Der einflussreiche Vorschlag, dass Soziale Arbeit sich selbst als Menschenrechtsprofessionen begreifen und ein eigenständiges menschenrechtliches Mandat beanspruchen kann, ist auf den ersten Blick attraktiv. Denn Soziale Arbeit wird damit aufgefordert, sich nicht allein an politischen und rechtlichen Aufgabenzuweisungen zu orientieren, sondern die Menschenrechte als eine verbindliche Ethik in Anspruch zu nehmen und auf dieser Grundlage für die grundlegenden Rechte ihrer Adressat_innen einzutreten.

Als theoretische Grundlage für eine Neubestimmung von Professionalität ist dieser Vorschlag (s. Staub Bernasconi 2007a, b, 2016, 2019; vgl. u. a. auch Spatschek und Steckelberg 2018)Footnote 1 jedoch nicht geeignet. Denn er blendet aus, dass der Verweis auf die Menschenrechte kein sicheres Fundament für die Klärung der Frage bietet, was in der Sozialen Arbeit getan und unterlassen werden sowie wie sich Soziale Arbeit zu den weitreichenden Kontroversen dazu verhalten sollte, was menschenrechtlich geboten, zulässig und unzulässig ist. Zudem basiert die damit verbundene Annahme eines dreifachen Mandats auf unklaren und zum Teil irreführenden Vorstellungen über die gesellschaftliche Position der Sozialen Arbeit. Deutlich werden soll im Weiteren auch, dass die Idee der Menschenrechtsprofession dazu tendiert, dem Bezug auf die Menschenrechte mehr zuzutrauen als dieser für die Soziale Arbeit tatsächlich leisten kann.

Ein dreifaches Mandat?

Die Inanspruchnahme der Menschenrechte als normative Grundlage der Sozialen Arbeit gewinnt ihre Attraktivität daraus, das sie verspricht, eine Klärung der normativen Grundlagen und zugleich eine Selbstermächtigung der Profession zu ermöglichen: Eine Soziale Arbeit, die sich als Einsatz für die Verwirklichung von Menschenrechten versteht, soll dadurch über ein normatives Fundament verfügen, dass es ihr ermöglicht, begründete Entscheidungen darüber treffen zu können, was angemessene Umgangsweisen mit dem Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle einerseits sowie zwischen politischen und rechtlicher Vorgaben und den Erwartungen der Adressat/innen andererseits sind (Staub-Bernasconi 2019, S. 83 ff.) gilt. In Zusammenhang damit ist von einem dreifachen Mandat der Sozialen Arbeit die Rede, wobei die Bezeichnung als der Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 2007a, b, 2019) – und nicht als Hilfs- oder Kontrollprofession – es nahelegt, von einer besonderen und übergeordneten Bedeutung des Menschenrechtsbezugs auszugehen. Die spezifische Bedeutung des Menschenrechtsbezugs wird insbesondere darin gesehen, dass dieser der Sozialen Arbeit eine eigenständige Entscheidungsgrundlage – eine „relative professionelle Autonomie“ (Staub-Bernasconi 2016, S. 449) – gegenüber politischen und rechtlichen Aufgabenzuweisungen verschaffen und nicht nur zu einer „Kritik an gesellschaftlich verursachtem oder toleriertem Leid oder Unrecht, sondern auch am Mandat staatlicher wie privater Träger und ebenso an der Profession“ befähigen soll (Staub-Bernasconi 2019, S. 10). Dies geht mit der problematischen und im Weiteren noch kritisch zu diskutierenden Behauptung einher, dass der Menschenrechtsbezug Bestandteil einer professionellen Ethik ist, auf die sich die Soziale Arbeit mittels Selbstmandatierung verpflichten kann.

