FormalPara Die Gesprächspartnerin:

Sandra Schäfer, CH-Zürich, Jugendarbeiterin und Programmleiterin von „du-bist-du“, ein Programm der Sexuellen Gesundheit Zürich (SeGZ). sandra.schaefer@mojawi.ch

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Sandra Schäfer

Über Verliebtheit, Begehren oder sexuelle Orientierung zu sprechen, ist – sowohl für Jugendliche als auch für Jugendarbeiter_innen – immer noch verunsichernd und mit Scham behaftet. Erfrischend offen berichtet dagegen Sandra Schäfer im online-Gespräch mit Stefanie Duttweiler von ihren Erfahrungen in der Offenen Jugendarbeit.

Das folgende, leicht gekürzte Gespräch fand anlässlich der Tagung „Starke Gefühle. Vom Umgang mit der Körperlichkeit anderer“ an der Berner Fachhochschule statt und kann vollständig nachgehört werdenFootnote 1:

FormalPara Stefanie Duttweiler:

Immer wieder kommt es zu Liebesbeziehungen zwischen Fachpersonen und Jugendlichen. Warum ist das eigentlich so?

FormalPara Sandra Schäfer:

Gute Frage! Ich glaube – kurz und knapp gesagt – das ist so, weil man als pädagogische Fachperson, die mit Kindern und Jugendlichen oder anderen Menschen zusammenarbeitet, extrem nah ist und sehr viel Zeit mit dem Klientel verbringt. Wir haben zum Beispiel zwei- bis dreimal in der Woche Offenen Jugendtreff und jeweils drei bis vier Stunden aufsuchende Arbeit. Da lernt man sich auf einer Ebene kennen, die sehr schnell sehr tief werden kann. Die Jugendlichen zeigen sehr oft, wie es ihnen geht und dann stellt man selbst – als Aspekt der Fachlichkeit – seine eigenen Gefühle und wer man ist und was einem umtreibt den Jugendlichen zur Verfügung. Je besser man sich kennenlernt, desto toller kann man sich auch finden. Und dann stellt sich die große Frage: Was mache ich mit dem?

FormalPara Stefanie Duttweiler:

Diese Frage würde ich gerne zurückgeben!

FormalPara Sandra Schäfer:

Genau, was mach’ ich mit dem? Was mir ein Anliegen ist in diesen Situationen, ich versuche – je nach Situation – einen offenen Umgang damit zu finden. Es kommt ja vor, dass man Angst vor den Emotionen hat. Das ist eigentlich komplett unberechtigt. Ich finde, das macht die Situationen schwierig und irgendwie konfus, wenn offensichtlich Sachen im Raum stehen und wenn man sie dann nicht anspricht oder unter den Teppich kehrt und irgendwie tabuisiert. Ich finde es wichtig, dass man einen offenen Umgang hat, ich finde es wichtig, dass man das ansprechen kann.

Aber es kommt natürlich extrem drauf an, in welchem Kontext. Natürlich! Also ich muss ein Beispiel bringen: Das war im allerersten Praktikum in der Offenen Jugendarbeit. Da war ich 21 und wir hatten damals Jugendliche zwischen 19 und 20 Jahren. Und dort hat sich das auch ergeben, dass sich zwischen der einen jugendlichen Person und mir Emotionen ergeben haben. Da war der Umgang dann damit, dass wir klar gesagt haben: Solange ich noch dort schaffe, solange es noch das Gefälle von pädagogischer Person und Klientin gibt, kann das nicht Teil des Alltags sein und wir schauen, was wir danach damit machen. Sonst ist es mir in meiner Laufbahn noch nie passiert, dass ich als erwachsene Person Interesse gehabt habe an sehr viel jüngeren Jugendlichen.

