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Im April 2021 starb Carl Wolfgang Müller, Nestor und Doyen der deutschen Sozialpädagogik. Im Frühjahr 2022 wurde bei Juventa posthum ein Band veröffentlicht mit dem prosaischen und zugleich programmatischen Titel „Die Zeiten ändern sich – wir ändern die Zeiten. Erinnerungen – Vermächtnis – Essays“. In einer Zeit rasender Dynamik und einer beinahe hysterischen Inflation drängender Transformations-Beschwörungen klingt dieser Titel fast ein wenig nach Krisen-Zeitgeist. Doch C.W. Müllers Botschaft in diesem Kompendium ist nicht defätistisch und schon gar nicht apokalyptisch. Er, der zwar ein Lehrender, jedoch kein Lehrer sein wollte (so die Herausgeberin Sabine Hering im Vorwort), formuliert auch in diesen „Vermächtnistexten“ eine klare Botschaft zu pragmatischer Verantwortlichkeit – das Gegenteil von Befindlichkeit, Larmoyanz und Apokalypse.

Der Band ist in drei Teile gegliedert: Es geht um das Leben C.W. Müllers („Erinnerungen“), sein professionelles Lebenswerk („Vermächtnis“) und in seinen „Briefen aus Berlin“ um aktuelle analytische Reflexionen zu ausgewählten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen in seiner Heimatstadt Berlin („Essays“).

Die erinnernde Beschreibung seiner biografischen Wege (1928 bis 1965) beginnt C.W. Müller mit seinen Kindheitserfahrungen in Chemnitz und Dresden. Seinem politisch aufgeklärten und familiär liberalen Elternhaus kommt eine große Bedeutung zu. Der Vater, Ökonom und Sozialdemokrat, wird verfolgt und verhaftet im NS-Deutschland und später auch in der DDR. Die Mutter, Hutmacherin und Modeschöpferin, betreibt einen „… mondänen Modesalon in der Prager Straße in Dresden“. Eine lebensbedrohliche Herzerkrankung als Zehnjähriger mit langwierigen Krankenhausaufenthalten beschreibt der Autor mit großer Offenheit und lässt erahnen, wie diese gesundheitliche Grenzerfahrung in jungen Jahren seine spätere professionelle Haltung als Pädagoge geprägt hat. Ebenso wie auch die Erfahrungen als Student aus Sachsen (mit offenkundig nicht zu leugnender Mundart) im Berlin der 50er-Jahre, wo er an der Freien Universität studierte. Ein inspirierendes Auslandsstudium in Basel, manche Prüfungswirren und auch die mikropolitischen Unwägbarkeiten eines Promotionsvorhabens beschreiben die Suche eines jungen Mannes nach seinem Platz im Leben. Auch die fragile Jobsituation in den 50er-Jahren in (West‑)Berlin, in der C.W. Müller als Redenschreiber für Willy Brandt, als wichtiger Protagonist in der Szenerie des politischen Kabaretts der Stadt und als freier Journalist u. a. beim SPIEGEL arbeitete, sind Wegmarken dieser Suche nach seiner eigentlichen Berufung. Dazu passt auch, dass Müller als promovierter Theater- und Publizistikwissenschaftler – eher überraschend – eine feste Anstellung zuerst als Jugendpfleger, dann als Dozent und Leiter in einer wegweisenden sozialpädagogischen Einrichtung der Berliner Jugendarbeit im „Haus am Rupenhorn“ bekam und dort mit großer Begeisterung und wahrgenommenem Erfolg mit dieser Arbeit seine professionelle Identität fand. Ein Stipendium der Harkney Foundation und des Berliner Senats ermöglichten ihm Anfang der 60er-Jahre einen mehrjährigen Studien- und Forschungsaufenthalt in den USA. Dabei beeindruckten und prägten ihn insbesondere die aktuellen Konzepte der Sozialpsychologie (in der Nachfolge Kurt Lewins), der Gruppenpädagogik (Gisela Konopka) und der Community Organization (Harry Specht), mit denen er sich sowohl an der Ostküste (Columbia University, MIT) aber auch an der Berkley University in Kalifornien intensiv beschäftigte. Nach seiner Rückkehr aus den USA wurde er 1965 zum Professor für Sozialpädagogik an die Pädagogische Hochschule in Berlin berufen. Diese Profession – später am Institut für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin, dessen langjähriger Institutsleiter er war – verfolgte er bis weit über seine Emeritierung hinaus.