Darauf bezogen soll nun keineswegs bestritten werden, dass Sozialarbeiter_innen die Menschenrechte kennen und deshalb in ihrer Ausbildung ein fundiertes Wissen über Menschenrechte erwerben sollten. Dies sollte vielmehr schon deshalb nicht nur, aber auch bei Sozialarbeiter_innen – wie z. B. auch bei Lehrer_innen, Altenpfleger_innen, Beamten im Strafvollzug oder Polizist_innen – der Fall sein, weil sich die Unterzeichnerstaaten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 26) dort auf eine solche Bildung verpflichten, die auf „Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“ ausgerichtet ist. Zudem hat die neuere Diskussion betont, dass eine allgemeine Menschenrechtsbildung, die allen Bürger_innen ein Wissen über die Menschenrechte vermittelt und sie zu menschenrechtlichem Engagement befähigt, von zentraler Bedeutung für die Verwirklichung von Menschenrechten ist (s. Lohrenscheit 2004; Hormel und Scherr 2004, S. 131 ff.). Denn die Menschenrechte sind zureichend nicht allein durch Staaten zu gewährleisten. Dafür – nicht zuletzt auch für die erhebliche Weiterentwicklung des Menschenrechtsverständnisses seit den 1960er Jahren – waren und sind vielmehr soziale Bewegungen und eine aktive Zivilgesellschaft von erheblicher Bedeutung.

Es soll hier auch nicht bestritten werden, dass Berufsverbände und Organisationen der Sozialen Arbeit Gründe haben können, sich auf die Menschenrechte zu beziehen, wenn sie fachliche Kritik und fachpolitische Forderung an die Politik adressieren. Dies ist jedoch nur dann aussichtsreich, wenn damit Zustände angezeigt werden sollen, die nicht nur zu Beeinträchtigungen dessen führen, was aus Sicht der Sozialen Arbeit Bedingungen eines zumutbaren, guten und anstrebenswerten Lebens sind, sondern wenn tatsächlich begründete Bezüge zu deklarierten Menschenrechten hergestellt werden können. D. h. aber auch: Die deklarierten Menschenrechte sind als Grundlage einer Kritik vieler Zustände, die aus Sicht der Sozialen Arbeit beklagenswert sind, unzureichend, jedenfalls in den wohlhabenden, demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des globalen Nordens.

Ein unspezifischer Gebrauch der Menschenrechtssemantik, z. B. durch sehr weitreichende Behauptungen dazu, was alles Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens sind, ist dagegen nicht nur politisch wenig erfolgversprechend. Er steht auch in der Gefahr, zu einem inflationären Gebrauch des Menschenrechtsbegriffs und damit zu seiner Entwertung beizutragen. Denn wenn versucht wird, quasi alles, was in irgendeiner Weise kritikbedürftig ist, als Verletzung von Menschenrechten zu skandalisieren, dann ist eine Gewöhnung daran zu befürchten, dass es normal und nicht vermeidbar ist, dass Menschenrechte eingeschränkt und verletzt werden. Menschenrechte sind zudem Rechte, die für jeden Menschen überall und jederzeit zu gewährleisten sind, keine Rechte, die das Wohlstandsniveau mitteleuropäischer Staaten und die Leistungsfähigkeit ihrer Sozialstaaten voraussetzen. Deshalb ist auch zu bedenken – und das wird bei Staub-Bernasoni (2019) unterschätzt – dass Menschenrechte zum Teil durchaus geringere (und eben nicht höhere) Ansprüche begründen als das, was in die Verfassungen und die Gesetze demokratisch verfasster Wohlstandsgesellschaften eingeschrieben ist. Als Basis für eine eigenständige und kritische Positionierung der Sozialen Arbeit sind die Menschenrechte deshalb unzureichend.

Es ist zudem nicht plausibel davon auszugehen, dass die Bedeutung der Menschenrechte für die Soziale Arbeit sich erst durch eine Selbstmandatierung durch ihre Berufsverbände ergibt und es sich deshalb um ein drittes Mandat handelt, das vom staatlich zugewiesenen Hilfeauftrag deutlich zu unterscheiden wäre. Denn bereits der staatlich zugewiesene Hilfeauftrag basiert auf normativen Annahmen darüber, was als erforderliche Hilfen und als zulässige Formen von Kontrolle und Sanktionierung gilt. Wie im Weiteren noch deutlicher werden soll, wird in der deutschen Sozialgesetzgebung diesbezüglich explizit auf die Menschenrechte Bezug genommen. Das staatlich zugewiesene Mandat der Hilfe schließt folglich die Beachtung menschenrechtlicher Prinzipien ein, jedenfalls in Deutschland. Deshalb ist die vermeintlich klare Unterscheidung von drei Mandaten, die von drei unterschiedlichen Akteuren vergeben werden (Staub-Bernasconi 2019, S. 89 f.), zumindest missverständlich.

