In der Fachdiskussion zur Kinder- und Jugendhilfe wird in den letzten Jahren intensiver über eine rechtebasierte Grundorientierung gesprochen. Auch in dem aktuellen Reformprozess zur inklusiven Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe und der entsprechenden Gesetzesreform – so z. B. im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) – ist von einem rechtsbasierten Ansatz die Rede, der diese Reform charakterisieren solle.

Kern einer rechtebasierten Kinder- und Jugendhilfe ist es, dass Kinder und Jugendliche als Grundrechtsträger nicht nur anerkannt werden, sondern es ihnen ermöglicht wird, ihre Rechte wahrzunehmen und Infrastrukturen geschaffen werden, durch die die Rechte junger Menschen verwirklicht und Machtasymmetrien abgebaut werden. Dabei geht es auch darum, Verfahren zu etablieren, durch die – soweit notwendig – auch gegen die Praktiken der Kinder- und Jugendhilfe und anderer Institutionen von Kindheit und Jugend Rechte junger Menschen durchgesetzt werden.

Bezugspunkt der Diskussion um eine rechtebasierte Kinder- und Jugendhilfe sind vor allem supranationale Abkommen wie die UN-Kinderrechtekonvention (UN-KRK) und die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen (UN-BRK) sowie europäische Abkommen zu den Rechten junger Menschen, die vor allem den subjektiven Rechtsstatus von jungen Menschen stärken. Diese Rechte sind nahezu durchgängig in Deutschland geltendes Recht und sie fordern dazu auf, auch jenseits aller Pädagogik und unabhängig davon den subjektiven Rechtsstatus von jungen Menschen anzuerkennen und zu stärken.

Dennoch kann nicht davon gesprochen werden, dass gegenwärtig eine rechtebasierte Perspektive den Alltag der Kinder- und Jugendhilfe bestimmt. Untersuchungen zur Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch zu anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, des Bildungswesens und der Kinder- und Jugendpolitik zeigen, dass die Rechte junger Menschen nicht umfassend und selbstverständlich im Alltag verwirklicht werden. Gerade in Krisenzeiten – so zum Beispiel während der Corona-Pandemie – wurde offensichtlich, dass die Rechte der jungen Menschen hinter anderen politischen Rationalitäten und Interessen zurückgestellt werden und ihre Verwirklichung nicht krisenfest verankert ist.

Mit dem Fokus auf eine rechtebasierte Grundorientierung wird damit in den Vordergrund gerückt, dass nicht nur der Maßstab fachlichen Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch im institutionellen Gefüge von Kindheit und Jugend generell die Verwirklichung der sozialen und persönlichen Rechte junger Menschen sein muss und darum das Verhältnis der subjektiven und kollektiven Rechte junger Menschen zu den Infrastrukturen, die sie vorfinden, um diese verwirklichen zu können, überprüft und die Infrastrukturen entsprechend weiterentwickelt werden müssen. So hat das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21) bspw. am 19. November 2021 in Bezug auf die Corona-Regulation im schulischen Kontext festgestellt, dass Bildung in einer bestimmten Qualität anzubieten sei und damit systematisch das Recht der jungen Menschen in Verhältnis zur Qualität der Bildungsinfrastruktur gesetzt.

Der Fokus wird in diesem Zusammenhang zukünftig auch auf die Rechtsdurchsetzung und die Formen der Beschwerde in den Infrastrukturen zu richten sein. Die bisherigen Erfahrungen der Ombudschaften und die Aufarbeitungen von sexualisierter Gewalt zeigen deutlich die Machtasymmetrien, die die empirische Verwirklichung der Rechte der jungen Menschen weiter überlagern und behindern.

Wichtig wird es ebenfalls sein, eine systematische Förder- und Beteiligungsstruktur von Selbstvertretungen junger Menschen durchgängig aufzubauen und zu etablieren. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz hat hier einen kleinen Anfang gemacht, in dem es die Selbstvertretungen (§ 4 SGB VIII) in das SGB aufgenommen hat. Doch es wird grundsätzlich strukturell gefordert sein, Selbstvertretungen als weitere Säule systematisch als kollektive und zivilgesellschaftliche Formen der Beteiligung – vergleichbar mit den freien Trägern und Fachverbänden – in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch im institutionellen Gefüge von Kindheit und Jugend zu etablieren und zu fördern.

Zudem wird die inklusive Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe noch mehr die Frage in den Vordergrund rücken, wie eine diskriminierungsfreie Teilhabe aller jungen Menschen verwirklicht werden kann. Dazu erscheint es auch notwendig, die jungen Menschen mehr in die Politikberatung einzubeziehen, um zu diskutieren, wie die subjektiven und kollektiven Rechte junger Menschen auch rechtlich weiter gestärkt werden können, um ihnen eine diskriminierungsfreie soziale Teilhabe zu ermöglichen, damit sie „in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt […] interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben können“, wie es im Kinder- und Jugendhilfegesetz im § 1 heißt.

Die Beiträge in diesem Heft nehmen in diesem Zusammenhang unterschiedliche Perspektiven in den Blick und arbeiten Ambivalenzen in der Verwirklichung der Rechte junger Menschen heraus:

  • Kathrin Aghamiri und Anne van Rießen zeigen am Beispiel der stationären Erziehungshilfe auf, dass eine rechtebasierte Kinder- und Jugendhilfe eine sozialpädagogische Nutzer_innenforschung geradezu braucht, um die Verwirklichung der Rechte junger Menschen differenziert diskutieren zu können.

  • Christine Lohn weist in ihrem Beitrag am Beispiel der Jugendsozialarbeit darauf hin, dass die Verwirklichung der Rechte junger Menschen, die geflüchtet sind, auch eine Menschrechtsbildung erfordert.

  • Yannick Hagemeier, Tanja Rusack, Mara Taphorn und Severine Thomas fragen danach, wie niedrigeschwellige Zugänge zur ombudschaftlichen Beratung geschaffen werden können.

  • In einem Interview mit Stephanie Landa, der Mitbegründerin des „Sisters Network“ in Hamburg, wird argumentiert, dass die Verwirklichung der Rechte ein Versprechen an alle jungen Menschen ist, sie darum mit ihnen verwirklicht werden müssen und vor allem nicht unterschiedliche Gruppen, z. B. von Geflüchteten, in der Förderung bevorzugt oder benachteiligt werden dürfen.

  • Schließlich schlagen Josef Koch, Tabea Möller, Severine Thomas und Wolfgang Schröer in einem Kommentar vor, einen Rechtsstatus „Leaving Care“ mit der Kinder- und Jugendgrundsicherung und der SGB VIII-Reform zu verankern.