Wenn wir die falschen Fragen stellen, dann landen wir definitiv bei den falschen Antworten. Sehen wir uns in der Politik und der sogenannten Arbeit im sozialen Feld um, dann werden wir immer wieder mit dem Thema Partizipation konfrontiert und lernen vermeintlich neue Strategien zur Entwicklung partizipativen Handelns kennen. Obwohl es sich um einen Schlüsselbegriff handelt, der in Theorie und Praxis häufig verwendet wird, entsteht keine wirkliche Dynamik. Immer wieder sind erfolgreiche Projekte zu finden. Sie stehen aber vor der Schwierigkeit, meist nicht über den Einzelfall hinauszugehen zu können.

Tatsächlich bestätigen wertvolle und erfolgreiche Projekte meist folgende Regel: Mitmachen ist nicht einfach und man kann zynisch sagen, dass Mitmachen eigentlich gar nicht erwünscht sei. Alles in allem findet sich das gleiche Muster wie in einem Staat, der gegen das Rauchen argumentiert, während er gleichzeitig die durchs Rauchen entstehenden Steuereinnahmen genießt, ein Staat, der für den öffentlichen Personennahverkehr argumentiert, während er den Individualverkehr durch Abwrackprämien oder Zuschüsse für den Kauf eines e‑Autos unterstützt – nicht nur, aber auch wegen der Einnahmen aus Steuern und Gebühren. Viele andere Beispiele lassen sich nennen. Am Ende stimmt es: erfolgreiche Entwicklung von Partizipation kann zu Arbeitslosigkeit von Politikern, Sozialarbeitern und Gemeinwesenarbeitern führen. Ist dies allgemein der Fall, so gilt es vielleicht im Besonderen für Community Organizing. Diese Praxis zielt auf die Ermächtigung und Befähigung von Bürgern ab, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen und vor Ort zu vertreten.

Zu den Beiträgen in diesem Schwerpunkt:

  • Im Beitrag von Rebecca Hassan und Joachim Romppel geht es um einen Partizipationsprozess geflüchteter Frauen aus verschiedenen Ländern in Hannover.

  • Bernadett Sebály befasst sich mit einem erfolgreichen Community-Organizing-Prozess in Budapest. Hier wurde gegen den politischen Trend der Orban-Regierung in der Hauptstadt ein neuer Umgang der Verwaltung mit Wohnungslosigkeit angeregt. Sebaly stellt die Frage, ob Community Organizing eine Alternative zu anderen stromlinienförmigen Vertretern der sog. Zivilgesellschaft darstellen kann.

  • Tony Addy stellt ein Ausbildungsprogramm für angehende Community-Researcher vor und unterstreicht die Wichtigkeit eines biografischen Ansatzes, der die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen derjenigen, die ein Gemeinwesen erforschen und denjenigen, die in einem Gemeinwesen leben, in den Blick nimmt.

  • Peter Szynka berichtet über die Arbeit des Community Organizers Saul D. Alinsky (und seinen Umgang mit Ressentiment) sowie über die Hintergründe seines Ansatzes und dessen Rezeption in Deutschland.

  • Daran schließt sich ein bislang unveröffentlichtes Interview mit C. Wolfgang Müller (1928 bis 2021) an, der als erster einen Text von Alinsky in Deutschland publiziert hat.

Sucht man nach einem nicht zu kleinen gemeinsamen Nenner in diesen Artikeln, wird er in der hiesigen Lesart in der Selbst-Mit-Bestimmtheit des Lebens gesehen. Diese Wortschöpfung ist gewählt, um die Doppelstruktur zu betonen, in Abwandlung der frühen sozialdemokratischen ParoleFootnote 1: „Das Ziel ist alles, aber es bestimmt sich aus dem richtigen Weg, es zu erreichen“.

Die Partizipationsdebatte – der Begriff ist vom lateinischen pars capere angeleitet – ist eng mit dem Begriff „Macht“ verbunden und spiegelt deshalb die Probleme von Machtverhältnissen wider: die Ausübung von Kontrolle über Menschen, aber auch im einfachen Verständnis von Befähigung oder Fähigkeit: ein Auto zu steuern oder ein Werkzeug zu benutzen – im Französischen umfasst das Wort pouvoir beide Aspekte, im Deutschen kennen wir die Konnotationen von machen und Macht; darüber hinaus geht es aber um Regeln – spezifisch in Form von Regelmäßigkeiten sowie als Herrschaft über Menschen – wobei es für letzteres auch Werkzeuge gibt. Das altmodische Lineal (im englischen ruler) ist ein einfaches Instrument. Das englische Wort aber umfasst beide Dimensionen: ein Instrument, das hilft, Linien zu ziehen, und eine Person, die ein Land regiert. In jedem Fall ist es von größter Bedeutung, die Ambiguität von Macht zu thematisieren:

  • als Bereitstellung von Orientierung zur Erlangung individueller Freiheit und

  • als Mittel zur Ausübung von Kontrolle, also der Einschränkung der Freiheit.