Rechtliche Dimension der Menschenrechte und das Mandat der Sozialen Arbeit

Nahezu alle gegenwärtigen Nationalgesellschaften beanspruchen die Menschenrechte als Werte, die in Erklärungen und Konventionen verankert sind und die Grundlage eigenen staatlichen Handelns bilden. Gegen staatliche Verstöße gegen rechtlich, z. B. in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und weiteren (nicht allen) Konventionen, kodifizierte Menschenrechte, können Betroffene in Europa vor den zuständigen Gerichten klagen. Dies entweder auf nationaler Ebene dann, sofern die Vorgaben der EMRK ins nationale Recht übersetzt worden sind (wie z. B. das Diskriminierungsverbot ins deutschen Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz), oder nach Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs unter bestimmten Bedingungen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Versteht man Soziale Arbeit in diesem Sinne als anwaltschaftliche Menschenrechtsprofessionen, dann bedeutet dies insofern zunächst den Auftrag, Betroffene über ihre Rechte und die Möglichkeiten der Klage zu informieren sowie sie bei der Vorbereitung und Durchführung von Klagen zu unterstützen (s. Prasad et al. 2020). Dass das Mandat der Sozialen Arbeit darauf ausgerichtete Formen der Wissensvermittlung und des Empowerments mit umfasst, allerdings keine Rechtsberatung, wie sie den juristischen Professionen vorbehalten ist (s. Stiftung SPI 2010), kann als unstrittig gelten. Dies bedingt jedoch keinen Gegensatz eines menschenrechtlichen Mandats zu dem, was das gesellschaftliche Mandat der Sozialen Arbeit genannt wird, denn die Unterstützung bei der Durchsetzung eigener Rechte ist in das der Sozialen Arbeit gesellschaftliche zugewiesene Mandat der Hilfe eingeschlossen, also kein zusätzliches drittes Mandat, das der Sozialen Arbeit allein durch ihre Professionsverbände – und zugleich gegen den Staat bzw. die Gesellschaft – verliehen wird.

Diesbezügliche begriffliche Unklarheiten in einschlägigen Texten (etwa: Staub-Bernasconi 2019) sind dadurch bedingt, dass dort das für Rechtsstaatlichkeit konstitutive Verhältnis von Politik und Recht und seine Implikationen für die Soziale Arbeit nicht zureichend berücksichtigt werden: Staatlichkeit bedeutet, jedenfalls in Westeuropa, immer auch Rechtsstaatlichkeit, also die Bindung politischer Entscheidungen an geltendes nationales und internationales Recht, und damit auch an die kodifizierten Menschenrechte. Soziale Arbeit hat es dementsprechend nicht mit „drei Akteuren“, die ihr jeweils ein eigenes Mandat verleihen, zu tun (ebd.: 87 f.). Zudem ist der Staat kein singulärer Akteur, sondern ein institutionelles Gebilde in der Schnittstelle des politischen Systems und des Rechtssystems, in der konkurrierende und konfligierende politische und rechtliche Akteure aufeinandertreffen. D. h. auch, dass politische Entscheidungen durch Gerichte korrigiert werden können, was z. B. im Fall der Hartz-IV-Gesetze auch der Fall war (s. dazu insbesondere Bundesverfassungsgericht 2019). Soziale Arbeit wird also nicht einfach durch den Staat ein Mandat zugewiesen; was sie leisten kann und soll, ergibt sich aus dem Zusammenspiel politischer Entscheidungen und rechtlicher Abwägungen, bei denen die Frage, was menschenrechtlich zulässig ist, ein zentraler Gesichtspunkt ist. Es ist insofern nicht die spezifische Aufgabe der Sozialen Arbeit, Politik an die Geltung der Menschenrechte zu erinnern. Soziale Arbeit ist eher aufgefordert, fachliche Kenntnisse dazu beizutragen, die bei der Rechtsauslegung zu berücksichtigen sind.

Der Bezug auf die rechtlich kodifizierten Menschenrechte begründet folglich keine eigenständige Position der Sozialen Arbeit jenseits der übrigen Gesellschaft und des Staates. Und auch die Hochschulen für Soziale Arbeit und die Professionsverbände stehen nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern sind Organisationen in der Gesellschaft. Die Mandate, auf die sich Berufsverbände durch einen Ethikkodex verständigt haben, sind insofern gesellschaftliche Mandate und nur deshalb überhaupt potenziell wirksam: Nur dann, wenn sich Professionsverbände auf ethische Prinzipien berufen, die von anderen gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen als gültige und relevante Prinzipien anerkannt sind, besteht die Aussicht, dass sich Angehörige der Profession in fachlichen, politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen erfolgreich darauf beziehen können, indem sie an einen geteilten Konsens appellieren.