Aber was natürlich passiert ist, dass die Jugendlichen einen interessant finden oder dass sie das Gefühl haben. Ich habe es schon ein paar Mal erlebt, dass Jugendliche zu mir gesagt haben: „Oh Sandra, ich glaube, ich habe mich in Dich verknallt“ Und auch dort – ich finde es ganz wichtig: das Wahrnehmen und das Ernstnehmen von diesen Gefühlen. Das man sagt: „Ich danke Dir, dass Du das offen kommunizierst – und jetzt: Was machen wir damit?“ Und auch die Grenze aufzeigt: Das ist nicht im Bereich des Möglichen, das auszuleben. Aber was ich auch versuche, ist herauszufinden, warum denn, was ist es denn? Häufig sind es auch Projektionen. Sie haben das Gefühl, das ist jetzt Verknalltheit, aber wenn sie genauer hinschauen, merken sie, das ist eher das Bild, das sie von mir gehabt haben.

Den Gefühlen auf den Grund gehen

Stefanie Duttweiler:

Da würde ich gerne nochmal den Punkt weiter ausloten, dass die Gefühle einen Grund haben.

Sandra Schäfer:

Ich möchte zunächst nochmal vorausschicken: ich spreche von mir und meinen persönlichen Erfahrungen. Daher hat es mit mir als Person etwas zu tun! Ich habe das Thema aufgeworfen, denn ich identifiziere mich selbst als queer und als lesbisch. Und ich lebe meine geschlechtliche und sexuelle Orientierung offen bei der Arbeit. Die Jugendlichen wissen, dass sie einer queeren Person begegnen, sie wissen, dass ich lesbisch bin.

Um nun darauf zu antworten, was der Grund für die Gefühle ist: Ich habe es oft erlebt, dass junge Mädchen im Prozess der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Sexualität oder Geschlechtsidentität merken: „Vielleicht ist hetero nicht das richtige Label für mich oder vielleicht ist auch die Einteilung ins binäre System von Geschlecht nicht das Richtige für mich.“ Sie befinden sich vielleicht in dem ganzen struggle, den all das mit sich führt. Und dann haben sie im Jugendtreff das schillernde out-and-proud-Vorbild, das ich bin. Ich bin laut und queer und stolz und hänge das auch gern und häufig an die große Glocke. Dann entsteht so ein Vorbildcharakter: „Wow! Das ist auch eine Art von Identität, so kann man leben, so kann man fühlen. Das ist ja gar nicht so schlimm. Die wirkt zufrieden und ganz glücklich mit ihrem Leben.“ Und dann entsteht so was: „Ich möchte das auch sein, ich möchte das auch haben.“ Dann kommt es vielleicht zu einer Glorifizierung und man bildet sich ein, dass man sich in mich verliebt hat. Sie verlieben sich in das Bild von mir. Das hat dann gar nicht so viel zu tun mit mir.

Und dann ist es mir ein Anliegen, zusammen mit dem jungen Mädchen oder dem Jugendlichen herauszufinden: Was ist es denn? Ist es die Faszination oder geht es weiter? Häufig – also in meiner Erfahrung war es dann immer so: Ah – eigentlich ist es der Prozess, in dem Du dich befindest. Und in dem kann ich Dir ganz fest helfen. Wir müssen das nicht auf einer Gefühlsebene aufstellen, die in dem Sinn eigentlich nicht real ist.

Stefanie Duttweiler:

Also das hört sich wahnsinnig professionell und richtig an – aber auch eine absolute Herausforderung – auch von Seiten des Mädchens! Die eigenen Gefühle in Frage stellen zu lassen und so. Vielleicht kannst Du nochmal was dazu sagen, wie so ein Prozess abläuft.

Sandra Schäfer:

Ja, ich kann – jahrelanger Erfahrung sei Dank – das an einem konkreten Beispiel festmachen. Da ist ein junges Mädchen, die ich jetzt schon bald vier bis fünf Jahre kenne. Mittlerweile ist sie 15 oder 16. Schon als ich sie kennengelernt habe, habe ich gedacht: Das könnte eine Person sein, wo Queerness – in welcher Form auch immer – vielleicht ein Thema werden könnte. Dementsprechend habe ich versucht, feinfühlig zu sein auf Aussagen oder auf Facetten ihres Verhaltens, die drauf hinweisen, dass das ein Thema sein könnte. Sie hat den Fokus extrem schnell auf mich gelegt: ihr war es eigentlich egal, ob noch andere Jugendliche da waren oder andere Jugendarbeitende. Sie ist mir – auf deutsch gesagt – ‚an der Backe geklebt‘ und hat sich an mir orientiert. Und das hab‘ ich dann auch ganz fest zugelassen, denn ich habe gemerkt, dass sie es braucht, dass sie Orientierung braucht. Und ganz schnell sind dann auch von ihr Fragen gekommen: „Wann hattest Du dein Coming-out? Wie hat es sich für Dich angefühlt? Wie haben Deine Eltern reagiert?“ Solche Fragen fragen viele Jugendliche aus Interesse – aber man merkt dann schnell, wie es gefragt wird – ob sie für sich Antworten suchen oder ob es ein generelles Interesse ist. Und bei ihr hab’ ich sehr schnell gemerkt: Sie setzt sich damit auseinander. Sie hat eigentlich ein positives Beispiel gesucht. Und in diesem Prozess ist sie dann mal gekommen und hat gesagt: „Oh Sandra, ich find Dich mega lässig, ich denk mega viel an Dich!“ Und dann – weil die Beziehung schon sehr gut und sehr tief gewesen ist – konnte ich sie ganz konkret fragen: „Was empfindest Du denn, wenn Du an mich denkst? Was für Gedanken machst Du dir denn?“ Und dann haben wir in vielen Gesprächen herausgefunden, dass ich in ihr den Wunsch nach dem Leben, das ich lebe, angetriggert habe. Sie wollte einfach so sein wie ich, bzw. so ein Leben haben. Und weil sie nicht wusste, wie sie das machen kann, oder wie sie zu Gleichgesinnten kommt, hat sie dann das Gefühl ganz fest auf mich gestülpt. Ich hab’ dann zusammen mit ihr geschaut, wo sie eine queere Jugendgruppe finden kann, und wo sie sich engagieren kann.

(Selbst‑)Reflexion braucht Offenheit und engagierte Begleitung

Stefanie Duttweiler:

Merci – das zeigt ja viel auf, was vorhin angetönt wurde. Das Ernst-nehmen und Spüren, was die andere Person empfindet, und auch, dass Vertrauen da war. Wenn wir jetzt nochmal auf die Frage der Leiblichkeit eingehen: Du hast Dich nicht verführen lassen, Du kanntest die Mechanismen in der Beziehung. Du hast eigentlich gar keine Verhaltensregeln gebraucht.

Sandra Schäfer:

Das hat aber so seine Gründe. Das ist mein Erfahrungsschatz. Das ist passiert nach vielen Jahren Jugendarbeit, nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit mir, mit meinen Projektionen, mit meiner Körperlichkeit. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders. In meinem ersten Praktikum, wo die Jugendlichen so alt waren wie ich, da habe ich gemerkt: Das ist ein Riesen-Thema! In einer privaten Situation wären das alles potenzielle Partnerinnen, die man vielleicht interessant finden würde – und das auch dürfte! Und da musste ich merken: Das ist jetzt interessant, was mit mir passiert!

Wo ich gearbeitet habe, gab es eine Kultur von Begrüßung mit einer kurzen Umarmung – auch zwischen den Sozialarbeitenden und den Jugendlichen. Das finde ich etwas ganz Schönes – aber dort hab’ ich zum ersten Mal gemerkt: Das macht etwas mit mir. Da musste ich mich ganz fest mit dem Thema auseinandersetzen: Was triggert mich und warum? Was hat das mit meinem Selbstwert zu tun? Da finden mich andere Leute attraktiv! Wie gehe ich damit um? Lasse ich das zu? Aber zu wissen: Ich darf das nicht zulassen, da die Position und Rolle eine andere ist.

Aber ich hatte ein unglaublich gutes Team und einen ganz guten Praktikumsanleiter, der interessanterweise auch schwul ist. Er hat mit mir dann ganz fest an dem Thema gearbeitet. Ich glaube, dadurch, dass er auch schwul ist und wir daher schon eine andere Verbindung zueinander hatten, hatten wir von Anfang an einen einfacheren Umgang mit unseren Gefühlen gefunden. Wir haben dann ganze Praktikumsanleitungsgespräch damit verbracht, darüber zu diskutieren: Nähe und Distanz, was bedeutet das? Wie kann ich mich abgrenzen? Was gibt es für Tricks und Kniffe? Wie kann ich mich aus einer Situation rausziehen? Oder was kann er machen, wenn er merkt, ich befinde mich in einer Situation, wo ich nicht mehr rauskomme. Das hat mir extrem viel gebracht.

queere Communitiy unterstützt das Ent-schamen

Stefanie Duttweiler:

Was ich interessant finde: Hilfreich waren nicht institutionelle Regeln, sondern der Austausch mit dem Praxisanleiter. Hat das eigentlich was damit zu tun, dass er schwul war?

