Unsere Demokratie ist abhängig davon, dass es gelingt, sowohl den Interessen aktueller als auch künftiger Generationen gleichermaßen gerecht zu werden. Aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerks werden die Interessen junger Menschen in politischen Prozessen nur nachrangig berücksichtigt. Sollte sich dieser Trend nachhaltig bestätigen, steht unsere Gesellschaft vor einer Zerreißprobe. Ein Gespräch mit Yola Fanroth (Schülerin), Vincent Sipeer (Student) und Holger Hofmann (Deutsches Kinderhilfswerk).

FormalPara Holger Hofmann:

Während der Hochphase der Corona-Pandemie haben wir erlebt, dass Kinder nicht als Grundrechtsträger wahrgenommen wurden, die nach der UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Beteiligung haben, sondern, zugespitzt ausgedrückt, als Virenschleudern und Krankheitsüberträger_innen. Ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse wurden erst sehr spät, zu spät in den Blick genommen. Gleichzeitig wurden sie auf ihre Rolle als Schüler_innen reduziert, ihre Mitwirkung an Lösungen wurde von der Politik nicht angestrebt. Eine Ausnahme bildete die Schulleitline S 3, die unter Federführung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf entwickelt wurde. Yola, du warst eine der Jugendlichen, die an dieser Leitlinie mitwirken konnten. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

FormalPara Yola Fanroth:

Für mich war das eine sehr positive Erfahrung. Ich hatte eigentlich keine große Erwartungshaltung, sondern mich vor allem darüber gefreut, dass ich mitwirken darf und nach meiner Meinung gefragt wurde. Dabei habe ich sehr viel Neues gelernt und war positiv überrascht von der gemeinschaftlichen Arbeit mit den Erwachsenen, die ganz viele verschiedene Blickwinkel mitbringen. Am Ende war ich stolz, dass unsere Leitlinie von vielen Schulen genutzt wurde. Es macht für mich viel Sinn, dass Kinder und Jugendliche an Themen mitwirken, die sie selbst betreffen und erleben, wie ihre Mitwirkung eine Wirkung entfaltet.

FormalPara Holger Hofmann:

Wie wurde der Blinkwinkel der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt?

FormalPara Yola Fanroth:

Die ersten Vorschläge kamen von den Erwachsenen. Die Jugendlichen konnten jedoch sagen: „Das finden wir nicht gut oder wir haben etwas zu ergänzen“. Jedenfalls wurden wir als Expertinnen und Experten in eigener Sache angesehen und alle hatten dieselben Rederechte.

FormalPara Holger Hofmann:

Ich stelle mir vor, dass die medizinischen Aspekte für Kinder und Jugendliche mitunter schwierig nachzuvollziehen waren.

FormalPara Yola Fanroth:

Natürlich, manchmal war es schwer für mich, spezielle Inhalte zu verstehen, aber dann hat mir geholfen, dass ich eine Ansprechperson hatte, bei der ich nachfragen konnte und die mir es dann in Ruhe erklärt hat. Es war gut für mich, dass ich immer wieder gefragt wurde, ob ich Fragen habe. Alle wurden mitgenommen, egal welche Vorkenntnisse sie hatten und am Ende haben viele Jugendliche und Erwachsene hervorgehoben, dass ein gemeinsames Ergebnis geschaffen wurde.

FormalPara Holger Hofmann:

Das war aus meiner Sicht an dem Ergebnis sichtbar und es liegt nahe, dass dies dann auch die Akzeptanz unter denjenigen erhöht hat, die diese Leitlinie umsetzen müssen, also die Schülerinnen und Schüler selbst.

FormalPara Yola Fanroth:

Das sehe ich auch so und es wäre wichtig, wenn wir nicht nur in besonderen Situationen wie in so einer Krise Jugendliche beteiligen, sondern kontinuierlich. Vincent, du bist Vorsitzender des Dachverbandes der Kinder- und Jugendgremien in Thüringen. Du begleitest damit schon seit langem eine Form der kontinuierlichen Politikberatung. Wie erlebst du den Einfluss von Kindern und Jugendlichen auf die Politik der Erwachsenen?

