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Wenngleich zu der NS-Geschichte Sozialer Arbeit mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen vorliegt, ist die Phase der Übergangszeit vom Nationalsozialismus bis in die frühe Bundesrepublik und DDR bisher vergleichsweise marginal erforscht worden, so die Herausgeber*innen des zweiteiligen Tagungsbandes Kontinuitäten und Diskontinuitäten Sozialer Arbeit nach dem Ende des Nationalsozialismus, Ralph-Christian Amthor, Carola Kuhlmann und Birgit Bender-Junker (vgl. S. 9). Die AG „Historische Sozialpädagogik/Soziale Arbeit“ ist diesem Desiderat begegnet. Der vorliegende Band bündelt insgesamt 19 Beiträge von Autor*innen, die zum Teil seit Jahren einschlägig im (Gravitations‑) Feld der Geschichte Sozialer Arbeit forschen.

In dem ersten Aufsatz des einleitenden Kapitels Ideologische Kontinuitäten und Diskontinuitäten zeigt Manfred Kappeler unter zentraler Bezugnahme auf Veröffentlichungen des „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ (DV) Kontinuitätslinien im Fürsorgediskurs auf und macht auf die nach dem Ende des NS-Regimes wieder aufgenommenen Bemühungen um die Schaffung eines Bewahrungsgesetzes sowie auf die persistente Verwahrlosungsterminologie aufmerksam. Diana Franke-Meyer und Carola Kuhlmann untersuchen am Beispiel der frühen Phase der Kindergarten- und Heimerziehung in der DDR Parallelen zwischen den pädagogischen Erziehungszielen der DDR und der NS-Pädagogik. Ina Schildbach rekonstruiert die Ausrichtung westdeutscher Familienpolitik und argumentiert, dass der Familie auch nach dem Nationalsozialismus die Funktion der „biologische[n] und sittliche[n] Keimzelle des Volkes und damit des Staates“ (S. 61) beigemessen wurde. Christian Niemeyer problematisiert hiernach die Ausblendungen in der Darstellung der Figur Hans Paasche, dessen Tauglichkeit als Jugendbewegungsikone er in Zweifel zieht.

Christian Schrapper zeichnet zu Beginn des zweiten Kapitels Kontinuierliche Karrieren in wechselnden politischen Systemen – Biographien von Mittäter*innen und- denker*innen die beruflichen Stationen des Fürsorgejuristen Hans Muthesius nach, der im Nationalsozialismus im Reichsministerium des Inneren Referent für alle Angelegenheiten der Jugendhilfe und ab 1950 als Vorsitzender des DV maßgeblich am Wiederaufbau der Wohlfahrtspflege beteiligt war. Als bestimmendes Leitmotiv des beruflichen Handelns von Wilhelm Polligkeit in unterschiedlichen politischen Systemen arbeitet Anne-Dore Stein die bedingungslose „Orientierung an der Idee des geordneten Nationalstaats“ (S. 109) heraus. Nikolaus Meyer und Michaela Köttig verweisen anhand der Biografie des Juristen Rudolf Prestel auf Kontinuitäten im Fürsorgesystem und verdeutlichen den engen Zusammenhang zwischen individuellen Verberuflichungs- und kollektiven Professionalisierungsprozessen. Dem Dichter Josef Tress widmen sich Bernhard Bremberger und Lothar Eberhardt. Sabine Hering zeigt anhand der Schriften Gertrud Bäumers auf, dass deren Karriere auch im Nationalsozialismus nie vollständig unterbrochen wurde, sie eigene Verstrickungen in das NS-Regime jedoch Zeit ihres Lebens auszublenden wusste.

In dem nächsten Kapitel Entnazifizierung von Fachkräften werden Personen, die auf der praktisch-operativen wie auf der mittleren politisch-administrativen Ebene Sozialer Arbeit tätig waren, in den Blick gerückt. Christa Paulini analysierte im Rahmen einer explorativen Studie Entnazifizierungsakten von Volkspfleger*innen und deckt wiederkehrende Entlastungsargumentationen auf. Gesetzliche Regelungen machten es ab 1951 möglich, politisch vorbelastete Angehörige des Öffentlichen Dienstes (wieder)einzustellen. Dass der Landschaftsverband Rheinland (LVR) ein großes Interesse hatte, das bereits vor 1945 „etablierte“ Personal zu reintegrieren und welche Effekte dies auf das Verwaltungshandeln und die Verwaltungskultur hatte, zeigt Uwe Kaminsky.