Sandra Schäfer:

Also ich würde jetzt nicht sagen, dass das eine Grundvoraussetzung ist – aber ich würde schon sagen: der queere Kreis, der ist offener, der ist inklusiver, der ist sexpositiv. Sexualität wird als ein Teilaspekt des gesamten menschlichen Daseins gesehen – und das erleichtert die Auseinandersetzung. Das heißt natürlich nicht, dass das mit Heteros nicht möglich ist, aber es ist einfacher, auf so eine Ebene zu kommen – ohne Scham!

Apropos Scham – ich könnte mir vorstellen, dass es auch bei den Jugendlichen schambesetzt ist und daher schwieriger ist, darüber zu sprechen. Tragischerweise ist das in unserer Gesellschaft immer noch so, dass alles, was von Heteronormativität oder der Binarität der Geschlechter abweicht, schambehaftet ist. Dementsprechend ist das Thema Scham immer präsent, wenn sich ein junger Mensch auf den Weg macht. Weil man anders ist, man nicht dazugehört, seinen Platz finden muss.

Ich habe die Erfahrung gemacht – die sich durch das ganze Leben zieht: Wind aus den Segeln nehmen! Schamhaft besetzt werden Themen, in dem Du sie schamhaft behandelst. Ent-schamen, indem man darüber redet! „Ja, ich merke, für Dich ist das schwierig. Das musst Du nicht!“ Ich erzähle dann von meiner Erfahrung, ich erzähle offen und ehrlich, ich mache Aussagen, von denen andere sagen würden: „Was, Du erzählst so offen darüber?“ Dann antworte ich: „Ja, wieso nicht? Wieso sollte man nicht offen über Begehren sprechen oder über Emotionen?“ Ich verstehe grundsätzlich nicht, warum das schambesetzt ist. Ich habe aufgehört, mich zu schämen. Weder für mein Körper oder für mein Begehren. Und das versuche ich ganz fest in die Welt zu tragen.

Sich selbst als Reibungsfläche anbieten – und engagiert Grenzen setzen

Stefanie Duttweiler:

Ist es nicht auch ein Schutz, dass man sich nicht so offenbart?

Sandra Schäfer:

Ja – ich mache ja das genaue Gegenteil: Ich offenbare mich – und mache mich damit auch extrem angreifbar und extrem verletzlich. Also durch meine Offenheit, dass ich mich zur Verfügung stelle, gebe ich eine Angriffsfläche, gebe ich ihnen Reibungsfläche und die Möglichkeit, meine Grenzen auszuprobieren und zu überschreiten. Und sie nutzen das aus – ich werde diskriminiert, ich werde beschimpft und komisch und minderwertig dargestellt. Aber ich habe mich ganz bewusst entschieden, mich dafür anzubieten. Weil ich mein Selbstwert nicht von anderen abhängig mache, ob andere finden, lesbisch sein ist krank. Ich habe mich entschieden, dass ich mich auf die Diskussion einlassen darf und kann. Dass ich den Jugendlichen ermöglichen kann, sich damit auseinander zu setzen. Ich hatte einen Jugendlichen, der hat drei Jahre gebraucht. Am Anfang hat er mich nicht einmal eines Blickes gewürdigt, von dem Moment an, als er mitgekriegt hat, dass ich lesbisch bin, bis dahin, dass er mich extrem beschimpft hat, so: „Wäääh, das ist so eklig, Du musst mal gefickt werden“ – all die ganz ganz schlimmen Sachen. Ich bin drei Jahre drangeblieben bei ihm, so dass er nachher meine Coming-out-Geschichte erzählt hat und sein abschließender Satz war immer: „Es ist voll ok, denn sie ist wirklich cool. Und wenn ihr etwas gegen sie habt, dann könnt ihr wieder gehen.“ Das war aber nur so, weil ich mich drei Jahre dem ausgesetzt habe, dass er sich an mir reiben konnte, dass er meine Grenzen ausprobieren konnte. Und ich ihm jedes Mal sagen konnte: Bis hierher und nicht weiter. Aber jedes Mal, wenn er sie überschritten hat, hab‘ ich ihm immer wieder die Chance gegeben, neu anzufangen. Wenn er mich am Mittwoch beleidigt hat, bin ich am Freitag wieder zu ihm hin. Ich bin dagewesen und habe immer wieder neu angefangen. Und das ist extrem schwierig! Das ist streng und das zehrt! Aber ich habe das mal entschieden und ich kann da nicht mehr weg. (lacht) Das ist jetzt so! Aber um nochmal auf die Frage mit dem Schutz zurückzukommen: Heute brauche ich mich nicht mehr so schützen, heute prallt das an mir ab – früher nicht! Es hat mit mir und meiner Auseinandersetzung mit Welt und so zu tun.