FormalPara Vincent Sipeer:

Es gibt in Deutschland ungefähr 500 Kinder- und Jugendparlamente und nochmal 300 Kinder- und Jugendforen. Das zeigt, dass die Kinder und Jugendbeteiligung von unten nach oben wächst und darüber in den Kommunen und Landkreisen recht gut in der Fläche etabliert ist. Aber das sagt noch nichts über die Qualität aus. Du hast ja gefragt, ob die Beteiligung dort schon besonders gut klappt. Das würde ich verneinen. Oftmals sitzen die Kinder und Jugendlichen nur am Katzentisch, diskutieren für sich und werden nicht unmittelbar angehört, wenn Entscheidungen getroffen werden. Dabei wird das besondere Potenzial nicht erkannt, wenn Kinder und Jugendliche gleichberechtigt mit am Tisch sitzen. Die Ergebnisse von Politik, die Entscheidungen und Maßnahmen, werden bedarfsgerechter, die Akzeptanz ist größer und die Entscheidungen sind nachhaltiger, wenn man Kinder und Jugendliche mit an den Tisch bittet. Denn Kinder und Jugendliche haben ein besonderes Gespür dafür, was die Themen der Zeit sind und dafür was eine Kommune anpacken muss, um zukunftsfähig zu werden.

FormalPara Yola Fanroth:

Du warst selbst auch schon zu einem Hearing im Landtag eingeladen. Wie war das für dich?

FormalPara Vincent Sipeer:

Für mich persönlich, wie für den Dachverband der Kinder- und Jugendgremien Thüringen, war das etwas ganz Besonderes, zur parlamentarischen Anhörung eines Gesetzentwurfes eingeladen zu werden. In Thüringen gibt es 25 Kinder- und Jugendparlamente. Gemeinsam mit den Jugendverbänden haben wir als Türöffner darauf hingewirkt, dass das Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz in Thüringen vorsieht, junge Menschen in die Jugendhilfeausschüsse reinzubringen. Und seitdem sitzen im Landesjugendhilfeausschuss tatsächlich zehn junge Menschen. Die saßen da vorher nicht und wir waren sehr stolz darauf, dass heute Kinder und Jugendliche in diesem Gremium vertreten sind, in dem elementare Fachpolitik für junge Menschen gemacht wird. Persönlich betrachtet, war es für mich ein sehr bewegender Moment, weil ich dort als 17-jähriger mit sehr vielen Erwachsenen in einem Raum war, die alle viel erfahrener waren als ich. Dank der guten Vorbereitung unseres Statements für diese Anhörung habe ich mich so bestärkt gefühlt, dass ich dort auch überzeugend vortragen konnte. Ich denke rückblickend, das war ein Meilenstein, weil wir eben nicht am Katzentisch saßen, sondern direkten Einfluss hatten. Das sollte man Kindern und Jugendlichen bei allen sie betreffenden Themen gewähren.

FormalPara Yola Fanroth:

Ich frage mich, was man tun kann, dass solche Erfahrungen ganz viele andere Kinder und Jugendliche machen.

FormalPara Vincent Sipeer:

So wie ich das gerade in Thüringen erlebt habe, sind wir eine der ersten Generationen, die Beteiligungsräume in der Landespolitik, in den Kommunen, in den Landkreisen erkämpfen. Deshalb habe ich auch den Begriff „Türöffner“ gebraucht, weil die jugendfreundlichen Regelungen in den Sitzungen erst geschaffen werden müssen. Es geht jedoch nicht nur darum, Kinder und Jugendliche anzuhören, sondern man muss auch darüber nachdenken, wann fangen die Sitzungen an und wie lange dauern sie? Wo finden sie statt? Was sind eigentlich die Zugänge und können sich alle gut vorbereiten? Ich erinnere mich an ganz viele Vorbereitungen, etwa mit der Jugendamtsleiterin, in der wir uns gemeinsam durch einen Wust von Unterlagen gearbeitet haben. Das war für alle Beteiligten sicher anstrengend, aber nur so wird am Ende ein Schuh draus.