Mit wohltuender sprachlicher Klarheit sowie sehr persönlichen Bildern beschreibt Müller seine vielschichtigen Lebenserinnerungen entlang der deutschen Geschichte. Und er vermittelt zwischen den Zeilen die ebenso subtile wie beeindruckende Botschaft, dass die Laufbahn eines bedeutenden Pädagogen und geschätzten Hochschullehrers nicht zwangsläufig an eine am akademischen Reißbrett geplante universitäre Kaminkarriere gebunden sein muss. Vielmehr beschreibt Müller seine eigenen tastenden und gleichzeitig neugierigen und pragmatisch-offenen Suchbewegungen. Dass diese ungewöhnliche akademische Laufbahn auch besondere Spuren in der Art und Form seiner wissenschaftlichen Arbeit in Lehre und Forschung hinterlassen hat, ist offensichtlich. Seine ihm von manchen Fachkollegen attestierte (zu) große Nähe zu reflektierter Praxiserfahrung, zu Methodik und dem „Handwerk“ Sozialer Arbeit bei gleichzeitig beständiger Skepsis gegenüber allzu blumigen Theorie-Diskursen, verschwurbelten Philosophie-Exegesen und einer ideologisch getriggerten Schulenbildung, ist ganz offensichtlich geprägt von dieser besonderen professionellen Laufbahn. Inwieweit die Um- und Neben-Wege des Jugendlichen, Studenten und Universitäts-Absolventen mit der inspirierenden und charismatischen Professionalität des späteren Hochschullehrers korrelieren, ist eine der nachdenkenswerten Fragen, die die Lektüre dieses Texts nahelegt.

Der zweite Teil des Bands versammelt einige ausgewählte Texte der Berufsgeschichte C.W. Müllers und beschreibt exemplarisch seine Position zur Entwicklung, zur didaktischen Gestaltung und zum möglichen Kanon einer Theorie der Sozialpädagogik als universitärem Studienfach in Deutschland. Dabei zeichnet C.W. Müller insbesondere die Geschichte des Instituts für Sozialpädagogik zuerst an der PH und später der TU Berlin nach und beschreibt die Bedeutung gesellschaftlicher, politischer und organisatorischer Entwicklungen, die auf das Fach einstürmten und dessen inhaltliches und methodisches Profil wesentlich prägten (Studentenproteste, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Feminismus, aber auch Änderungen bei den formalen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit wie Einrichtungen, Ämter, Fördertöpfe, finanzielle Ausstattung). Die Erkenntnis, dass Soziale Arbeit immer in einem spezifischen Umfeld stattfindet, dass praktisches Handeln, strategisches Planen und inhaltliches Nachdenken in einer permanenten Wechselbeziehung miteinander stehen, führte zur Entwicklung und Einrichtung sogenannter Theorie‑/Praxis-Seminare im Rahmen des Sozialpädagogik-Studiums, für die C.W. Müller leidenschaftlich plädiert – auch als pragmatische und demokratische Lehr‑/Lern-Alternative zu abstrakter Theorievermittlung. Ebenso programmatisch wie pragmatisch sind auch die weiteren hier versammelten Beiträge. Sie thematisieren die Lern-Haltung von Pädagogik-Studenten („Was man beim Studium verlernen muss“), die konkrete Praxis großstädtischer Jugendarbeit („… im Haus am Rupenhorn“), die Bedeutung von Strategie und Management im Rahmen von sozialpädagogischer Arbeit („Sozialmanagement“), den längerfristigen Blick auf die „Entwicklung der sozialen Arbeit seit 1945“ und das Leitthema C.W. Müllers, die professionelle Selbst-Instrumentalisierung von Pädagoginnen und Pädagogen („Menschenbildung als Lebensgestaltung“). C.W. Müller bleibt seiner Leitidee treu. Soziale Arbeit ist vor allem geprägt vom Tun. Sie ist Wissenschaft und Handwerk – letztlich eine praktische Anwendung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Diagnose- und Interventionskonzepte. In diesem Kontext ist Menschenbildung nicht zuerst eine Funktion pädagogischer Arbeit, sondern eine Form beruflicher Lebensgestaltung, die vor allem auch die eigene professionelle Selbstreflexion ins Zentrum rückt. Die Auswahl und das Arrangement dieser Texte, die C.W. Müller selbst als sein Vermächtnis kurz vor seinem Tod auf einem Papierstapel geordnet hat, skizzieren sein Bild der relevanten Determinanten Sozialer Arbeit. Die Beiträge beschreiben sowohl deren spezifische Bedeutung und inhaltlich-fachlichen Ansprüche als auch die systemischen Wechselwirkungen zwischen ihnen. So wird aus dieser Text-Sammlung ein konzeptionelles Vermächtnis.