Gerade deshalb ist es ggf. aussichtsreich, sich professionsethnisch auf die Menschenrechte – und damit auf gesellschaftliche anerkannte Prinzipien zu beziehen – also nicht auf eine professionsspezifische Sonderethik, deren Grundsätze seitens der Politik und des Rechts in Frage gestellt werden könnten. Wer sich in Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Menschenrechte bezieht, situiert sich damit innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses, dessen Grundlage die Anerkennung der Menschenrechte ist, was die staatliche und politische Anerkennung eines Mandats auch der Sozialen Arbeit zur Verteidigung und Durchsetzung von Menschenrechten einschließt. Folglich geht es nicht um ein menschenrechtliches Sondermandat, das der Sozialen Arbeit von ihren Berufsverbänden verliehen wird, sondern „nur“ darum, ob es der Sozialen Arbeit gelingen kann, sich auf eigene fachliche Sichtweisen auf das, was menschenrechtlich erforderlich ist, professionsintern zu verständigen sowie sich auf dieser Grundlage in politische und rechtliche Auseinandersetzungen einzumischen.

Insofern ist auch die Unterscheidung zwischen einem menschenrechtliche und einem politischen Mandat recht unscharf und m. E. auch kaum nachvollziehbar, wie der Menschenrechtsansatz in der Sozialen Arbeit ohne eine erneute Politisierung der Profession an Einfluss gewinnen könnte und wie er davon zu unterscheiden wäre (s. Staub-Bernasconi 2013).

Menschenrechte als moralische Prinzipien und die Politik der Menschenrechte

In politischen Auseinandersetzungen und in der Sozialen Arbeit werden die Menschenrechte jedoch keineswegs „nur“ als einklagbare Rechtsansprüche, sondern auch und vor allen als moralische Grundsätze beansprucht. Menschenrechte sind demnach Normen und Werte, an die immer dann appelliert werden kann, wenn es um die Frage gehen soll, an welchen Grundprinzipien sich die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens orientieren soll. Dies schließt aber zwei grundlegende Problematiken ein: Aus den sehr allgemein gefassten Prinzipien, die als Menschenrechte gefasst sind, lässt sich erstens nicht zwingend ableiten, was deren Konsequenzen in einer konkreten Situation bzw. in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext sein sollen. In besonderer Weise gilt das für den allgemeinsten Grundsatz der Menschenrechte, das Gebot der zu achtenden Menschenwürde. So ist der menschenrechtliche Grundsatz der zu achtenden Würde in Deutschland zwar ausdrücklich ein Leitprinzip der Sozialgesetzgebung (SGB I, § 1). Damit ist jedoch z. B. noch nichts Konkretes darüber gesagt, was etwa die dafür erforderliche und angemessene Höhe der Grundsicherung ist oder was die erforderlichen Bedingungen dafür sind, dass das Recht auf „auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen“ gewährleistet wird, wie es im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Sandkühler (2013, S. 63) stellt diesbezüglich treffend fest, dass es „unübersehbare viele, teils sich ergänzende, teils miteinander unvereinbare Erklärungen, Begründungen und Definitionen dazu [gibt], was unter Menschenwürde verstanden werden soll“; er verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Menschenwürde „oft mit unbestimmter rechtlicher Bedeutung als Leerformel eingesetzt und gelegentlich auch als moralisierendes ‚knock-out-Argument‘ missbraucht wird, um die Schwierigkeiten ethischer Diskussionen zu umschiffen oder ‚gegnerische‘ Auffassungen zu diskreditieren“ (ebd.: 66).