FormalPara Holger Hofmann:

Noch eine persönliche Frage, Vincent. Glaubst du, dass genau diese Verantwortung, die du da bekommen hast, dich angesteckt hat, weiterzumachen?

FormalPara Vincent Sipeer:

In den Beteiligungsnetzwerken in Thüringen haben wir innerhalb der letzten Jahre eine ganze Menge junge Leute mitten reingebracht ins Spiel, die haben Reden gehalten vor hundert Leuten. Das hätten sie sich selbst nie geträumt. Mich hat es bestärkt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig wachsen bei solchen Gelegenheiten eine ganze Menge persönliche Fähigkeiten und Kenntnisse und man traut sich mehr zu.

Holger, nach den Zahlen eures letzten Kinderreports sind es vor allem Haupt- und Gesamtschüler, die ihre Interessen nicht berücksichtigt sehen. Wie erklärst du dir, dass diese Gruppe sich außenvor fühlt und ist das nicht ein alarmierendes Ergebnis?

FormalPara Holger Hofmann:

Das ist ähnlich wie bei den Erwachsenen. Auch bei den Kindern und Jugendlichen haben viele das Gefühl, dass nur denjenigen zugehört wird, die sich gut ausdrücken können oder die über ihre Eltern Einflussmöglichkeiten haben. Und da sehen sich viele Gymnasiasten ganz vorne. Und noch etwas möchte ich hier anführen: Während früher die Straßenkindheit eine Unterschichtskindheit war, ist es heute die der Familien mit mehr Geld im Portemonnaie. Straßenkindheit ist hier in einem breiten Sinne zu verstehen. Arme Kinder und Jugendliche sind nicht nur weniger beim Spielen draußen anzutreffen, sondern auch weniger in der Musik- oder Kunstschule, in Vereinen aktiv. Und haben deshalb das Gefühl, überhaupt nicht mehr gesehen zu werden. Daher gilt es, Straßensozialarbeit, Angebote in belasteten Stadtteilen, niedrigschwellige Kunst und Kultur und attraktive Aufenthaltsorte für junge Menschen im öffentlichen Raum zu fördern.

FormalPara Yola Fanroth:

Und was hat das mit unserem Thema Politikberatung zu tun?

FormalPara Holger Hofmann:

Eine ganze Menge, weil der Weg zur politischen Mitbestimmung über die persönliche Selbstbestimmung führt. Wie sehr Kinder und Jugendliche in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu vertreten, Fähigkeiten wie Toleranz und Empathie zu entwickeln, hängt von ihrer sozialen Entwicklung ab. Wir haben vor einigen Jahren eine Umfrage unter amtierenden Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern gemacht und gefragt, was in frühen Jahren prägend dafür war, dass sie heute dieses Amt ausüben können. Es gab natürlich eine Reihe unterschiedlicher Antworten, aber fast alle haben geantwortet, dass ihnen früh zugetraut wurde bzw. sie die Möglichkeit dazu hatten, Verantwortung zu übernehmen. Beispielweise in der Schule oder im Verein.

FormalPara Vincent Sipeer:

Gleichzeitig sind in unseren Kinder- und Jugendparlamenten nach eurer eigenen Studie Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten zu finden. Wie erklärst du dir das?

FormalPara Holger Hofmann:

Kinder- und Jugendparlamente sind im günstigsten Fall in ein Netzwerk von unterschiedlichen Beteiligungsformaten eingebunden und in Kommunen zu finden, die beispielsweise auch in Kita und Schule auf Beteiligungsangebote achten. Weiterhin werden Kinder- und Jugendparlamente in der Regel von einer Fachkraft betreut. Alles Faktoren, die dazu führen sollten, dass keine soziale Selektion stattfindet. Würdest du zustimmen, Vincent, du bist da näher dran?

