figure a

Das Buch darf als eine kritische Bilanz seines Autors gelesen werden, der 45 Jahre in der Sozialen Arbeit tätig und engagiert war – zehn Jahre als Praktiker, 25 Jahre als Hochschullehrer und 20 Jahre als Supervisor. Das Buch artikuliert zum einen die tiefgehende Unzufriedenheit des Autors mit dem Zustand des Studiums und der Akademisierung der Sozialen Arbeit an den Hochschulen der letzten 50 Jahre. Zum anderen kann das Buch auch als Weckruf eines skeptischen Optimisten, wie der Autor sich selbst beschreibt, gelesen werden. Die erhobene Klage richtet sich nicht, wie in einigen Veröffentlichungen der letzten Jahre, gegen die durch Ökonomisierung und neoliberale Instrumentalisierung erfolgte Zurückstutzung der Sozialen Arbeit. Sie richtet sich auch nicht, je nach politischer Konjunktur, gegen das Hofieren oder das Anbieten der Sozialen Arbeit als Retterin in der politischen Not und auch nicht um die unkritischen Selbstbeschränkungen von Sozialarbeitenden (Sorgearbeiterinnen und Sorgearbeitern) in der sozialarbeiterischen Praxis. Entsprechend will der Autor auch nicht das professionelle wie gesellschafts- und berufspolitische Mandat der Sozialen Arbeit abermals verteidigen, begrifflich konturieren und theoretisch schärfen. Davon ist in diesem Buch zwar auch die Rede, primär geht der Unmut aber an die eigene Adresse. Und das bedeutet danach zu fragen, inwieweit die Professionalisierungsbemühungen der Sozialen Arbeit in Theorie und vor allem hochschulischer Praxis dazu beitragen oder beigetragen haben, Studierende und Praktikerinnen für den Umgang mit den notorischen Ungewissheitsbedingungen ihrer Praxis auszurüsten. Eigentlich sollten die widersprüchlichen dilemmatischen, von Mehrdeutigkeit und Ungewissheit geprägten Handlungsanforderungen von Sozialarbeitenden durch wissenschaftlich gesichertes Wissen handhabbarer sein. Real würde, so der Verdacht bzw. die Beobachtung des Autors, eher ein akademischer Habitus übergestülpt und ein abstrakter ethischer Haltungskodex vermittelt, auf die man sich in ambigen und ambivalenten Situationen zurückzieht. Meistens würde in Studium und Praxis der Transfer von funktionalen Theorien in selbstreflexive Handlungskompetenz misslingen, weil die emotionalen und personalen Grundlagen des Handelns der Professionellen vernachlässigt werden.

So seien vor all makrosoziologisch fundierte Theoriekonzepte, „… nicht frei von dem Verdacht, dass die Praxis bzw. der Profession lediglich ein akademischer Habitus übergestülpt werden soll und Professionalität auf eine rein rationale Strategie der Übernahme und Anwendung wissenschaftlichen Wissens oder normativer Vorgaben reduziert wird.“ (29). „Ethikcodes können zwar eine orientierende Basis für eine angemessene Haltung schaffen, jedoch sind sie in der Umsetzung als konkrete Interventionsempfehlungen kaum praktikabel, Sozialarbeitende, die ihre Arbeit nicht mit ihrer fachlichen Kompetenz (Wissen und Können), sondern ganz überwiegend über ihr politisches, humanitäres und soziales Engagement sowie ihre Zugehörigkeit zu einer Tugendgemeinschaft begründen, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Handlungskompetenz kaum noch von freiwilligen und ehrenamtlichen Engagement und stellen damit die Relevanz und Qualität ihrer gesellschaftlichen Aufgabe in Frage.“ (158/159).

Der blinde Fleck sei eigentlich die Frage, wie „… Professionelle mit solchen Unsicherheitsgefühlen, Ambivalenzen und Dilemmata umgehen“ (31). Vor allem die sozialarbeiterische und eben auch die hochschulische Praxis sei immer noch durch ein „Kausalbegehren“ (Günter Kunert) geprägt. Praktiker_innen und Studierende geraten so schnell in eine „Eindeutigkeitsfalle“, der sie durch Simplifizierung als Komplexitätsreduktion entfliehen und wesentliche Aspekt eines Phänomens ausblenden.

Um deutlich zu machen, worum es hier geht, spannt der Autor einen großen argumentativen Bogen: Erkenntnis-, wissenschafts- und entscheidungstheoretische Grundlagen über Ungewissheit und Unsicherheit werden in Beziehung zu psychologischen und neurowissenschaftlichen Theorien und Modellen des Handelns unter Ungewissheitsbedingungen gesetzt. Die Wissenschaft Sozialer Arbeit wird eindringlich noch einmal als Handlungswissenschaft skizziert, die Handeln und Wissen anders relationiert als die pure Anwendungslogik wissenschaftlichen Wissens nahelegt.

Die Leser_innen erfahren viel Plausibles über unproduktive (defensiv vereinseitigende) Umgangsweisen mit „überfordernden“ sozialarbeiterischen Hilfekonstellationen, die das widersprüchliche wie fragile Arbeitsbündnis zwischen Sorgearbeitenden und Hilfsbedürftigen immer wieder gefährden können. Aus den hybriden Handlungslogiken und Regulationsprinzipen der Sozialwirtschaft mit ihrem zentralen Kräftefeld des Wohlfahrtsdreiecks leiten sich immer wieder Strukturkonflikte ab, die notorisch zu Entscheidungs- und Handlungsunsicherheit für die Akteure führen können.

„In der Praxis sind solche Fragen (zwar, S.B.) Gegenstand fallbezogener Reflexion in der Supervision oder Intervision. Im Rahmen theoretischer Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit werden diese Mehrdeutigkeiten aber kaum beleuchtet, weil sie von vielen Theorien primär das Problem einer situativ unterschiedlichen Praxis aber nicht als Bestandteil einer verallgemeinerbaren Theorie angesehen werden.“ (168). (Hier hätte der Autor allerdings doch einiges an professionstheoretisch Vorgedachtem über den grundsätzliche Strukturkonflikte und Handlungsparadoxien professionellen Handelns aufnehmen können – Oevermann, Schütze, Dewe, Helsper etc.). Und an dieser Stelle führt der Autor sein Konzept der „Selbstkompetenz“ (professioneller Handlungskompetenz) ein, welches eher persönlichkeitspsychologisch als professionssoziologischer Provenienz ist. „Selbstkompetenz“ wird als Kompetenz zur Herstellung und Erhaltung professioneller Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit verstanden. Hier schließt sich der aufmerksamen Leserin tiefenschärfend einiges auf, um Phänomene des kompetenten und inkompetenten Umgangs mit sozialarbeitspraktischen Fragen besser beobachten, beschreiben und reflexiv begleiten zu können. Wenn dieses Wissen vor allem in der hochschulischen Ausbildung mehr genutzt (weniger angewandt) würde, brächte es diese der bestehenden Handlungsnot von Sorgearbeitenden näher, angesichts der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit „selbstkompetent“ zu handeln und Eindeutigkeitsfallen zu entgehen. Als Hochschullehrer_innen und Supervisor_innen könnten wir hilfreich sein, dass es gelingt, „‚ordentliche‘ Theorien“ mit ‚unordentlichen‘ Situationen in eine Beziehung zu bringen“ (229).