Stefanie Duttweiler:

Aber Du schützt ja auch die Jugendlichen, da Du sagst: Sie brauchen keine Angst zu haben, z. B. sich in Dich zu verlieben. Man braucht eigentlich keine Angst zu haben: Weder Du noch die anderen.

Sind queere Menschen offener?

Stefanie Duttweiler:

Warum sind eigentlich queere Menschen offener?

Sandra Schäfer:

Als queerer Mensch wirst Du in relativ jungen Jahren gezwungen, Dich mit gewissen Themen auseinanderzusetzen. Ich musste mich spätestens mit 14 Jahren damit auseinandersetzen, dass ich offensichtlich nicht in die Gesellschaft passe: Ich sehe nicht so aus, wie ich aussehen müsste, dann begehre ich anders, ich denke anders. Ich habe mich ganz, ganz früh damit auseinandersetzen müssen: Wer bin ich, wer bin ich nicht? Stimmt das für mich? Und dann merken zu müssen, das, was alle leben, stimmt nicht für mich. Spätestens wenn man merkt: vielleicht liegt das daran, dass ich eine andere sexuelle Orientierung habe oder eine andere Geschlechtsidentität für mich passt. Spätestens dann, wenn ich das nach außen tragen will, bin ich mit Ablehnung konfrontiert, mit Diskriminierung und ich muss mich mit dem auseinandersetzen. Das ist ein so elementarer Teil von einem selbst, das macht Menschen so fest aus. Und wenn man so jung gezwungen ist, bleiben einem eigentlich nur zwei Varianten übrig: Entweder man wird offen und flexibel und optimaler Weise loud-and-proud oder mal lässt sich unterkriegen und man wird dann verkorkst, verbittert. Das ist eine Entscheidung: was macht man damit!

Stefanie Duttweiler:

Das ist ja eigentlich traurig, dass Heteros und Cis-Menschen das nicht müssen. Das würde ich jetzt auch als Appell verstehen, dass sie das auch müssten.

Sandra Schäfer:

Ja – mega fest! Also ich thematisiere das auch mit allen Jugendlichen, in dem ich sie ganz plakativ frage: „Wann hast Du eigentlich gemerkt, dass Du auf Frauen stehst?“ So ad absurdum treiben und die Diskussion anregen, dass sie merken, das ist ja wirklich komisch. Das funktioniert manchmal – manchmal nicht.

Vielschichtiges Begehren darf sein

Stefanie Duttweiler:

Unser Oberthema ist ja Begehren und Sexualität. Hier fragt noch jemand: Stört Begehren in unserer Leistungsgesellschaft?

Sandra Schäfer:

Ja! Denn es stört die Leistung. Ja, plakativ ja – aber unglaublich traurig und schade.

Stefanie Duttweiler:

Vielleicht hat es auch damit zu tun, weil Begehren uns selbst in Frage stellt. Lass ich mich auf das Ende einer alten Beziehung ein, lass ich mich auf eine neue Beziehung ein? Begehren will ja, dass daraus etwas erwächst. Das kann man ja nicht so stehen lassen.