FormalPara Vincent Sipeer:

Aus meiner Sicht ist noch zu ergänzen, dass es auch auf ein eigenes Budget für Kinder- und Jugendparlamente ankommt, damit es nicht reine Debattierclubs sind und, dass in den gemeinsamen Gremien mit den Erwachsenen den jungen Menschen auf Augenhöhe begegnet wird.

FormalPara Yola Fanroth:

Was heißt das für dich?

FormalPara Vincent Sipeer:

Zunächst würde ich die Rolle der Erwachsenen in Gremien unterscheiden, in denen ausschließlich Kinder und Jugendliche sitzen, das ist bei Kinder- und Jugendparlamenten der Fall, und anderen Gremien, in denen sowohl junge Menschen als auch Erwachsene im besten Fall kollegial zusammenarbeiten. In Jugendgremien sollten Erwachsene beratend unterstützen und als Ermöglicher auftreten. Es sind dann im besten Fall Kinder und Jugendliche selbst, die die Tagesordnung schreiben, die durch die Sitzung führen und die Abstimmungen durchführen. In gemischten Gremien ist es komplexer. Dort sollten die Erwachsenen die Position von jungen Menschen empathisch nachvollziehen. Wenn Jugendliche mitwirken, sollte der Umgangston insgesamt weniger konfrontativ sein.

FormalPara Holger Hofmann:

Müssen die Erwachsenen in Kauf nehmen, dass die Beratungen mehr Zeit in Anspruch nehmen?

FormalPara Vincent Sipeer:

Nur auf den ersten Blick, denn maßgeblich ist das Ergebnis. Wenn der Auftrag klar ist, die Strukturen und die flankierenden Maßnahmen stimmen und bei allen Beteiligten die jugend- und partizipationsfreundliche Haltung stimmt, dann werden die Prozesse und die Ergebnisse eines Gremiums mit Jugendbeteiligung besser sein als jene eines vergleichbaren Gremiums ohne Anhörung und Beteiligung der Jugend.

Vielleicht sollten wir auch darauf eingehen, welche Themen mit Kindern und Jugendlichen besprochen werden können. Yola, du bist jünger als ich, wie sieht du das?

FormalPara Yola Fanroth:

Für mich lässt sich das nicht eingrenzen. Natürlich sollten es Themen sein, die Kinder und Jugendliche unmittelbar betreffen, aber in der Regel betrifft Kinder und Jugendliche schon heute fast alles, also Themen wie Schule, Freizeitgestaltung, Corona, Krieg oder es betrifft sie in der Zukunft. Dazu zählt der Klimawandel genauso wie das Thema Generationengerechtigkeit.

FormalPara Holger Hofmann:

Generationengerechtigkeit ist ein recht komplexes Thema. Meinst du, Kinder und Jugendliche haben Lust auf Diskussionen wie Rentenpolitik?

FormalPara Yola Fanroth:

Naja, das Thema ist für uns weit weg, aber ich frage mich, warum wir nicht in der Schule mehr darüber diskutieren. Es ist doch wichtig zu wissen, wie das im Alter funktioniert, was man dafür tun kann, dass man als Rentnerin nicht jeden Euro zweimal umdrehen muss.

FormalPara Vincent Sipeer:

Ich stimme dir zu. Es sollte keine Politikfelder geben, die allein Erwachsenen vorbehalten sind oder zu denen Kinder und Jugendlichen keine Meinung haben dürfen. Ich finde es wichtig, dass junge Menschen auch zu Themen wie Stadtplanung, Regionalplanung, Verkehrsplanung, die Aufstellung eines kommunalen Klimaplans einbezogen werden. Angesichts der mangelhaften Berücksichtigung der Kinder- und Jugendperspektiven in Bezug auf die Pandemie, die Klimakatastrophe oder die Verkehrswende muss jetzt insgesamt stärker über Jugendpolitikberatung nachgedacht werden. Ich fordere von der Verwaltung und der Politik daher, betroffene Fokusgruppen junger Menschen routiniert und ernsthaft einzubeziehen. Grundsätzlich sollte es mittlerweile „state of the art“ sein, dass politische Gremien, die kinder- und jugendrelevante Themen bearbeiten oder deren Entscheidungen ihre Belange tangieren, nicht mehr nur für Jugend Politik machen, sondern gemeinsam mit ihnen.