Die notwendige Unterbestimmtheit des menschenrechtlich Gebotenen – nur deshalb ist eine internationale und transkulturelle Verständigung auf Menschenrechte möglich – gilt umso mehr dann, wenn es nicht nur um die Auslegung eines menschenrechtlichen Prinzips geht, sondern mehrere Prinzipien zu berücksichtigen sind. Denn dann stellt sich die Frage, welche Gewichtungen möglich sind und welches Prinzip ggf. vorrangig sein soll. Soll z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung uneingeschränkt gelten oder aufgrund des Diskriminierungsverbots eingeschränkt werden, wenn Meinungsäußerungen rassistisch sind? Wie ist das Recht von Familien auf „auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“ (AEDM, Artikel 16) im Verhältnis zu den Individualrechten von Kindern zu gewichten? Oder wie ist die Religionsfreiheit mit dem Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung und von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vereinbar?Footnote 2 Aufgrund der Notwendigkeit, heterogene Prinzipien zu berücksichtigen, kann z. B. auch über die Frage, ob auch Kinder ein Recht auf Arbeit haben, oder aber jeder Form der Arbeit von Kindern aus menschenrechtlichen Gründen verboten sein soll, kontrovers diskutiert werden (s. dazu Liebel 2020). Und es ist auch keineswegs klar, was aus den Menschenrechten für Fragen der Migrationskontrolle folgt. Denn die verfassten Menschenrechte stellen keineswegs grundsätzlich das Recht von Staaten in Frage darüber zu entscheiden, wem sie Aufnahme und Schutz gewähren wollen; sie schränken dieses staatliche Recht durch die Genfer Flüchtlingskonvention nur in einer Weise ein, die den gegenwärtigen Herausforderungen kaum mehr gerecht wird (s. dazu Scherr und Scherschel 2019).

Menschenrechte, als moralische Prinzipien verstanden, sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein basaler Konsens, der ethische Entscheidungskonflikte und politische Kontroversen nicht auflöst, sondern nur einen Rahmen bietet, innerhalb dessen diese ausgetragen werden können. Dies betonen Überlegungen, die darauf ausgerichtet, ein genuin politisches Verständnis der Menschenrechte zu profilieren. Grundlegend dafür ist die Annahme, „dass Menschenrechte aus konkreten Unrechtserfahrungen erwachsen und das Ergebnis politischer Kämpfe sind“ (Kreide 2013, S. 90). Dies führt zu einem Verständnis der Menschenrechte als ein Diskursfeld, dem bestimmte politische und historische Erfahrungen mit Formen der Gewalt und der Grausamkeit zugrunde liegen, die dazu geführt haben, dass eine Verständigung über Prinzipien erfolgt ist, mit denen eine Wiederholung verhindert werden soll (Hormel und Scherr 2004, S. 131 ff.). Am Beispiel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Es war primär die historische Erfahrung mit Nationalsozialismus und Holocaust sowie mit Kolonialismus und Sklaverei, die Grundlage der Debatten waren, die nach 1945 zur Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt haben. Diesbezüglich lässt sich zeigen, dass die dann zustande gekommenen Formulierungen Ergebnis eines Aushandlungsprozesses waren, in den unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen eingegangen sind und der auch zu einer Kompromissbildung zwischen moralischen Grundsätzen und politischen Überzeugungen geführt hat. Es handelt sich bei den deklarierten Menschenrechten also nicht um Prinzipien einer reinen, vor- oder außerpolitischen Moral.

Deutlich wurde und wird der genuin politische Charakter der Menschenrechte nicht zuletzt auch in Debatten um das Asylrecht: Bereits in der Arbeit an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde kontrovers diskutiert, wie weit oder wie eng das Asylrecht zu fassen ist. Und das nur sehr schwach gefasste Asylrecht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist nachweisbar Ausdruck der Überlegung, dass ein zu weit gefasstes Asylrecht mit den Interessen der unterzeichnenden Nationalstaaten an Migrationskontrolle nicht vereinbar wäre (s. dazu etwa Gatrell 2013).

Menschenrechte sind so betrachtet keine eindeutigen und unstrittigen Ableitungen aus historischen Erfahrungen und moralischen Überlegungen, sondern Ausdruck politischer Kompromissbildungen zwischen bestimmten moralischen Prinzipien, politisch-weltanschaulichen Überzeugungen und staatlich-politischen Interessen.

Es kann auch nicht davon abgesehen werden, dass die Menschenrechte machtpolitisch – z. B. als Legitimation militärischer Interventionen – instrumentalisiert werden und ihre internationale Durchsetzbarkeit von ökonomischen und militärischen Machtverhältnissen abhängig ist. Zur Verdeutlichung: Bislang haben die USA die UN-Kinderechtskonvention nicht ratifiziert, was für den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen folgenreich war und ist, und sie erkennen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen nicht an. Dies bleibt für die USA aus offenkundigen Gründen aber folgenlos.

