Gut dreißig Jahre ist es her, seit Hans Magnus Enzensberger (1987) in seinem Band „Ach Europa!“ die Schwierigkeiten beschrieb, einen Kontinent in seiner ganzen Komplexität in literarischer Form adäquat darzustellen. Die Zukunft Europas liege, so Enzensberger, nicht in der Stärkung der unionalen Ebene, sondern in der Bewahrung des Stimmengewirrs der unterschiedlichen Kulturen und Traditionen.

1 I

Der hier zu besprechende Band setzt zwei Jahre nach Enzensbergers Buch ein, nämlich mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ in den Jahren ab 1989. Er bildet den fünften und letzten Teil des von Peter Brandt, Werner Daum, Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch herausgegebenen „Handbuchs der europäischen Verfassungsgeschichte im 20. Jahrhundert“, das im Auftrag des Historischen Zentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Instituts für Europäische Verfassungsgeschichte der FernUniversität Hagen erarbeitet wird. Je nach Verfasser(in) behandeln die Beiträge die Zeit bis 2019 oder bis kurz davor. Der Eindruck ist überwältigend: Sowohl die unionale Ebene als auch das Stimmengewirr wurden stärker, könnte man mit Enzensberger sagen. Das betrifft zum einen das Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung und der Ausbildung einer supranationalen Verfassungsebene, dem das Interesse der Herausgeber Arthur Benz, Stephan Bröchler und Hans-Joachim Lauth gilt. Er tangiert aber auch die immer unklare Definition dessen, was eigentlich unter „Europa“ und seiner Verfassungsgeschichte zu verstehen ist. Die Herausgeber skizzieren ihren Europabegriff wie folgt: „die grundlegenden Ordnungsprinzipien und Formen einer Herrschaftsordnung einschließlich deren faktischen [sic!] Ausprägung“ (S. 9). Sie behandeln das gesamte „geografische“ Europa, zu dem auch die Türkei und Russland gerechnet werden, die – so die Herausgeber – den europäischen Raum „überschreiten […], aber nach historischen und politisch-kulturellen Kriterien zu Europa gerechnet und damit auch in diesem Band berücksichtigt“ werden (S. 11). Als „Raum zwischen Europa und Asien“ (S. 11) werden darüber hinaus die zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion vorgestellt. Zwei weitere Kapitel gelten einerseits dem Europarat (als Internationaler Organisation) bzw. seiner europäischen Menschenrechtskonvention (von Ralf P. Schenke und Jan Weismantel) und andererseits der Europäischen Union, die von Peter Schiffauer in relativ umfassender Hinsicht behandelt wird. Das von ihm verwendete, von den Herausgebern erarbeitete Prüfschema (Verfassungskultur und politische Kultur, Regierungssystem, Parteien/Verbände/Zivilgesellschaft/Medien, Wahlen und Bürgerbeteiligung, Grundrechte, Verwaltung, Justiz, Militär, Kirchen und Religionen, Bildungswesen, Geld und öffentliche Finanzen, Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung nebst Umweltpolitik) wird dann auch den „Länderkapiteln“ zugrunde gelegt. Das einheitliche Gliederungsschema soll einen vergleichenden Zugang zur europäischen Verfassungsentwicklung erlauben und – laut Klappentext – zukünftige komparatistische Forschungen erleichtern.

Um es konkret zu machen: Der Band analysiert in 48 Länderbeiträgen die Verfassungsentwicklung in 55 Staaten, von denen einige „Kleinstaaten“ (Andorra, Liechtenstein, Malta, Monaco, San Marino, Vatikan) in einem gemeinsamen Kapitel untersucht werden (Stephan Bröchler und Michael Strebel) ebenso wie die „Zentralasiatische[n] Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan; dargestellt von Beate Eschment und Maksat Kachkeev). Ein Anhang (Redaktion: Werner Daum) und ein Abbildungsnachweis runden das Buch ab.

Die Verfasser legen in der konkreten Ausgestaltung durch das Prüfschema einen sehr weiten Verfassungsbegriff zugrunde. Er ist in dieser Konkretheit sogar noch weiter als derjenige, der in den früheren Bänden dieser Reihe gewählt wurde (und der das gesamte rechtliche Regelungsgefüge des ‚materiellen‘ Verfassungsrechts einbezog, was beispielsweise in Bezug auf das Vereinigte Königreich wichtig war). Nunmehr geht es neben formalen und materiellen Aspekten auch um „die faktische Ausprägung der Verfassungen“, also gleichsam um die constitution in the books und constitution in action. Wer sich dabei an den „Governance“-Begriff bzw. an die vergleichende Regierungslehre erinnert fühlt, liegt nicht falsch, haben die Herausgeber doch auch schon Bücher zu diesen Themen publiziert.