FormalPara Yola Fanroth:

Leider spürt man als Jugendlicher auch, dass Erwachsene unsere Meinung schlicht nicht ernst nehmen.

FormalPara Vincent Sipeer:

Bei Vorbehalten aufgrund von Kenntnissen und Fähigkeiten ist fraglich, ob es sich nicht auch schlicht um Adultismus handelt. Also Vorurteile gegenüber einer Person aus Gründen des geringeren Alters. Es gibt aber auch Strukturen, die eine Diskriminierung Jugendlicher produzieren und aufrechterhalten.

FormalPara Holger Hofmann:

Richtig, ein Beispiel dafür sind einseitige Rahmenplanungen der Kommunen. Nehmen wir die Verkehrsplanung. Für jede größere Kreuzung wird ein Gutachten zum Verkehrsfluss der Autos erstellt. Kinder, die Verkehrssituationen aufgrund ihrer Größe schwerer einschätzen können oder ungeduldig auf Mittelstreifen minutenlang warten müssen, werden dann gar nicht berücksichtigt, geschweige denn, dass man sich wirklich Gedanken darüber macht, wie sie beispielsweise im ländlichen Raum außerhalb der Schulzeiten von A nach B kommen. Bei der Stadtplanung insgesamt muss man festhalten, dass wir auch Rückschritte machen. Einen Rahmenplan für Spiel und Bewegung, in vielen Kommunen auch als Spielleitplanung bezeichnet, gibt es heute nur noch in sehr wenigen Städten und Gemeinden. Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hatten hier mal eine Vorreiterrolle. Davon ist nicht mehr so viel übriggeblieben. Die Bedürfnisse anderer Bevölkerungsgruppen als die der Kinder und Jugendlichen werden stärker bzw. verbindlicher von den Verwaltungen in den Blick genommen.

FormalPara Vincent Sipeer:

Vielleicht die Folge, dass sie nicht wählen und darüber Einfluss ausüben können. Yola, würdest du es begrüßen, wenn auf europäischer Ebene zur Wahl des Europäischen Parlaments oder zur Wahl des Deutschen Bundestages das Wahlalter abgesenkt würde?

FormalPara Yola Fanroth:

Ja, das würde ich total begrüßen, weil das ein Schritt zu einer generationengerechteren Gesellschaft wäre und damit Kinder das Selbstvertrauen entwickeln, eine eigene Meinung zu bilden. Ich finde das Argument, Jugendliche hätten noch nicht genügend Reife, nicht richtig. Das Wissen der Jugendlichen über Politik ist durch die Schule oft besser als bei Erwachsenen und wir diskutieren ja auch nicht darüber, ob man mit 90 noch genügend Sachverstand hat. Holger, wird das in dieser Legislatur kommen, was meinst du?

FormalPara Holger Hofmann:

Bei der Wahl zum Europäischen Parlament ist eine Wahlaltersabsenkung wahrscheinlich. So steht es im Regierungsprogramm und die Regierung kann das auch allein durchsetzen. Für die Bundestagswahl braucht es auch die Opposition, da hierzu das Grundgesetz geändert werden muss, und da bin ich sehr skeptisch.

FormalPara Yola Fanroth:

Gibt es für dich andere Dinge, die sich positiv hinsichtlich der politischen Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen entwickeln?

