Was macht die Gemeinwesenarbeit von Saul Alinsky aus und wie ist er in der Praxis mit Konflikten umgegangen? Bei der Tagung „Blick zurück nach vorn – 25 Jahre nach der Schließung der Victor-Gollancz-Stiftung“ im Oktober 2000 hatte Peter Szynka die Gelegenheit, C. Wolfgang Müller zu seiner Sicht auf diese und weitere Aspekte von Alinskys Konzepten zu befragen.

Dieses bisher unveröffentlichte Interview beschließt den Schwerpunkt „Community Organizing“. Obwohl es bereits vor mehr als 20 Jahren geführt wurde, sind seine Aussagen weiterhin aktuell.

FormalPara Peter Szynka (PS):

Sie haben amerikanische Sozialarbeit vor Ort studiert. Hatten sie dabei auch Kontakt zu Community Organization? Gab es Erfahrungen mit Projekten von Alinsky oder Specht?

FormalPara C. Wolfgang Müller (CWM):

Ich habe das gemacht; was man ein „Post-doc-Studium“ nennt. Ich hatte ein sehr aufwendiges Stipendium der Hawks Foundation bekommen und konnte mich zwei Jahre lang so im Land bewegen, wie ich wollte, Universitäten aufsuchen, mit Professoren und mit Studenten sprechen, mir Lehrveranstaltungen angucken und Projekte, die dort gemacht wurden.

FormalPara PS:

Können Sie einige der Projekte benennen?

FormalPara CWM:

Ich kann ein paar Studienorte benennen, weil die Projekte sehr unterschiedlich waren. Also, ich war an der Columbia Universität in New York, ich war in Minneapolis bei Gisela Konopka, und ich war bei Harry Specht und Walter Friedländer in Berkeley an der University of California. Es war eigentlich mehr ein Studium der Art und Weise, wie die Kolleginnen und Kollegen, die ich besuchte, ihre Lehrveranstaltungen organisierten und mit welcher Infrastruktur sie selber Projekte organisierten. In den Jahren 1963 bis 1965 hatten wir in den USA eine ziemlich entfaltete Bürgerrechtsbewegung. Wir hatten den Kampf der schwarzen Bevölkerung um ihre Bürgerrechte, den Marsch auf Washington, wir hatten den Vietnamkrieg, wir hatten die Auseinandersetzung vor dem Port of Chicago, um zu verhindern, dass die amerikanischen Truppen mit Nachschub versorgt wurden. Das war eine sehr militante Aktion. Es waren also nicht Projekte in dem heutigen Sinne, die von der Universität organisiert waren, sondern es waren Projekte, die von sozialen Bewegungen innerhalb der Bevölkerung selbst ins Leben gerufen worden. Wir machten einfach mit. So ein geordnetes Studium, wie wir es heute in Berlin haben, gab es damals nicht. Die Art und Weise, wie unterrichtet wurde, hat mich sehr beeindruckt. Ich will Ihnen ein Bespiel nennen: man sprach über die Diskriminierung von Minderheiten bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Und dann sagte an irgendeiner Stelle der Professor „passt auf, lasst uns doch mal die Stellenanzeigen der New York Times holen“. Und dann holte jemand die Stellenanzeigen der New York Times. Und dann sagte er „Gut, wir werden jetzt einmal ein Rollenspiel spielen. Wir suchen uns zehn Jobs raus. Eine Chinesin von uns bewirbt sich morgen als Chinesin auf den Job, ein Schwarzer bewirbt sich als Schwarzer und ein Engländer bewirbt sich als Engländer. Und ein richtig gut gebildeter Nordamerikaner von der Ostküste bewirbt sich auch. Wir wollen mal gucken, was hier für Erfahrungen gemacht werden.“ Diese Art des Projektstudiums spielte eine ganz große Rolle. Es wurde sehr viel Wert darauf gelegt, die Erfahrungen, die die Studenten schon hatten, zu mobilisieren, aber sie sie auch mit neuen Erfahrungen aus der Praxis zu konfrontieren.

FormalPara PS:

Die Übertragung amerikanischer Methoden in das besetzte Deutschland verlief nicht ohne Probleme. Sie sagen an einer Stelle, die Methoden sind uns nicht aufgezwungen worden, sondern unsere Experten hätten sie sich aktiv geholt. Sie sind mehr oder weniger auf unsere Verhältnisse angepasst und zu unseren eigenen gemacht worden. Aber selbst das verlief nicht ohne Verdächtigungen, Behinderungen und Auseinandersetzungen. Hat dies noch mit Affekten gegen die Besatzungsmacht zu tun? Wer waren die Gegner der neuen Methoden?