Diese Ambiguität muss auch bei der Betrachtung von Partizipationsstrategien und speziell des Community Organizing gründlich berücksichtigt werden: Es geht um vorhandene Strukturen und Prozesse, die eine Gesellschaft prägen. Diese werden grundsätzlich nicht von Menschen durch das „gesellschaftliche Leben“ definiert; vielmehr spiegeln sie jene Interessen wider, die den Produktionsprozessen zugrunde liegen. Mit anderen Worten: es geht um das Interesse an reibungslosem und profitablem Wirtschaften, um die Sicherung des herrschenden Akkumulationsregimes, und um das ungestörte Regieren und Verwalten. Anders formuliert: es geht um die Art und Weise, wie und was wir produzieren und konsumieren – dies aber nicht nur im Sinn kapitalistischer Profithascherei, sondern als Frage des Reichtums einer Nation. In der Tat spielt hier ein wenig Adam Smith hinein; aber es geht um mehr, nämlich um Gemeineigentum, wie es sich beispielsweise im marxistischen Ansatz der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ausdrückt, d. h. jener Mittel, die als Gegenstand der Produktion des täglichen Lebens benötigt werden. Damit sind wir wieder bei Partizipation: Während es auf der einen Seite darum geht, an etwas teilzuhaben, einen Teil von etwas zu nehmen, geht es auf der anderen Seite darum, Teil von etwas zu sein, nämlich Teil des Gründungs- und ständigen Erneuerungsprozesses einer Gesellschaft und ihrer Produktionsprozesse und Reproduktionsmöglichkeiten.

Eine Herangehensweise an diese Problematik fragt nicht „Wer regiert das Gemeinwesen?“, sondern könnte in der Unterscheidung zwischen „Regieren“ und „gutem Regieren“, also Governance, liegen, wobei letzteres nur ein offenes Feld oder einen lockeren Rahmen charakterisiert, der es verschiedenen Akteuren nicht primär ermöglicht, über die Verteilung von Ressourcen zu entscheiden; vielmehr geht es um eine Konstellation, die dem nahe kommt, was Habermas als kommunikatives Handeln bezeichnet. Daraus lässt sich ein idealer mehrstufiger Strukturierungsprozess entwickeln, der schematisch wie folgt aussieht:

  • ein breiter Verfassungsprozess, der den Zeitgeist reflektiert (Umwelt, Rassismus, geschlechtliche Identität …, d. h. derzeit aktuelle Themen), beginnend mit informellen Problematisierungen und Überlegungen zu breiten gesellschaftlichen Themen

  • langsame Systematisierung, Formalisierung und Institutionalisierung von Interessengruppen/Stakeholdern

  • umschlagend in einen „langen Marsch durch die Institutionen“

  • Einbeziehung/Parlamentarisierung

  • psychologische, soziale und sozialpsychologische Vorbereitung und Verankerung von Gesetzen, d. h. die Umsetzung von Moral und Regeln in das wirkliche Leben, bzw. die Schaffung eines Habitus.

  • gesellschaftliche Innovation/Umstrukturierung „per Gesetz“

Nationale und regionale Rechtstraditionen und Rechtsbewusstsein spielen hierbei eine große Rolle. Bei deren Entwicklung handelt es sich um parallele Prozesse, hier an einem Beispiel angeführt: Die Tradition der Sozialisation von Eigentum ist in Deutschland relativ schwach, nicht zuletzt da, wo es nach Art. 15 um die Übernahme des Eigentums durch die eigentlichen Nutzer geht. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob das Ergebnis des Berliner Referendums zur Enteignung der Wohnungsbaugesellschaften tatsächlich das ausgesprochene Ziel, nämlich die Schaffung von Wohnraum, mitträgtFootnote 2, oder ob es eher als Ausdruck allgemeiner Unzufriedenheit mit den Verhältnissen zu sehen ist. Wie dem auch sei, die nächste Problematik zeichnet sich bereits ab: Es geht darum, den Berliner Senat aufzufordern, einen entsprechenden Gesetzgebungsprozess vorzubereiten und einzuleiten – und: die Bewegung, die diesen Prozess initiiert hat, ist immer noch aktiv, wenn auch nicht mehr weithin sichtbar.

Zusammenfassend stehen wir vor der Notwendigkeit, Partizipation differenzierter anzugehen:

  • wirklich relevant ist Partizipation, wenn es um Fragen der Produktion und Reproduktion des täglichen Lebens geht. Offensichtlich ist sie im produktiven Bereich von größter Relevanz; aber die Produktion bspw. von Wohnungen und dem Bedarf für das tägliche Leben reicht viel weiter und geht bis in die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) der Reproduktion von Familienstrukturen hinein und in die Persönlichkeitsentwicklung.

  • Die Frage der Moralentwicklung kann vorerst nur in Anlehnung an Kohlberg so interpretiert werden, dass es auch um die Überwindung von Widerständen gehen wird. Eine mehrstufige Strukturierung bezieht sich auf

    • die individuelle Ebene der Persönlichkeitsentwicklung

    • die Ebene der Vermittler: üblicherweise als Frage der (Nicht‑)Existenz von Akteuren der Zivilgesellschaft angesprochen

    • die Makroebene gesellschaftlicher Machtstrukturen und Verhältnisse

Partizipation allgemein und Community Organizing im Besonderen muss also immer mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Konstellation betrachtet werden. Zu fragen ist, ob die Dinge sich wirklich beeinflussen lassen und ob wir es mit wirklichen Gestaltungsinstrumenten zu tun haben? Oder ob es nur um eine „Verwaltung der Integration“ geht, für die Sandkastenspiele als Ablenkung etabliert werden? Und es geht darum, nicht nur zu sehen, wie diese Maßnahmen eingeordnet werden müssen, sondern auch, welchen politischen Willen wir denn ansetzen können, um die weitere Entwicklung wirklich partizipativ zu gestalten – ganz im Sinne der Forderung, dass die Welt nicht nur interpretiert, sondern auch verändert werden muss.