Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut tritt seit Jahren dafür ein, dass auch Hochschule und Studiengänge Sozialer Arbeit über Schutzkonzepte gegen (sexualisierte) Gewalt verfügen sollen. Sie hat in der Sozialen Arbeit in den vergangenen zwanzig Jahren die Entwicklung und Erforschung von Schutzkonzepten in der Kinder- und Jugendhilfe und auch darüber hinaus grundlegend mitgestaltet und beforscht. Auch international engagiert sie sich für die Verwirklichung der Rechte von jungen Menschen in pädagogischen und sozialen Organisationen. Sozial-Extra-Beirat Wolfgang Schröer sprach mit Mechthild Wolff über die Zukunft von Schutzkonzepten.

FormalPara Sozial Extra:

Wenn wir uns gedanklich in das Jahr 2035 begeben: glauben Sie, dass sich Menschen dann verwundert die Augen reiben, weil es 2022 noch Hochschule ohne Schutzkonzepte und Studiengänge der Sozialen Arbeit ohne Schutzkonzepte gab?

FormalPara Mechthild Wolff:

Wenn ich in die Zukunft schauen soll, würde ich mir wünschen, dass Schutzmaßnahmen gerade in Studiengängen Sozialer Arbeit eine Selbstverständlichkeit sind und Studierende gut informiert sind über das, was Lehrende nicht tun dürfen und an wen sich Studierende im Fall einer Beschwerde wenden können. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, um Schutzkonzepte flächendeckend an Hochschulen zu einer Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Schutzkonzepte haben ja auch etwas damit zu tun, dass ich Menschen ernst nehme, dass ich sie bemächtige und mir ihrer Rechte bewusst bin. Bei den augenblicklichen hochschulischen Entwicklungen bin ich mir andererseits nicht sicher, wo die Reise der Hochschulen hingeht. Wenn Hochschulen künftig mehr zu Unternehmen werden sollen und pyramidenartige Hierarchien aufgebaut werden sollen, dann weiß ich nicht, ob eine Demokratisierung, Lehr- und Lernverhältnisse auf Augenhöhe, eine Achtsamkeit für die allseitige Anerkennung von Rechten überhaupt gewollt und gewünscht sind und ob Schutzkonzepte dann eine Chance haben. Dabei hätten es auch Hochschulen wirklich nötig, denn möglicher Machtmissbrauch liegt so nahe. Abhängigkeitsverhältnisse können an Hochschulen leicht zu Ausbeutung führen und Gewalt kann entstehen, um eigene Interessen durchzusetzen. Da ist die Fakultätssekretärin, die abhängig ist von der Dekanin, da ist die wissenschaftliche Mitarbeiterin, die abhängig ist von der Projektleitung, da ist der Student, der abhängig ist von der Professorin und so weiter. Es gibt viele Akteur_innen und damit auch viele Konstellationen, in denen wir Schutzkonzepte brauchen. Gerade die Studierenden stehen in der Hierarchie am unteren Ende. Seit Jahren wird über Diskriminierung, sexuelle Belästigung, Gewalt oder Machtmissbrauch diskutiert, aber weniger im Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden. Die Studierenden haben rechtlich eine ungeklärte Position, denn sie sind ja keine Angestellten. Insofern müssen die Hochschulen zunächst erstmal eindeutige Auflagen von den Ländern bekommen, um Studierende vor Diskriminierung, sexuelle Belästigung, Gewalt jeglicher Form, Machtmissbrauch zu schützen. Also: ich hoffe sehr, dass die Vision eintrifft, aber auch andere Fachbereiche müssen mit in die Debatte aufgenommen werden. Es ist eben nicht einfach, Status und Vormachtstellung aufzugeben und beispielsweise eine Beschwerdestelle ganz selbstverständlich einzurichten. Aber das wird noch kommen!

FormalPara Sozial Extra:

Sie haben die Entwicklung von Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen entscheidend mitbegleitet. Was sind für Sie grundlegende Bausteine, die diese auch in Hochschulen und Studiengängen auszeichnen sollten?

FormalPara Mechthild Wolff:

Das kann ich an unserem partizipativen Organisationsentwicklungsprozess an der Fakultät Soziale Arbeit in Landshut festmachen. Wir sind seit zwei Jahren in Landshut in einem solchen Prozess, der von einer Arbeitsgruppe gesteuert wird. Beteiligt sind Studierende, Mitarbeiter_innen, Lehrbeauftragte, hauptamtlich Lehrende. Um den gesamten Prozess zu dokumentieren und in Gang zu halten, haben wir eine Mitarbeiterin dafür eingestellt. Begonnen haben wir mit einer Befragung aller Fakultätsangehörigen. Es ging u. a. um mögliche Diskriminierung, um Sexismus, Übergriffe, Machtmissbrauch. Das sind sensible Themen, dafür haben wir für die Befragung ein Ethikvotum bei der Gemeinsamen Ethikkommission der Hochschulen Bayerns (GEHBa) eingeholt. In Workshops wurden die offenen Antworten in der Befragung geclustert, auf diese Weise bekamen auch alle Teilnehmer_innen mit, welche konkreten Beschreibungen es gab. Wir dachten immer, dass wir als Soziale weit entfernt seien von verbalen Übergriffen, Diskreditierungen oder anderem. Wir waren dann doch erstaunt, dass selbst wir als Kollegium, die bewusster mit solchen Themen umgehen, dann doch nicht ganz frei davon sind. Wir haben uns dann vor allem gefragt, wie es an anderen Fakultäten sein mag, die weniger über Macht selbstkritisch reflektieren, die weniger auf partizipative Verfahren setzen. Auf der Grundlage der Ergebnisse haben wir eine Verhaltensampel entwickelt, die jetzt sichtbar für alle an den Eingängen der Fakultät ausgehängt wurde. Daraus haben wir dann einen Verhaltenskodex für uns als Lehrende formuliert, dieser wurde vom Fakultätsrat als Empfehlung für alle Lehrenden beschlossen. Alle Neuen werden über diesen Kodex informiert. Derzeit arbeiten wir noch an einem niederschwelligen Feedback-Portal für Studierende, auf dem Beschwerden und positive Feedback und Vorschläge und Anregungen übermittelt werden können. Wir arbeiten noch an der technischen Gewährleistung der Anonymität. Zeitgleich erstellen wir gerade ein etwas größeres Informationsfaltblatt für Studierende, das sie über ihre Rechte, interne und externe Anlaufstellen und Vertrauenspersonen in Not- oder Unrechtssituationen informiert. All diese Maßnahmen werden wir in einem Konzept zusammenstellen, dass dann auch auf der Homepage der Fakultät zu finden ist. Derzeit haben wir viel entwickelt, das Konzept wird alles zusammenbinden. Der gesamte Prozess war sehr aufwändig und wir mussten dranbleiben.

FormalPara Sozial Extra:

Lassen sich Schutzkonzepte in Hochschulen überhaupt mit Schutzkonzepten in der Kinder- und Jugendhilfe vergleichen? Wo sehen Sie Unterschiede und was sind die größten Zukunftsherausforderungen?

FormalPara Mechthild Wolff:

Die eben beschriebenen Maßnahmen, wie z. B. Beschwerdemöglichkeiten, Informationen über die Rechte, eine Verhaltensampel – das sind alles Prozesse, die ich auch aus Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen im Zusammenhang mit Schutzkonzepten kenne. Das ist dort nicht anders. An Hochschulen sind wir allerdings viel hierarchischer aufgestellt. Zudem arbeiten wir mit Erwachsenen auf Augenhöhe – oder sollten es zumindest. In Jugendhilfeeinrichtungen gibt es andere Abhängigkeitsverhältnisse, dort sind junge Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Studierende geraten in Abhängigkeiten, weil ihre Leistungen von den Bewertungen und Beurteilungen abhängig sind. Es kann sein, dass einige Studierende vorher Betroffene von Gewalt waren, dann sind sie auch emotional oder psychisch auf Hilfe angewiesen – aber das ist nur ein Teil. Insofern ist die Währung für mögliche Abhängigkeiten eine andere, aber überall müssen die entstehenden professionellen Beziehungen auch an einer Hochschule ständig reflektiert werden und Nähe und Distanz muss in einem offenen Dialog reguliert werden. Diesen offenen Dialog an einer Lehreinrichtungen hinzubekommen, ist meines Erachtens die größte Herausforderung, weil nicht alle sich diesen Themen stellen wollen.

FormalPara Sozial Extra:

Ist die Soziale Arbeit hier insbesondere in der Pflicht, für Schutzkonzepte an Hochschulen zu streiten? Betrifft die Herausforderung gar nur die Soziale Arbeit oder die Hochschule insgesamt?

FormalPara Mechthild Wolff:

In sozialen Einrichtungen sind wir seit elf Jahren dabei, die Gefahren des Machtmissbrauchs, des Unrechts an Schwächeren in der Hierarchie besser zu verstehen und Abhilfe durch Schutzkonzepte zu schaffen. Schutzkonzepte sind inzwischen in einigen Bereichen eine gesetzliche Aufgabe. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir Menschen ausbilden wollen, die selbstverständlich in der Praxis Schutzkonzepte erarbeiten sollen, müssen sie an Hochschulen mitbekommen, wie das geht und dass sie eine Selbstverständlichkeit sind. Das Thema beschränkt sich nicht auf die Soziale Arbeit, eigentlich sind die Themen auch an anderen Fakultäten wichtig. Wir werden demnächst über unser Schutzkonzept und unsere entwickelten Maßnahmen informieren und sie campusweit ins Gespräch bringen. Wir sind uns sicher, dass wir konstruktiv irritieren werden. Aber wir sind uns auch bewusst, dass wir als Fakultät Soziale Arbeit an Hochschulen die Aufgabe haben, tabuisierte Themen auf die Agenda zu setzen und für die Rechte derer einzustehen, die nicht mit den gleichen Privilegien ausgestattet sind wie wir als Lehrende.