FormalPara CWM:

Wie ich im ersten Band meiner Methodenlehre versucht habe zu schildern, hatten wir in Deutschland bereits vor 1933, zumindest im Hinblick auf Einzelfallhilfe und Gruppenpädagogik, eine ansatzweise entfaltetet Praxis und sogar eine ansatzweise entfaltete Evaluationsforschung. Ich habe von Siddy Wronsky und von Alice Salomon gesprochen. Siddy Wronsky war die Evaluationspraktikerin, dann erste Direktorin dessen, was heute das Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin ist. Das hatten wir schon. Und ein Teil unserer deutschen Kollegen ist dann in die USA emigriert. Das was dann zurück kam, war eine Mischung aus deutschen Ansätzen und deren Weiterentwicklung in den USA durch die Amerikaner selbst, aber auch durch die deutschen Emigranten, die dann nach 1945 zurückkamen. Ich muss Ihnen sagen, dass die Fachleute der Sozialarbeit ausgesprochen dankbar und begierig waren, die in den USA und England und den Niederlanden weiterentwickelten Erfahrungen wieder aufzunehmen und gewissermaßen den Anschluss daran zu gewinnen. Der zweite Teil Ihrer Frage zielt auf die Behinderungen. Behinderung Nr. 1, insbesondere in konfessionellen Kreisen, war ein Widerstand gegen den, wie man vermutete, darwinistisch, freudianischen Hintergrund von Casework. Man vermutete ein evolutionäres Menschenbild, das im Gegensatz zur Lehre der Bibel stand und man vermutete ein stark freudianisch orientiertes Menschenbild von der Bedeutung psychischer und unterbewusster Reaktionen. Dagegen hat es einen deutlichen und massiven Widerstand gegeben. Daneben gab es natürlich noch den allgemeinen deutschen Widerstand dagegen, dass diese verdammten Sieger, nicht genug, dass sie uns besiegt haben, uns jetzt auch noch belehren wollen. Das hat es gegeben. Der Widerstand war eigentlich unter den Kollegen in der Sozialarbeit nicht so groß. Sie waren zum Teil wirklich dankbar über die neue Methodenlehre den Anschluss an das Weltniveau – so sagte man später in der DDR – zu bekommen. Der Widerstand war teilweise sehr groß, unter den Leitungspersonen und in der Öffentlichkeit selbst, die sagte, „was können wir von den Amerikanern lernen“.

FormalPara PS:

Gab es irgendwie auch die Befürchtung, dass die Sozialarbeiter als Profession zu stark werden könnten? Beispielweise sagen Vogel/Oel „Euch geht es in Wirklichkeit gar nicht darum, den Betroffenen zu helfen mit Community Organization, euch geht es nur um die Professionalisierung der Sozialarbeit“.

FormalPara CWM:

Okay, das ist gewissermaßen eine andere Schiene. Es gab selbstverständlich unter den Kommunalpolitikern und unter den Landespolitikern eine gewisse Besorgnis, dass eine allzu starke Aufwertung der Ausbildung für die soziale Arbeit die Begehrlichkeit der Kolleginnen und Kollegen im Hinblick auf ihre Bezahlung lenken würde. Von daher kam ja auch das starke Bedürfnis, die Fachschulen als Fachschulen und nicht als höhere Fachschulen und später als Fachhochschulen zu behandeln. Bei dieser allgemeinen Professionalisierung, die mit Akademisierung verbunden war. Es wurde befürchtet, dass zweifellos die Kosten für die Kommune deutlich erhöht werden würden.

FormalPara PS:

Ging es nur um Kosten oder auch um Macht?

FormalPara CWM:

Es ging zunächst um Kosten und es ging dann in der Studentenbewegung, also ab 1967 ff auch um die Angst vor einem allzu großen Einfluss der Sozialarbeit im Hinblick auf kommunalpolitische Gestaltungsmöglichkeiten. Habbe sagte: „Sozialarbeiter sollen Probleme lösen und uns nicht neue Probleme machen.“ Und das machte natürlich deutlich, dass davon ausgegangen wurde, je besser sie ausgebildet sind, umso mehr versuchen sie auch, sich in den kommunalpolitischen Entscheidungsprozess einzumischen und das kann für die etablierte Kommunalpolitik gefährlich werden.

FormalPara PS:

Das kam also erst mit der Studentenbewegung?