In der Breite des Zugangs liegt, um es vorweg zu nehmen, ebenso der Vorzug des Handbuchs wie auch die Schwierigkeiten, auf die derjenige stößt, der das Buch als Ganzes lesen will – das „Stimmengewirr“ wird, um Enzensberger noch einmal zu zitieren, doch etwas groß, wenngleich das einheitliche Prüfschema sehr hilft. Und die Aufnahme jedes Staates außerhalb der Europäischen Union oder des europäischen Kontinents (dessen Grenzen bekanntlich ebenso durch die Türkei wie durch Russland verlaufen) wirft wiederum die Nachfrage nach einem weiteren Staat auf. Wenn man auch politisch-kulturelle Kriterien berücksichtigt: Was ist beispielsweise mit Israel, das ja bei sportlichen wie musikalischen Wettbewerben durchaus zu „Europa“ gerechnet wird und das zumindest über einen Beobachterstatus im Europarat verfügt?

2 II

Nichtsdestoweniger ist der Lesegewinn des Bandes enorm: Dreißig Jahre der „ever closer union“ (Art. 1 EU-Vertrag), der Finanzkrise und zuletzt der Diskussion um den „Brexit“ haben zumindest in Westeuropa in Vergessenheit geraten lassen, dass im Laufe dieser Zeit in einigen der behandelten Territorien noch Krieg herrschte (etwa in Kroatien, Bosnien[-Herzegowina] und dem Kosovo, dazu die Beiträge von Sören Keil/Senada Šelo Šabić, Florian Bieber und Michael Schmidt-Neke) und dass Frieden eine keineswegs selbstverständliche Errungenschaft ist, wie etwa die Beiträge von Christoph H. Stefes, Yevgenya Paturyan und Mariella Falkenhain zu Armenien und von Zaur Gasimov zu Aserbaidschan zeigen.

Ebenso deutlich wird, dass große Hoffnungen, tiefe Enttäuschungen, Krisen (wie der Anschlag auf das World Trade Center von 2001 und die Finanzkrise von 2008/2009) die letzten dreißig Jahre „in Europa“ geprägt haben. Dass es letztlich doch vielen Staaten gelungen ist, enorme Reformprojekte zu schultern, macht der Band beispielsweise in dem Beitrag von Gustav Auernheimer zu Griechenland deutlich, wenngleich das Kapitel zu Zypern von Heinz A. Richter direkt im Anschluss daran verdeutlicht, wie fragil die vorsichtige Annäherung zwischen Griechenland und der Türkei (zu ihr Taylan Yıldız) nach wie vor ist.

Interessant ist die Stellung der Bundesrepublik Deutschland (zu ihr Arthur Benz) an der Schnittstelle zwischen den westlichen europäischen Nationen, deren „Verfassungs-“ (oder zumindest Verwaltungs-)geschichte immer wieder mit dem Begriff des „New Public Management“ beschrieben wird bzw. mit der Deregulierung des öffentlichen Sektors (die natürlich auch die postsozialistischen Staaten betraf und dort noch viel tiefgreifender war), und der realsozialistischen Vergangenheit der fünf neuen Bundesländer.

Viele der Konfliktlinien, die uns derzeit eindrücklich vor Augen stehen sind demgegenüber eher Entwicklungen der jüngeren Zeit und fallen fast schon wieder aus dem Band heraus. So konnten die Herausgeber und Verfasser die COVID19-Pandemie und deren Folgen ebenso wenig thematisieren wie den Austritt Großbritanniens aus der EU – der Begriff „Brexit“ taucht im Artikel von Stefan Schieren über Großbritannien und Nordirland nur an einer Stelle auf, an der auf das Urteil des Supreme Court vom 24. Januar 2017 eingegangen wird, der die Kompetenz des britischen Parlaments zur Abstimmung über den „Brexit“ akzentuierte; auch im Beitrag von Christoph Haas zur Verfassungsgeschichte der Republik Irland wird er nur kurz angesprochen. Schierens Beitrag ruft allerdings in Erinnerung, dass die Politik der Grenzüberschreitungen und der Aufkündigung jahrhundertealter Gepflogenheiten, die für die britische Verfassungswirklichkeit (mangels geschriebener Verfassung) besonders wichtig sind, nicht erst in den letzten fünf Jahren begann, sondern schon unter der Regierung Margaret Thatchers. Dass das Ganze später eine Zentrifugalkraft entfalten könnte, war seinerzeit nicht vorauszusehen, wurde aber vermutlich in Kauf genommen.