Birgit Bender-Junker und Elke Schimpf eröffnen das vierte Kapitel Orientierung an der Entwicklung vor 1933 und Neubeginn unter Einfluss der Reeducation und argumentieren, dass sich nach 1945, befördert durch die „Aufbaugeneration“, der sich Heinrich Schiller und Teresa Bock zurechnen lassen, auch reformorientierte und lebensweltbezogene Wissensfiguren in der Sozialen Arbeit ausbildeten. Volker Jörn Walpuski beschäftigt sich mit Dora von Caemmerer, die im Nationalsozialismus unter anderem als Dozentin an der Kieler Volkspflegeschule tätig war und in der Bundesrepublik als Pionierin der Supervision akklamiert wurde. Susanne Maurer geht in ihrem Beitrag entlang der Biografien von drei prominenten „frauenbewegten“ Wegbereiterinnen moderner Sozialer Arbeit – Gertrud Bäumer, Marie Baum und Hertha (Herta) Kraus, der Frage nach, inwieweit die Perspektiven und politischen Positionen der frühen Frauenbewegung(en) diesen nach 1945 noch als Referenzpunkt dienten. Peter Szynka beschäftigt sich mit dem Psychiater Karl Wilmanns, der bis zu seiner Entlassung 1933 Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg war und in historiographischen Darstellungen der Wohnungslosenhilfe des 20. Jahrhunderts bisher kaum Berücksichtigung fand.

Joachim Wieler würdigt zu Beginn des letzten Kapitels Rückkehr von Verfolgten und Hilfen für Verfolgte die Verdienste von Hertha Kraus und Louis Lowy, die beide jüdische Wurzeln hatten und in die Emigration gezwungen worden waren, nach 1945 jedoch maßgeblichen Einfluss auf die Re-Organisation Sozialer Arbeit und die Etablierung demokratischer Methoden in Deutschland nahmen. Susanne Zeller macht auf die dramatische Situation von überlebenden Jüdinnen und Juden in Displaced-Persons-Lagern, die von der Hilfsorganisation UNRRA erstversorgt wurden sowie auf die in den Folgejahren geleistete Neuorganisation jüdischer Sozialer Arbeit in Deutschland aufmerksam. Sebastian Engelmann widmet sich dann dem Werk der sozialistischen Reformpädagogin Minna Specht sowie ihrem nur unzureichend rezipierten Konzept zur Reeducation. Ralph-Christian Amthor bilanziert, dass die „Mehrheit der Fachkräfte […] quer durch sämtliche Arbeitsfelder im großem Umfang Schuld auf sich geladen hatte“ (S. 303), die Verstrickungen Sozialer Arbeit in die nationalsozialistischen Politiken jedoch lange Zeit weitestgehend geleugnet und ausgeblendet worden sind. Dennoch habe es in der Sozialen Arbeit auch eine kleine Minderheit von Personen gegeben, die sich während dieser Zeit trotz der zu befürchtenden Konsequenzen für Schutzbefohlene und Verfolgte einsetzten und dessen couragiertes Handeln nicht in Vergessenheit geraten dürfe.

In dem hier vorliegenden Band gelingt es, eine Fülle von fachhistorisch relevanten Beiträgen zu versammeln, die sich vermittels unterschiedlicher Zugänge der Frage widmen, welche personellen und weltanschaulich-ideologischen Kontinuitäten, jedoch auch welche Brüche in der Sozialen Arbeit der unmittelbaren und frühen Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland sichtbar gemacht werden können. Dass einzelne Beiträge zum Teil auf bereits bekannte Forschungsarbeiten zurückgehen, schmälert die Qualität des Buchs nicht. Im Gegenteil ist es dadurch gelungen, sowohl neuere wie bereits einschlägig gewordene Veröffentlichungen, die nicht an Aktualität verloren haben, zu bündeln und so einen Überblick über zentrale Problemstellungen im Feld historischer Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit zu geben.