FormalPara CWM:

Das war nicht deutlich vor 1967. Die erste Tendenz, die spielte ja 1948 bis 1951. Ella Keilt, meine erste Chefin, Senatorin für Familie, Jugend und Sport in Berlin, sagte mir: „Die Kollegen wollen das ja gar nicht. Die haben eine Sache gelernt, und dabei wollen sie bleiben. Alles andere, was da an neuen Methoden auf sie zu kommt, empfinden sie als Zumutung.“

FormalPara PS:

In Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit haben Sie eine Typifizierung der Konzepte der Gemeinwesenarbeit vorgenommen: konservativ, reformpädagogisch und aggressiv.

FormalPara CWM:

Na ja, ich sage es jetzt einmal mit meinen heutigen Worten. Ich habe das 1970 geschrieben, also vor 30 Jahren. Man soll es immer versuchen, aus der Zeit heraus, also zeitgeschichtlich, zu interpretieren. Ich versuche es aber trotzdem mal retrospektiv, aus meiner heutigen Sicht. Das ist ein bisschen unfair, denn hinterher ist man immer klüger. Also, ich hab mir die Praktiken, die Projekte und die Art und Weise, wie die Kollegen damit umgehen, sowohl in England – ich war ja auch auf Einladung der englischen Königin in England – und angesehen, und habe gefunden, dass es ein zentrales Konzept gibt (was heute wieder sehr lebendig wird). Das war ein Konzept, das ich heute etwas flapsig als ein im Grunde erweitertes Fundraising-Konzept bezeichnen würde. Gemeinwesenarbeit als der Versuch, die Spendentätigkeit der Geschäftswelt im Gemeinwesen so zu koordinieren, dass für die soziale Arbeit vor Ort genügend Spenden zusammenkommen, damit man nicht dauernd das Steuersäckel belasten muss. Das war das konservative Konzept.

Und dieses Konzept wurde mit einem Konzept verbunden, das darauf gerichtet war, sagen wir mal, die Sicherheit in der Gemeinde zu gewährleisten, die Straßenbeleuchtung zu verbessern, die Müllabfuhr zu verbessern, gewissermaßen eine Reihe von infrastrukturellen Leistungen zu erbringen. Das ist sicher sinnvoll und notwendig, kann aber mit dem sozialpädagogischen Konzept von Gemeinwesenarbeit, was die zweite Stufe ist, nicht ohne weiteres zur Deckung gebracht werden.

Man kann ja sagen, nun gut, die Gemeinde hat das alles zu tun, was da gefordert wird, dazu braucht man keine Sozialarbeiter. Sozialarbeit ist nicht für die Verbesserung der Müllabfuhr zuständig. Das zweite Konzept ist ein aber trotzdem ein sozialpädagogisches oder reformpädagogisches Konzept, weil es darauf gerichtet ist, durch Aktionen, Kampfhandlungen und Kampagnen im Stadtteil, die Menschen, die an ihnen beteiligt waren, selbst in die Lage zu versetzen, zu lernen, wie man so was macht, wie man dafür sorgt, dass bestimmte Sachen erledigt werden, dass ein Zebrastreifen vor einer Grundschule eingerichtet wird, die Straßenlaternen in Ordnung gebracht werden, dass der Bürgermeister regelmäßige Sprechstunden für die aufgebrachten Bürger unterhält usw. Der Gemeinwesenarbeiter soll es aber nicht für die Gemeinde tun, als Anwaltshandeln, sondern soll sie dazu bringen, selbst die Wege zu beschreiben, die notwendig sind, um in der Einmischung auf die kommunale Politik erfolgreich zu werden. Das sehe ich auch heute noch als entscheidendes Konzept an, wo wir uns von Stadtplanern und Werbefachleuten und anderen unterscheiden. Die machen zwar häufig auch das Richtige, aber sie tun es als Fachleute selbst und bringen anderen Leuten nicht bei, wie sie sich selbst helfen sollen.

Das dritte Konzept war der damaligen politischen Situation geschuldet. Da handelte es sich darum, durch die Bearbeitung von realen Konflikten Menschen im Reproduktionsbereich, also im Bereich von Mieten, Wohnen und Freizeit in die Lage zu versetzen, Druck auf die Kommunalpolitik auszuüben um infrastrukturelle Leistungen herzustellen, die bisher nicht vorhanden waren und die im Grunde auch nach Meinung der Stadtväter unnötig und zu teuer wären. Also, es war der Versuch, so etwas herzustellen wie gewerkschaftliches Handeln außerhalb des Betriebes, gewerkschaftliches Handeln in der Reproduktionssphäre, wie wir sagten, in der Wohnen- und Freizeitsphäre. Und dieses Konzept fußt sehr stark auf Saul Alinsky. Dieses Konzept suchte nicht, eine Harmonie herzustellen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Wohnungsbaugesellschaften und Mietern, sondern die latenten Konflikte so auszuspielen, dass Bevölkerungsgruppen in die Lage versetzt wurden, also, aggressiv in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern zu siegen.