Sandra Schäfer:

Doch ich finde, man kann es stehen lassen. Es hat auch eine spannende, reizvolle Komponente, dass Begehren da ist und es stehen zu lassen. Und nicht weiter drauf einzugehen. Stattdessen zu sagen: „Ok, es ist da. Es kommen Gefühle und Gedanken, sie dürfen sein und dann dürfen sie auch wieder gehen“. Oder Begehren: Das Gefühl ist da – „aber Du darfst auch wieder gehen“. Das ist ein Experiment, so eine Übung – das kann man ja mal probieren.

Stefanie Duttweiler:

Was verstehst Du denn genau unter Begehren?

Sandra Schäfer:

Begehren ist ganz vielschichtig. Begehren kann eine rein körperliche Komponente, aber auch eine emotionale oder eine intellektuelle Komponente haben oder sein. Ich bin z. B. ein Mensch, bei dem stellt sich Begehren erst ein, wenn mich die Person vor allem auf einer intellektuellen Ebene abholt – auch wenn ich einen Menschen auf den ersten Blick nicht körperlich anziehend finde. Ich begehre ganz, ganz, viele Menschen – weil sie mich auf ganz vielen Ebenen berühren. Damit gehe ich offen um: Du weckst in mir ein Begehren, ein körperliches, ein intellektuelles oder so. Und: Das ist nicht schambehaftet!

Erarbeiten und Erleben von Offenheit – in Communities

Stefanie Duttweiler:

Da schließt sich für mich eine weitere Frage an: Welche Bedeutung hat die Community für das Ent-Schamen?

Sandra Schäfer:

Eine mega-mega große! Zum Beispiel ist der Zugang zu Gleichgesinnten enorm wichtig. Und genau darum versuche ich, der Zugang zu Gleichgesinnten für Jugendlichen zu sein. Denn damals, als ich damals gemerkt habe, ich ticke anders, habe ich ganz viel Halt durch die community bekommen. Bei uns gab es eine facebook-ähnliche community, über die ich meine ersten Freundschaften und Beziehungen hatte. Das war der Moment in meinem Leben, wo ich allein in meinem Zimmer saß und völlig verunsichert war und auf die Plattform aufmerksam wurde. Und dann die Erkenntnis: „Wow! Da gibt es ja noch ungefähr Millionen andere wie ich! Ich bin nicht allein!“ Und da den Rückhalt zu spüren, wo ich jede noch so absurde Fragen stellen kann, wo ich nicht ausgelacht, sondern verstanden werde. Das ist extrem wichtig. Darum ist auch ‚du-bist-du.ch‘ so wichtig! Achtung Eigenwerbung! Weil junge Leute anderen jungen Leuten, die in dieser Phase sind, Orientierung geben. Und das ist mega wichtig!

Stefanie Duttweiler:

Bei dieser Frage war ja wahrscheinlich die queer-community gemeint. Aber da will ich mal Eigenwerbung für unsere Profession machen. Man könnte das ja auch weiter denken. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität bräuchte es ja vor allem Leute, die ähnlich denken. Bzw. mit denen man gemeinsam eine Offenheit erarbeitet – in der Supervision oder einer anderen Gruppe. Dieses Moment, das du beschreibst, das man Leute findet, die so ähnlich ticken wie man selber, das ist ja nicht nur auf queere communities beschränkt. Die ganze Auseinandersetzung mit dem, was einem widerfährt, wie man sich fühlt, womit man sich auseinandersetzen muss, die findet man ja auch in anderen communities. Das heißt, es wäre wichtig, diese zu pflegen, um zu lernen, sich zu ent-schamen!

Sandra Schäfer:

Absolut ja!

Stefanie Duttweiler:

Ich muss jetzt eigentlich kein Schlusswort sprechen. Möchtest Du noch ein Statement machen?

Sandra Schäfer:

Herzlichen Dank an Alle, die sich für dieses Thema interessieren und es weitertragen, und so letztlich einen Teil dazu beitragen, dass die Welt ein bunterer Ort wird. Das wäre schön!

Stefanie Duttweiler:

Das ist ein großartiges Schlusswort. Ganz herzlichen Dank!!