Eingeordnet wird der Brexit allerdings trotzdem: An verschiedener Stelle thematisiert der Band das Aufkündigen von Kompromissen, die bislang die Verfassungswirklichkeit prägten, so auch in der Schweiz, deren Verfassungsentwicklung von Andreas Kley dargestellt wird. Konkordanz und Konsens sind, wie auch der Artikel von Karin van Leeuwen zu den Niederlanden zeigt, auf dem Rückzug.

Doch woher kommt diese neue Unerbittlichkeit? In den osteuropäischen Staaten prägt, so der Beitrag von Michael Hein über Rumänien, ein merkwürdiges Amalgam eines Misstrauens gegen den Staat bei gleichzeitigen Heilserwartungen an diesen (in Form sozialer Sicherheit und materieller Zuwendungen) die politische Kultur.

Das sind alles sehr instruktive Leseeindrücke eines reichhaltig gefüllten Bandes. Überdenkenswert scheint allerdings die Reihenfolge, in der die Staaten behandelt werden. Deren Logik erschließt sich nicht ganz und ist vielleicht durch eine Kontinuität zu den früheren Bänden der Reihe zu erklären (sonst hätte es sich beispielsweise angeboten, mit den Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anzufangen – oder ganz im Norden, also in Finnland, oder aber ganz im Süden, Westen oder vielleicht sogar Osten).

3 III

Was bleibt? Zunächst einmal eine nahezu einmalige Fülle an Informationen über „Europa“ nach 1989. Eine Bündelung der Erkenntnisse aus den Länderberichten unternimmt zudem das 160 Seiten lange Einleitungskapitel, in dem (nach einer editorischen Vorbemerkung der Herausgeber) zunächst die Grundlinien der sozialökonomischen, sozialkulturellen und gesellschaftspolitischen Entwicklung in Europa von Hans-Joachim Lauth herausgearbeitet werden. Sodann skizziert Arthur Benz die außereuropäische Verfassungsentwicklung, auch im Sinne übergreifender Trends. Die eigentliche Synthese des Bandes bildet dann das dritte Unterkapitel der Einleitung, nämlich die von den drei Herausgebern Arthur Benz, Hans-Joachim Lauth und Stephan Bröchler vorgenommene Analyse der „Verfassungsentwicklung in Europa seit 1989: Eine vergleichende Synthese der Strukturen, Prozesse und Veränderungen“. Diese findet sich etwas versteckt zwischen der außereuropäischen Verfassungsentwicklung und dem Unterkapitel zum „Europäische[n] Verfassungsdenken“ von Claus Dieter Classen. Diese Bescheidenheit, mit der die eigentliche Synthese versteckt wird (in den früheren Bänden dieser Reihe gab es immer auch stärker abstrahierende Kapitel neben den Länderberichten) ehrt die Herausgeber, die sich von ihrem Band laut Klappentext versprechen, dass dieser ein Steinbruch für weitere Forschungen sein möge – sie wird der enormen Leistung, die der Band darstellt, jedoch nur teilweise gerecht und hätte aus Gründen der Übersichtlichkeit direkt hinter das Methoden(unter)kapitel (oder ganz ans Ende des Handbuchs) gehört. Hier kann man schon fast von falscher Bescheidenheit sprechen, denn die Herausgeber synthetisieren durchaus (wenn auch nicht abschließend) die sich aus dem Band ergebenen Erkenntnisse.

Die Gesamtbilanz lautet also: Was für ein Werk! Gewaltig, fast schon erdrückend, sehr umfassend und zugleich instruktiv zu lesen. Die recht weiten „Verfassungs“- und „Europa“-Begriffe lassen einen als Leser(in) an der Fülle des Stoffs fast kapitulieren; sie werden sich aber als äußerst hilfreich für die weitere politikwissenschaftliche und verfassungsvergleichende Forschung erweisen.

Ach, Europa!