Das waren die drei Konzepte. Das erste war gewissermaßen ein freundlich harmonistisches, das zweite war ein pädagogisches und das dritte war ein aggressives, auf die Organisation der Mieter im Reproduktionsbereich gerichtetes.

FormalPara PS:

Sie haben in Ihrem Buch "Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit" die Unterschlagung aggressiver Konzepte in der damaligen Fachliteratur kritisiert, und die Anwendung aggressiver Konzepte auch in Deutschland befürwortet. Im Märkischen Viertel, so steht irgendwo in ihrem Büchlein, sind aggressive Konzepte erprobt worden.

FormalPara CWM:

Das war das, was ich damals wusste, aber sie sind natürlich auch woanders erprobt worden.

FormalPara PS:

Können Sie konkrete Beispiel aus dem Märkischen Viertel nennen, die dem aggressiven Konzept am nächsten kommen?

FormalPara CWM:

Ich weiß gar nicht, ob das die Studenten und ihre Professoren gemacht haben oder ob das die Bürger letztlich selber gemacht haben und wir Ihnen dabei geholfen haben. Da will ich jetzt auch nicht lügen. Aber ich sag jetzt mal ohne zu fragen, wer es initiiert hat, was passiert ist. Wenn bei irgendwelchen Geschehnissen im Stadtteil, wenn da etwas fehlte, wenn eine Schwimmhalle geschlossen wurde, weil die Kacheln abfielen und sie nicht sorgfältig genug gebaut worden war, dann gab es eben Delegationen, die unangemeldet beim Bürgermeister im Vorzimmer auftauchten und lautstark forderten, dass … Oder wir haben bei einer unvorbereitet durchgeführten Erhöhung der Heizkosten, bei den entscheidenden zwei Wohnungsbaugesellschaften des Märkischen Viertels einen Mieterstreik organisiert, an dem sich 4000 Mieter beteiligt haben. Sie haben einfach einen halben Monat oder einen Monat lang die Miete nicht überwiesen und zum Zeichen des Protestes weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt. Und es war für uns eine erhebende Sache, wenn wir mit dem Fahrrad durch das Märkische Viertel fuhren und sahen, wie überall die weißen Segel aus den Fenstern hingen. Oder es gab eine Grundschule oder eine Kindertagesstätte, wo zweimal Kinder angefahren worden sind, die auf die Straße gelaufen sind. Nach unserer Vorstellung sollten da Geschwindigkeitsbegrenzungschilder aufgestellt oder ein Zebrastreifen angebracht werden. Dafür haben wir selbst gemalte 30-km-Schilder aufgestellt und so bewacht, dass die Polizei sie nicht einfach wieder wegnehmen konnte. Die Polizei kam natürlich und wir wurden wegen Amtsanmaßung angezeigt. Also, solche Beispiele gibt es – es waren ja bescheidene Dinge, wir haben ja nicht mit Luftgewehren geschossen.

FormalPara PS:

Ein Statement von mir. Meiner Meinung nach geht es ja auch darum, die konstruktiven oder reinigenden Aspekte von Aggressivität für ein gerechteres Gemeinwesen fruchtbar zu machen und zu verhindern, dass Benachteiligte ihre verständliche Wut, Aggression und Enttäuschung gegen sich selbst richten, was zu Apathie, Depressionen und Selbstzerstörung führt oder, was noch schlimmer ist, sich gegen Schwächere richtet. Sie haben heute auch gesagt, es gäbe auch in der Gemeinwesenarbeit den Unterschied zwischen Explosion und Implosion.

FormalPara CWM:

Also, ich find das sehr spannend, Sie haben ja eine bestimmte theoretische Grundhaltung, die sie in den Begriff der Aggression reinlegen. Das finde ich sehr interessant. Es ist eine psychologische Interpretation von Aggression. Da kann man drüber streiten. Ich stehe dem sehr sympathisch gegenüber.

FormalPara PS:

Ist die Angst vor der eigenen Aggression eine speziell deutsche Befindlichkeit und aus welchem Grunde gibt es das?