Die Menschenrechte sind auch nicht unveränderlich. Vielmehr wird immer wieder erneut diskutiert, welche menschenrechtlichen Konsequenzen aus historischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklung zu ziehen sind. Menschenrechte sind also ein Diskursfeld, in dem moralische, rechtliche und gesellschaftspolitische Konsequenzen aus Unrechtserfahrungen immer wieder erneut verhandelt wurden und werden (s. Eckel 2009; Kreide 2013).

Nicht nur, aber auch Engagement für Menschenrechte

Der Bezug auf die Menschenrechte kann Sozialarbeiter_innen – als politische Bürger_innen wie im Kontext ihres beruflichen Handels – für Leidenserfahrungen sensibilisieren, die auch Menschen in den wohlhabenden, demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften Europas betreffen. In diesen Gesellschaften besteht zudem die Chance, unter Bezug auf rechtlich kodifizierte Menschenrechte zur Rechtsdurchsetzung beizutragen sowie an die Selbstverpflichtung politischer Akteure auf menschenrechtliche Grundsätze zu appellieren. Allerdings kann Soziale Arbeit dabei nicht die Positionen einer moralisch überlegenen Autorität für sich reklamieren; sie ist auch nicht legitimiert, sich an Stelle des Verfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs oder von Expert_innen für die Philosophie der Menschenrechte zu setzen. Ihre professionelle Expertise besteht allein darin, Betroffene bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen sowie ihr Fachwissen dazu zur Verfügung zu stellen, wie die Lebensbedingungen ihrer Adressat_innen und die Praktiken der Sozialen Arbeit selbst im Hinblick auf menschenrechtliche Erfordernisse einzuschätzen sind. Der Bezug auf die deklarierten Menschenrechte ist auch keine hinreichende ethische Grundlage für die Soziale Arbeit. Es spricht einiges für die Behauptung, dass die Ethik der Verwirklichungschancen Maßstäbe eines guten und gelingenden Lebens aufzeigen und damit über die verfassten Menschenrechte hinausreichende Bestimmungen normativer Grundlagen Sozialer Arbeit anregen kann (s. Bielefelder Arbeitsgruppe 8 2020).

Bei all dem ist nicht zu vergessen: Die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen finden andernorts statt, und das in aller Regel außerhalb der Reichweite professioneller Sozialer Arbeit. An menschenrechtlichen Maßstäben gemessen, leben auch die gesellschaftlich benachteiligten und marginalisierten Adressat_innen der Sozialen Arbeit in Deutschland und anderen Ländern Mittel- und Nordeuropas in den relativen Komfortzonen der Weltgesellschaft. Sie leiden überwiegend an den Folgen relativer Deprivation und psychosozialer Verelendung, nicht aber an substanziellen Menschenrechtsverletzungen. Wenn aber solche Fälle vorliegen, ist Soziale Arbeit zwingend aufgefordert, die Möglichkeiten rechtlicher Klagen und moralischen Protests auszuschöpfen. Ob dies geschieht, ist nicht zuletzt von der Konfliktfähigkeit und -bereitschaft der Professionellen und der Organisationen der Sozialen Arbeit abhängig. Die diesbezüglichen Erfahrungen in den Auseinandersetzungen um die Rechte von Flüchtlingen sowie die Zulässigkeit von Abschiebungen stimmen diesbezüglich wenig optimistisch.

Gleichwohl gilt nach wie vor der berühmte Satz des alten Karl: „Die Wissenschaftler_innen haben die Soziale Arbeit nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Ob die Deklaration zur Menschenrechtsprofession dazu einen entscheidenden Impuls zu setzen vermag, wird sich zeigen. Vielleicht wird sie eher – ähnlich wie in alten Zeiten die Überpolitisierung des Selbstverständnisses – zu einer schwer aushaltbaren Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit und dann zu Resignation führen. Von einer empirischen Forschung über die Berufsbiographien derjenigen, die gegenwärtig an Hochschulen im Geist der Menschenrechtsprofession sozialisiert werden, wären diesbezüglich interessante Einsichten zu erwarten.