FormalPara Holger Hofmann:

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine breite Beteiligungslandschaft in den Kommunen herausgebildet, die durch landesweite Servicestellen in vielen Bundesländern und durch gesetzliche Grundlagen in einigen Bundesländern gestützt wird. Auch die Jugendstrategie der Bundesregierung, die seit einigen Jahren gibt, trägt Früchte. Beispielsweise gibt es jetzt auch in anderen Ministerien außerhalb des Jugendressorts Maßnahmen und Programme zur Jugendbeteiligung. Einen Jugendklimafonds oder jugendgerechte Informationen des Justizministeriums. Das Programm „Demokratie leben!“ des Jugendministeriums stärkt viele Projekte vor Ort, die helfen, Diskriminierung zu überwinden und dabei auf eine aktive Einbeziehung der Kinder und Jugendlichem setzen.

FormalPara Yola Fanroth:

Wo meinst du stehen wir in zehn Jahren, auf was kommt es besonders an?

FormalPara Holger Hofmann:

Die Beteiligungsangebote auf der kommunalen Ebene müssen bekannter gemacht werden, sie müssen breiter aufgestellt und besser vernetzt sein. Zudem sollten sie eine größere Wirkung nach oben, also in die Landes- und Bundesebene entfalten. Wir müssen dabei nicht unbedingt neue Instrumente erfinden. Wir haben Jugendbeauftragte, auch Vertrauenslehrer_innen an Schulen, wir haben Kinder- und Jugendparlamente oder Jugendverbände. Viele Kinder und Jugendliche kennen diese Angebote aber gar nicht, geschweige denn weiß der Vertrauenslehrer, an wen er eine Schülerin verweisen soll, die sich über ihren gefährlichen Schulweg beschwert oder die die Basketball-AG am Nachmittag nicht nutzen kann, weil kein Bus mehr fährt. Es gibt Kommunen mit einer breiten Palette an Angeboten, in anderen Kommunen gibt es dagegen gar keine Angebote. Dieser Flickenteppich ist nicht tragbar.

Auf der Landesebene dünnt es sich noch mehr aus. Die Arbeit deines Landesverbands, Vincent, sticht bundesweit heraus. Durch die massiven Einschränkungen, denen Kinder und Jugendliche durch Corona unterworfen waren, hat sich die Situation an vielen Stellen noch einmal verschärft, beispielsweise auch in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit. Auch Interessensvertretung durch Erwachsene in Form von Landeskinderbeauftragten gibt es nur in vier Bundesländern, mit teils problematischer Anbindung in den politischen Strukturen, durch die sie kaum Wirkung entfalten können. Auch die Kinderkommission auf Bundesebene ist aufgrund ihrer Ausstattung, Zusammensetzung und Rechte nur ein schwaches Schwert. Da hat der Wehrbeauftragte der Bundesregierung einen viel, viel größeren Arbeitsstab und der Datenschutzbeauftragte mehr Rechte.

FormalPara Vincent Sipeer:

Wie sieht bei der gesetzlichen Verankerung von Mitbestimmungsrechten aus?

FormalPara Holger Hofmann:

In den letzten drei Jahren haben wir eine positive Entwicklung in Baden-Württemberg, Brandenburg und Hessen gesehen. Dort gibt es konkrete Festlegungen zur Kinder- und Jugendbeteiligung in den Landesverfassungen. Das kann aber nicht über die vielen Leerstellen in anderen Landesverfassungen und dem Grundgesetz hinwegtäuschen.

Der letzte Vorschlag zu einer Verfassungsänderung, wie er noch von der großen Koalition auf den Weg gebracht wurde, hat offenbart, dass viele Politikerinnen und Politiker den Jugendlichen vielleicht noch zugestehen, dass sie ihre Meinung sagen dürfen, aber dass es keine verbindlichen Regelungen braucht, wie diese berücksichtigt werden muss. Mit einer Umsetzung entlang dieses Vorschlages wäre im Übrigen nicht nur nichts gewonnen, sondern sie würde in einer Krise, wie wir sie derzeit mit der Covid-19-Pandemie erleben, keine Wirkung entfalten. Die Interessen von Kindern und Jugendlichen würden weiter unter den Tisch fallen, aber viel schlimmer noch, sie würde einen Stand der politischen Mitbestimmung zementieren, den viele Kommunen und manche Bundesländer schon überwunden haben.