FormalPara CWM:

Das weiß ich nicht. Also, die Angst vor der eigenen Aggression.

FormalPara PS:

Vor der eigenen Courage …

FormalPara CWM:

Ja, Vorsicht. Aggression ist ja mehr als Courage, es ist weniger als Zerstörung. Ich wende mich immer gegen den Begriff, dass Aggression immer auf Zerstörung gerichtet ist. Agretere (lat.) heißt an eine Sache herangehen, den Versuch machen, sich ihrer zu bemächtigen oder, neutraler ausgedrückt, sie zu befingern. Lassen sie uns doch mal die Sache genauer ansehen. Ein Herangehen an die Sache ist an sich zunächst mal ein vergleichsweise ein wertfreier Begriff. In Deutschland wird er häufig verwendet im Sinne von Störung oder Zerstörung. Norbert Elias würde möglicherweise sagen, dass die Dämpfung aggressiver Handlungen eine kulturelle Leistung ist, mit all den Schwierigkeiten, die darin stecken. Denken Sie daran, wie er die Erfindung der Gabel als eine kultivierende Leistung bei Tisch beschrieben hat, die mehrere hundert Jahre am englischen Hof gedauert hat. Also, man könnte sagen, dass in der Phase Mitteleuropas, in der die aggressiven Handlungsweisen gegen Sachen und Menschen des Mittelalters sehr mit dem Feudalismus zusammenhingen, gedämpft werden sollten, kultiviert werden sollten. In allen sich kultivierenden Völkern wurde versucht, ein Aggressionsverbot durchzusetzen. Das führte dazu, da man ja Machtmittel zur Durchsetzung von kultivierenden Handlungen brauchte, das als Monopol beim Staat blieb. Der Einzelne durfte es nicht, aber der Staat durfte es. Und wenn Sie nun einen ungerechten Staat haben, dann wird gewissermaßen das Aggressionsverbot, das dem Einzelnen gegenüber gilt, dysfunktional und erlaubt dem Staat, alles zu tun an Aggressivität, was er glaubt tun zu müssen, um seinen Macht- und Geltungsanspruch zu rechtfertigen. Also gehört gewissermaßen der Widerstand gegen das Machtmonopol des Staates zu einer gerechten demokratischen Gesellschaft: Also, an der Stelle kippt das Ganze. Und da wir, glaube ich, in Deutschland relativ viel Schwierigkeiten mit der Einführung der Demokratie hatten, mehr als die Engländer und mehr als die Amerikaner, könnte es sein, dass wir mehr Angst vor unseren eigenen aggressiven Neigungen, zur Durchsetzung unserer eigenen Rechte haben als z. B. die Angloamerikaner. Also, ich habe in den USA festgestellt, dass dort das aggressive Durchsetzen von Bürgerrechten durchaus auf großes Verständnis trifft. Die Bürgerrechtsbewegung und auch die Bewegung der Farbigen hat durchaus eine Menge aggressiver Handlung gehabt, wo in Deutschland der Belagerungszustand ausgerufen worden wäre. Und die Amerikaner haben gesagt, gut, wollen wir mal sehen was dabei rauskommt. Da kann was dran sein, an der Sache.

FormalPara PS:

Die Alinsky-Projekte und ihre Nachfolger in den Vereinigten Staaten werden vielfach durch die Kirchen unterstützt und finanziert. Sind die Alinsky-Projekte heute weniger aggressiv als damals oder haben die Kirchen in den Vereinigten Staaten ein anderes Verhältnis zu aggressiven Konzepten der Gemeinwesenarbeit?

Das ist eine schwierige Frage und da bin ich auch nicht mehr kompetent, weil ich die Situation in den USA in den letzten 20 Jahren nicht mehr so deutlich verfolgt habe. Ich würde folgendes sagen: Erst einmal, die Kirchen in den USA, das sind ja nicht die Amtskirchen, sondern das sind die Kirchengemeinden und in den einzelnen Communities. Alinsky wurde nicht von der Amtskirche gerufen, auch nicht vom bischöflichen Ordinat von Berlin-Brandenburg oder so was. Er wurde immer von einzelnen Kirchengemeinden angefordert, von Pfarrern, die sich Sorgen machten.

FormalPara PS:

Ja, die haben sich aber zusammengetan.