Der dritte und letzte Teil des Buches ist die komplette Serie der sogenannten „Briefe aus Berlin“, die C.W. Müller zwischen 2016 und 2021 regelmäßig in einer eigenen Kolumne der Zeitschrift „Sozial Extra“ veröffentlicht hat. Diese Briefe, kleine schnittige Essays, sind Beiträge, Gedanken und Gefühle zu ausgewählten und meist exemplarisch-symbolträchtigen gesellschaftlichen, kulturellen, organisatorischen Artefakten, Entwicklungen und Strukturen in Berlin und im benachbarten Brandenburg. In diesen Briefen analysiert C.W. Müller zugeneigt und analytisch-sezierend zugleich den Zeitgeist, die strukturellen Dynamiken und Gegebenheiten seiner Heimatstadt und wägt deren Bedeutung – auch hinsichtlich möglichem sozialpädagogischen Handeln.

Das mit diesem Buch vorgelegte „Vermächtnis“ eines prägenden und wirkmächtigen pädagogischen Geistes ist eine schillernde Biografie vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte. „Nein! Nie hätte ich Lehrer werden wollen. Weder an einem Gymnasium noch an einer Universität. Was ich wirklich gelernt habe, habe ich erst nach der Schule gelernt …“ schreibt C.W. Müller. Trotz – oder gerade wegen – dieser Haltung und mit diesem Lebensweg wurde er einer der wichtigsten Protagonisten der deutschen Nachkriegspädagogik. Für mich ein Beleg, dass biografische Um-Wege, Brüche, Hindernisse, Erfahrungen des Scheiterns nicht selten prägende Lebenserfahrungen liefern, Positionen schärfen, Resilienz steigern, den Blick weiten und vielschichtige Persönlichkeitsprofile zu entwickeln vermögen. Kein Schaden für professionelle soziale Akteure.

Diese fast schon prosaische Textsammlung ist Geschichte der universitären Sozialpädagogik, Autobiographie eines fachprägenden Pädagogen und Reflexionsplattform für professionelle Identität zugleich. Leben und Lebenswerk hängen unmittelbar zusammen, nicht nur bei C.W. Müller. Ein warmherziges und kluges Vermächtnis, das zentrale Positionen des Autors expliziert, Hintergründe seines Wirkens erhellt, Zusammenhänge seines Denkens herstellt und zudem auch Hinweise gibt, dass im reichhaltigen Archiv dieses Lebenswerkes noch lange nicht alles ergründet sind. Mein Fazit: Für angehende, praktizierende, lehrende und ehemalige Sozialarbeiter_innen und -pädagog_innen unbedingt lesenswert!