figure a

Die Geschichte der Sozialen Arbeit in den ersten Jahren nach dem Ende des Nationalsozialismus sei die einer ungenützten Chance für einen grundlegenden Neuanfang gewesen, so Manfred Kappeler (vgl. ders. 2022:20) im ersten Teil des Doppelbandes, der sich an die 2019 veranstaltete Jahrestagung der AG „Historische Sozialpädagogik/Soziale Arbeit“ anschließt. Während im ersten Band ideologischen und biografischen Kontinuitäten wie auch Brüchen in der Sozialen Arbeit der (frühen) Nachkriegszeit nachgespürt wurde, lenken die vorliegenden 17 Beiträge die Aufmerksamkeit auf fortbestehende Deutungsmuster und Handlungsformen in unterschiedlichen Institutionen, zentralen Praxisfeldern und Fachschulen der Sozialen Arbeit, die sich mit jeweils „spezifische[n] Elemente[n] der […] Diskontinuität mischten“ (S. 10).

Holger Wendelin beschäftigt sich zu Beginn des Kapitels Kontinuitäten und Diskontinuitäten in einzelnen Anstalten und Arbeitsfeldern mit dem zeitweise größten evangelischen Träger für Erziehungshilfe, den „Düsselthaler Anstalten“. Wenngleich der Verfasser feststellt, dass die Personen auf der Leitungsebene „wesentlichen nationalsozialistischen Orientierungen wie dem Nationalismus, Völkischem Gedankengut, Bewahrungsgedanke und Selektion“ (S. 28) zustimmten, resümiert er, dass für diese im Unterschied zum Lehrpersonal keine besondere Nähe zum Nationalsozialismus auszumachen sei (vgl. S. 32). Reinhard Neumann zeichnet die Geschichte der Neinstedter Anstalten zwischen 1941 und 1953 nach, denen neben einer Einrichtung der Behindertenhilfe das Knabenrettungs- und Brüderhaus Lindenhof zuzurechnen war. 1943 war ein Großteil der Schutzbefohlenen in die Landesheilanstalten Altscherbitz und Uchtspringe verlegt worden, in denen etliche kurz nach ihrer Ankunft verstarben. Nach der Gründung der DDR verblieben die Einrichtungen fast durchgängig in konfessioneller Trägerschaft. Der instruktive Beitrag von Ingo Harms über den Landesfürsorgeverband Oldenburg (LFV) widmet sich dem Zusammenhang zwischen den im Nationalsozialismus durch die drastische Reduzierung der Pflegekosten erzielten Gewinnen, der „Hunger-Euthanasie“ und der erfolgreichen Expansion des Unternehmens. Annerose Siebert stellt ausgewählte Befunde der einschlägigen Studie „Heimkinderzeit in der katholischen Behindertenhilfe“ vor, die den von regelförmiger Gewalt und Viktimisierung geprägten Alltag der ehemaligen Bewohner*innen auszuleuchten vermag. Jürgen Eilert belegt anhand von zwei Stellungnahmen des Kinder- und Jugendpsychiaters Stutte, dass die „ärztlich-gutachterliche Praxis im Grenzgebiet zwischen Jugendfürsorge und Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (S. 82) noch in den 1960er-Jahren von einem eugenischen Menschenbild bestimmt wurde.

In das Kapitel Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Nachkriegszeit leiten Rita Braches-Chyrek und Julia Gottschalk mit ihrem Beitrag zu Kindheitsverläufen in dieser Zeit ein. Es wird ein differenziertes Bild kindlicher Erlebens- und Handlungsräume gezeichnet und auf die Gleichzeitigkeit von veränderten generationalen Arrangements, die Kindern (auch) neue Freiräume eröffneten und tradierten Familien- und Erziehungsidealen, auf die professionelle Deutungen von Kindheit aufsetzten, aufmerksam gemacht. Melanie Oechler beschäftigt sich mit den von der US-Militärregierung gegründeten „GYA“-Heimen, die historisch den Beginn Offener Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland markieren und geht der Frage nach, inwiefern Jugendarbeit in der Nachkriegszeit neben der hiermit verbundenen konzeptionellen Neuausrichtung auch von Kontinuitäten geprägt war. Norman Böttcher rückt die Entwicklung jüdischer Jugendarbeit bis zum Beginn der 1970er-Jahre in den Blick und begegnet damit bisherigen Auslassungen in der Fachhistoriographie Sozialer Arbeit. Die zunehmend an Bedeutung gewinnende Jugendarbeit in den jüdischen Gemeinden richtete sich an Adressat*innen, die sich vielfältigen Konfliktlagen ausgesetzt sahen und es entstanden politische „Gegen-Orte“, an denen sich „[…] fortschrittliche Vorstellungen der Selbstorganisation und -artikulation entwickeln konnten“ (S. 132).