FormalPara CWM:

Unter Umständen, weil er teuer war, haben sie sich zusammen getan, um die Person finanzieren zu können. Aber auf jeden Fall kam die Einladung nicht von der Kirche, von der übergeordneten Instanz, sondern schon von den Kirchengemeinden. Und die waren zum Teil über die damaligen Ungerechtigkeiten, etwa in der Behandlung von ethnischen Minderheiten, wirklich empört und glaubten, dass sie da vom lieben Gott den Auftrag erhalten hätten für Gerechtigkeit auf dieser Welt zu sorgen. Dazu fühlten sie sich berechtigt. Von daher fühlten sie sich auch berechtigt, aggressive Strategien anzuwenden. Das war aber gebunden an die Zeit der Bürgerschaftsbewegung des „civil rights movement“ und anderer sozialer Bewegungen in den USA, auch der Studentenbewegung. Also, ich denke an die Zeit zwischen 1960 und 1980. Danach hat sich die Situation in den USA wesentlich beruhigt. Auch deshalb, weil es beispielsweise im Hinblick auf die Rechte der schwarzen Bevölkerung markante Fortschritte gegeben hat. Die Schwarzen sind heute kein wesentliches Problem der Diskriminierung mehr, sondern die Latinos sind es und andere, asiatische Einwanderergruppen. Also, von daher muss man verstehen, dass gewissermaßen die Notwendigkeit aggressiven Handelns im Bewusstsein der amerikanischen Bevölkerung abgenommen hat, weil große Fortschritte im Hinblick auf die Bürgerrechte gemacht worden sind. Es wäre einfach falsch dies zu verschweigen. Das ist Nummer eins.

Nummer zwei ist, dass Alinsky selber und seine Strategien einen Prozess der Pazifizierung durchgemacht haben. Der alte Alinski ist ein Harmonisierer geworden, teilweise mit Weltansichten, wo ich den Kopf schütteln würde. So auch die Studierenden, die von ihm in seiner Spätphase gelernt haben – ich kenne einen Professor in Berlin, der in der Spätphase von Saul Alinski mit ihm zusammen gearbeitet hat …

FormalPara PS:

Leo Penta?

FormalPara CWM:

Richtig! Leo Penta, der jetzt Professor an der katholischen Fachhochschule ist. Der verfolgt eben das Prinzip eines Arbeitsbündnisses zwischen der großen Industrie, den kleinen Geschäftstreibenden und der Bevölkerung in einem bestimmten Stadtteil, weil er darauf aus ist, eben wirklich auch das große Geld zu kriegen, um es in den Stadtteilen zu reinvestieren. Also, insofern wäre Alinsky, wenn er heute arbeiten würde, wahrscheinlich der Manager einer großen nicht kommerziellen Wohnungsbaugesellschaft.

FormalPara PS:

Wie beurteilen Sie heute die Bedeutung aggressiver Konzepte in der Gemeinwesenarbeit in Deutschland? Macht die Bezeichnung „aggressiv“ noch Sinn?

FormalPara CWM:

Also, ich schlängele mich einmal aus der Frage raus, indem ich sage, wir haben im Augenblick eine Situation, wo die Potenz und die kämpferischen Fertigkeiten von Menschen, die eine radikale Veränderung der Umstände wollen, sehr schwach sind. Wir haben auf der anderen Seite durch das Wegfallen einer möglichen Alternative zur spätkapitalistischen Gesellschaft, eine Situation, wo die klugen Teile der Arbeitgeberschaft begreifen müssen, dass sie aus Gründen der Loyalitätserhaltung der Mehrheit der Bevölkerung auf eine neoliberale manchesterielle Durchsetzung ihrer eigenen Interessen wahrscheinlich werden verzichten müssen. Das ist das, was die Neoliberalen im Augenblick gar nicht geschnallt haben, aber gewissermaßen, der weitsichtigere Teil der Kapitalfraktion hat begriffen, dass sie von sich aus eine Reihe von Zugeständnissen machen muss. Die Amerikaner haben das übrigens schon frühzeitig begriffen, früher als wir. Und deswegen glaube ich, dass heute die Chancen, Teilziele durch Konsens zu erreichen, besser sind, als sie es 1970 waren. Mehr will ich wirklich nicht sagen. Ich will auch die gegenwärtige Situation nicht zu positiv schildern. Aber sie ist nicht mehr so sehr auf Konfrontation angewiesen, wie wir glaubten, dass sie es 1970 gewesen sei.

FormalPara PS:

Das ist sehr interessant!

FormalPara CWM:

Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Fragen, denn die Fragen sind ja immer das entscheidende, die Antworten sind gar nicht so wichtig. Die Fragen müssen intelligent sein.

