führen und auf das Prinzip der Rechtssicherheit destabilisierend wirken könne.

Zu kritisieren bleiben nur wenige Punkte. Zum einen ist die zuweilen fehlende Kontextualisierung politischer Ereignisse (z. B. die Vollstreckung der Todesstrafe 1972; S. 259) bedauerlich. Diese bleiben für Leserinnen und Leser, die nicht mit der politischen Geschichte der Türkei vertraut sind, kaum nachvollziehbar. Zum anderen wird die große Sorgfalt, mit der die Verfasserin vorgeht dann zum Nachteil, wenn vorläufige Ergebnisse (gelegentlich) redundant vorgetragen werden. Ferner entsteht in den geführten Interviews eine Asymmetrie, da mit Mitgliedern aus den ersten 17 (1962–1979) Jahren des Gerichts keine Gespräche möglich waren (S. 144). Das mag weder in der Hand der Verfasserin liegen noch wäre dies anderweitig zu kompensieren, aber bedauernswert ist dies allemal, da in dieser zeitlichen Periode das Gericht sowohl seine einflussreichste Phase hatte als auch im Hinblick auf die Pfadabhängigkeitstheorie möglicherweise der Grundstein für die zukünftige Arbeitsweise gelegt wurde.

Das Buch ist nicht nur Forscherinnen und Forschern zur Türkei dringend zu empfehlen, sondern darüber hinaus auch für Studien, die sich mit Verfassungsgerichten, ihren Entscheidungsfindungen und -logiken (komparativ) beschäftigen. Lange Zeit vernachlässigte die hiesige Politikwissenschaft die Auseinandersetzung mit staatsrechtlichen Fragen und scheint immer noch Verfassungsrechtlern das Feld zu überlassen. Indes sind Betrachtungen aus beiden Perspektiven, wie diese Arbeit exemplarisch darlegt, ein großer Gewinn für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Politikwissenschaft im Besonderen. Der Verfasserin kommt das Verdienst zu mit der Einzelfallstudie, diese Daten und Erkenntnisse veröffentlicht zu haben. Sie sind ein großer Fundus und werden zugleich als wichtige Quelle für künftige vergleichende Analysen im Gebiet zwischen Politik und Recht sein.

Über das Türkische Verfassungsgericht, seine Entscheidungs‑, Arbeits- und Funktionsweise war bislang insbesondere in der deutschsprachigen Forschung wenig bekannt. Dies ändert sich mit der vorliegenden Publikation, die für weitere, tiefergehende Arbeiten als wertvoller Bezugspunkt dienen wird. Wer sich mit Verfassungsgerichten im Allgemeinen und dem türkischen im Speziellen auseinandersetzen möchte, kommt an diesem Werk nicht vorbei.