Anne Hans untersucht in dem ersten Aufsatz des Abschnitts Kontinuitäten im Umgang mit „asozialen“ Jugendlichen in Ost und West den Jugendhilfediskurs der Nachkriegszeit, in dem „Unerziehbarkeit“ als primäres Problem konstruiert wurde. Claudia Streblow-Poser verweist auf Kontinuitäten sozialrassistischer Zuschreibungen innerhalb der Familienfürsorge, die im Sinne „zeitspezifisch (noch) kollektiv geteilte[r] Vorstellungen“ (S. 160) auch nach 1945 virulent blieben. Dass die Praxis der „Bewahrung“ in der Hamburger Sozialbehörde trotz fehlender Rechtsgrundlage bis weit in die 1950er-Jahre hinein über das Vehikel der Entmündigung fortgesetzt wurde, dokumentiert Christa Paul. Auf die Persistenz des Bewahrungsdiskurses und Kontinuitäten der Ausgrenzung macht auch Oliver Gaida anhand der Berliner Sozial- und Jugendfürsorge in der West- und Ostzone aufmerksam. Wiebke Dierkes beschäftigt sich mit der anhaltenden Stigmatisierung, Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von als „asozial“ und „arbeitsscheu“ etikettierten Personen in der DDR. Maria Meyer-Höger zeichnet dann die Entwicklung des „Jugendarrests“ nach, der 1940 per Verordnung eingeführt wurde.

In das letzte Kapitel, Von den Volkspflegeschulen zur Höheren Fachschule – inhaltliche Kontinuitäten zur NS-Zeit, neue Methoden und Reeducation, wird von Doris Neppert eingeführt. In der 1946 wiedereröffneten Wohlfahrtsschule Schleswig-Holstein mussten Schulleitung, Dozierende und Schüler*innen trotz der Mitgliedschaft in NS-Organisationen in der Regel nicht oder nur kurzfristig um ihre Weiterbeschäftigung oder Ausbildung fürchten. Die Teilnahme an Angeboten, die im Rahmen von Reeducation-Programmen stattfanden und die Implementierung von neuen Methoden in die Lehre deuten jedoch auch auf eine inhaltliche Neuorientierung hin so die Verfasserin. Dieter Röh, Barbara Dünkel und Friederike Schaak gewähren Einblicke in die geschichtliche Entwicklung der Sozialen Frauenschule und des Sozialpädagogischen Instituts in Hamburg. Es zeigt sich ein paradoxes Bild des Nebeneinanders von Lehrkräften, die kurz zuvor noch auf die NS-Volkspflege ausgerichtete Lehrinhalte vermittelten und anderen, die sich „für eine Neufindung der Profession“ (S. 254) einsetzten. Abschließend rekonstruieren Sandro Bliemetsrieder, Gabriele Fischer und Julia Gebrande Prüfungsfälle, die Schüler*innen der Sozialen Frauenschule Stuttgart in den Jahren 1946 und 1954 vorgelegt wurden und arbeiten heraus, dass sich Lehrinhalte zunächst stark auf rechtliche Bestimmungen orientierten, wohingegen die Bedeutung von pädagogischen Konzepten erst Mitte der 1950er-Jahre zunahm, als auch die fachliche Eigenständigkeit der Jugendfürsorge stärker betont wurde.

Geschichte ist nicht als „eindeutig und abschließend zu bestimmendes Gesamt von (historischen) Fakten, sondern als dynamisches Gebilde zu verstehen […]“ (Maurer 2009:147). Das „Gewesene“ kann dabei in dem Prozess der Annäherung an die Vergangenheit sichtbar gemacht, jedoch auch ausgeblendet werden. Mit der Veröffentlichung des Tagungsbandes war das Vorhaben verbunden, die bisher vorrangig in Einzeluntersuchungen erschlossene Phase „der“ Geschichte Sozialer Arbeit im Übergang vom NS-Regime bis in die frühe Bundesrepublik und DDR in den Blick zu rücken und Beiträge, die ideologische, personelle und institutionelle Kontinuitäten wie auch Neuorientierungen untersuchen, in einem (ersten) Gesamttableau abzubilden. Diesem Anspruch wird die Publikation zweifelsohne gerecht. Deutlich wird jedoch auch, dass sich, etwa in Bezug auf die historische Entwicklung Sozialer Arbeit in der DDR weitere (Forschungs‑) Fragen anschließen, denen nachgespürt werden muss. Der Doppelband leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Historiographie Sozialer Arbeit und liefert darüber hinaus wichtige Impulse für den aktuellen Fachdiskurs und die Reflexion heutiger professioneller Deutungen und Handlungspraxen.