FormalPara PS:

Ich mache mir immer Gedanken, wie das mit den Aggressionen so ist. Was mich auch immer so an den neuen Konzepten stört, z. B. Mediation und so etwas. Ich habe immer das Gefühl, es geht ausschließlich um Konfliktvermeidung.

FormalPara CWM:

Mediation ist mir sehr gegenwärtig und ich habe eine Reihe von Studenten die aktiv auf diesem Gebiet arbeiten. So ist gerade im Beltz-Verlag ein neues Buch über Mediation rausgekommen, von einer Studentin von mir. Sie war die erste Straßensozialarbeiterin in Berlin vor 15 Jahren. Oder nehmen sie das Buch von Ursula Graf, das wird demnächst kommen – da geht es um Konfliktvermeidungstraining in der Grundschule. Also ich habe großes Verständnis für ihre Position. Und wenn man es sich im Detail anguckt, das ist sehr spannend, vor allen Dingen die Ausbildung von Konfliktlotsen. Also, was auf den Schulhöfen leisten, ist beträchtlich. Natürlich geht es um Vermeidung von Messerstechereien und Schlägereien und so, aber das ist auch mein Konzept. Ich finde, das bringt uns nicht weiter, die blutige Auseinandersetzung auf dem Schulhof ist keine Form der Konfliktaustragung. Aber das Entscheidende ist, in der populären Literatur gibt es einen Satz, der immer wieder wiederholt wird: „Kinder brauchen Grenzen“. Ich halte diesen Satz für falsch, aber ich halte einen anderen Satz für richtig, der heißt „Kinder brauchen Regeln“. Und diese Regeln müssen gemeinsam gefunden werden. Da steht ein Zöllner an der Grenze und sagt, hier kannst du nicht weiter. Und wenn du fragst, warum kann ich hier nicht weiter, drüben ist Niemandsland. Das ist nicht erkenntnisträchtig. Während, wenn es einen Konflikt gegeben hat und alle setzen sich um diesen Konflikt herum. Es gibt ein Gespräch mit dem Mediator, und dann sagt der „Warum hast Du das gemacht?“ und „Was hat der dir getan?“ und „Jetzt sag du mal, warum hast du …?“ und „kannst du verstehen, dass du dem dumm gekommen bist?“, „Kannst du verstehen, dass der das blöd fand?“ Sagt der Konfliktteilnehmer „Nö, find ich nicht“ dann sagt der Mediator, „Gut, also lass’ uns mal spielen.“ Daraus macht er einen sozialpädagogischen Prozess ohne herrschaftliche Vorgabe, was richtig und was falsch ist, wo es aber darum geht die Einteilung in Opfer und Täter zu relativieren. Es geht also bei der Mediation nicht darum, den Scharfrichter durch Laien zu ersetzen, sondern den Richter überhaupt zu ersetzen durch eine Instanz, die beide akzeptieren und wo es darum geht, dass der Täter nicht mit dem Rücken zur Wand steht und ihm gar nichts weiter übrig bleibt als zu beißen oder zu schlagen. Also, da würde ich Sie wirklich ganz herzlich bitten, das noch mal ein bisschen weiter zu verfolgen. Ich halte Mediation für eine große kulturelle Leistung.

FormalPara PS:

Meine Skepsis resultiert auch daher, weil ich wahrscheinlich selber wütend oder aggressiv bin. Was ist, wenn man das alles auf rechtsradikale Jugendliche bezieht. Es gibt Konflikte, denen man nicht ausweichen kann.

FormalPara CWM:

Das ist doch Quatsch! Das ist doch in jedem von uns. Ich bitte Sie! Da nun auf die Glatzen zu kommen …

FormalPara PS:

Ja, aber ich frage mich, ob man da mit Mediation weiterkommt. Oder ob es nicht auch Situationen gibt, in denen man den Konflikt bewusst eskalieren muss?

FormalPara CWM:

Ich würde auch Mediation nie mit Rechtsradikalen machen. Also, wer ideologisch glaubt, sich durchsetzen zu müssen gegen eine Welt von Feinden, die den anderen radikal schädigenden … Mit Mediation kann ich eigentlich nur in bestimmten Situationen operieren. Ich kann mit Mediation operieren, wenn einer sagt, „Fand ich zwar Scheiße, aber du hast mich provoziert“. Dann kann ich. Ich find es zwar Scheiße, was ich gemacht habe, aber du hast mich provoziert. Du bist im Grunde schuld. Dann kann ich damit arbeiten. Weil er gewissermaßen schon in dem Satz angedeutet hat, dass er die eigenen Anteile als Reaktion versteht. Aber wir wissen ja aus der Kommunikationsforschung, die Frage ist immer, wo setze ich den Beginn.

Der Ehestreit fängt doch damit an, dass jemand sagt, „Ich habe dir das doch gesagt.“ Der andere sagt: „Du hast es mir nicht gesagt.“ „Ja, aber ich habe es dir doch gesagt.“ „Nein, du hast es mir nicht gesagt.“ „Aber jetzt weißt du es doch“ „Ja, jetzt weiß ich es, aber damals wusste ich es nicht.“ Das sind doch diese Kreisgespräche. Und da kann man wirklich arbeiten. Aber mit Leuten, die aus ideologischer Verblendung oder Rationalisierung ihrer eigenen Aggressivität sich im Recht fühlen, da kannst Du mit Mediation nichts machen. Du kannst wirklich nur was machen, wenn der andere auch dazu bereit ist.

FormalPara PS:

Alinsky hat ja bei Leuten, mit denen er im Guten nicht klar kam, den Konflikt bewusst eskaliert, aber eben auch kontrolliert eskalieren lassen.

FormalPara CWM:

Und es war nie mit körperlicher Gewalt verbunden?

FormalPara PS:

Nein. Mit Verhandlungen.

FormalPara CWM:

Auch mit Zwang! Ich werde nie eine Geschichte vergessen, die ich in San Francisco erlebt habe. Die Banken in der Innenstadt stellten keine Schwarzen ein. Die hatten sich untereinander abgesprochen und stellten für den Schalterverkehr nur Weiße ein. Und es ging darum, dass sie auch schwarze Jugendliche einstellen sollten, damit die Ausbildungsplätze kriegten. Und dann hat Alinsky über die Kirchen 100, 200 vielleicht, sagen wir mal 150 Jugendliche organisiert und hat die zusammen genommen und hat mit ihnen die Lage besprochen und hat gesagt „passt auf, jeder von Euch bekommt zehn Dollar bar auf die Kralle, aber nicht zum Versaufen, sondern wir gehen gemeinsam am Freitag, immer 20 Leute, in eine Bank mit den zehn Dollar in der Tasche und eröffnen ein Konto. Ihr steht hintereinander. Und eine Kontoeröffnung dauert ein bisschen am Schalter. Da muss man den Namen sagen, den Führerschein musst du zeigen und dann wird abgeschrieben. Und das heißt, wenn 20 Schwarze hintereinander ein Konto eröffnen, dann müssen die anderen, die irgend etwas abheben wollen oder so, die müssen eine halbe Stunde warten. Und das ist am Freitag peinlich.“ Und dann hat er durch seine Mittelsleute dem Bankdirektor sagen lassen, dass es eine Menge Ärger gegeben hat von Kunden, die gesagt haben „Was ist hier los? Kann diese Bank nicht mehr die Interessen von ihren Kunden vertreten?“ Denen ist gesagt worden, das ist eine gezielte Aktion. So lange sie keine Schwarzen einstellen, wird das jeden Freitag passieren. Und das hat die weich gekocht. Und dann haben sie gesagt „Okay, was wollen wir machen?“ Aber, ich verstehe nicht, keiner hat eine Scheibe eingeschlagen, keiner ist mit einem Baseballschläger gekommen und hat die Kasse zertrümmert … Ein anderes Mal hat er einfach den Straßenverkehr in Chicago lahmgelegt, indem einfach eine Endloskette von 200 Jugendlichen dauernd über die Zebrastreifen gegangen ist. Immer im Kreis rum. Nun, Amerikaner sind sehr gesetzestreue Bürger und fahren nicht über den Zebrastreifen, so lange da noch ein Mensch draufsteht. Und so wurde der Verkehr lahmgelegt. Verstehen sie. Also, er hat niemals das, was wir dann so machen würden, gemacht, sondern es war immer sauber wie ein Hundezahn.

FormalPara PS:

Wir können ja fast sagen, die sind nicht aggressiv in dem Sinne, wie wir das hier in Deutschland verstehen würden.

FormalPara CWM:

Nein, höchstens indirekt. Specht beschreibt das ja als disruptive Taktiken. Disruptiv heißt, ich ziehe den Stecker raus und unterbreche damit die Funktionalität der Lampe. Das meint er mit disruptiv. Ich hindere das System am Funktionieren. Und das bringt Einnahmelücken. Und das muss schmerzhaft sein.