Jetzt, da wir die Probleme und Folgen der jüngsten Migrationswelle für Deutschland und Europa hautnah spüren, wird uns das Schicksal von Menschen bzw. Flüchtlingen, die außerhalb unserer staatlichen Ordnung leben, in vollem Umfang vor Augen geführt. Dabei ist es gleichgültig, ob sie in einer globalisierten Welt vor Krieg und Gewalt, Hunger und Elend oder Klimafolgen fliehen. Die zu früheren Migrationsbewegungen sehr viel dynamischer vonstatten gehende gegenwärtige Migrationswelle ist offensichtlich bis heute zu herausfordernd. Die derzeitige Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip treibt jedenfalls die politische Fragmentierung der saturierten europäischen Staatengemeinschaft voran. Unstreitig ist, dass die Migration uns noch viele Jahre beschäftigen wird, nicht zuletzt wegen sozial wie politisch hochkomplexer Herausforderungen. Das offenkundige Versagen der Politik — sei es aus Unkenntnis oder Kalkül — ist daran abzulesen, wie das Unerwartete organisiert wird und inwiefern es ihr gelingt, Handlungsautonomie zu wahren und vorhandene Gestaltungsspielräume zur präventiven und werthaltigen Bearbeitung der Flüchtlingsströme auszuschöpfen.

Haben „besorgte Bürger“ schlichtweg Angst, dass die Politik es nicht schafft, die Zahl der Flüchtlinge zu kontrollieren, ist dies ein politisches Alarmzeichen sondergleichen und wohl die zentrale Verwundbarkeit westlicher Gesellschaften. Ob es sich um Statusängste in der gesellschaftlichen Mitte, wachsende Sorgen, den Arbeitsplatz zu verlieren oder diffuse Ängste vor Masseneinwanderung handelt, ist dabei unerheblich. Die Politik hat zuvor erheblich versagt. Und das dürfte eine zentrale Erklärung dafür sein, warum die Gefahr der Polarisierung in Europas Gesellschaftsordnung zunehmen wird. Das Identifikationsmuster und Orientierungsbedürfnisse in der irrigen Annahme getroffen werden, dass die Satten mit den Habenichtsen konkurrieren, führt — vor allem — durch das Gefühl der Unsicherheit zu sich verschärfenden Interessenkonflikten am unteren Rand im Bereich der Einkommensarmut. Diese gesellschaftlichen Spaltungstendenzen finden schnell Abnehmer, die sie für ihr Arsenal von rechtspopulistischen bis radikalen Strategien gut zu nutzen wissen. Mit folgenreichen Risiken unbekannten Ausmaßes für die demokratische Gesellschaftsordnung, wenn wir sie vernachlässigen.

Die Entschärfung von Interessenkonflikten wird besser gelingen, wenn wir zur Bewältigung des gegenwärtigen Flüchtlingszustroms die sozialpolitische Interventions- und Partizipationsform der Gemeinwesenarbeit heranziehen. Sie könnte interventionistisch, de-radikalisierend und präventiv jungen Sinnsuchern helfen, aus ihren Teufelskreisen auszubrechen, die sie desillusionieren und selbst zur Rekrutierungsmasse von dschihadistischen Gruppierungen macht. Der Bedarf an präventiver Sozialpolitik wird jedoch nicht gleichberechtigt neben traditionellen Instrumenten der äußeren und inneren Sicherheit von Politik und Gesellschaft gesehen, mit allen Gefahren, die damit verbunden sind. Diesen Befund hat der Terrorismusexperte Peter Neumann in seinem Buch „Die neuen Dschihadisten“ (2015) kürzlich formuliert. Gewissermaßen ist die aktuelle Migrationswelle auch eine Bewährungsprobe dafür, ob wir eine Offene Gesellschaft im Popperschen Sinne sind, wir also Flüchtlinge als Chance oder Gefahr ansehen — ohne voreilig die Akkulturationsprobleme in Großstädten in den nächsten Jahren kleinzureden.

Ohne klare Fortschrittsstrategien aus einem Systemzusammenhang heraus und hochachtsame Orientierungshilfen ist dies jedoch nur schwer umzusetzen. Gemeinwesenarbeit ist zwischen Sozial- und Sicherheitspolitik ein für das europäische Gesellschaftsmodell stressresistenter und umfassender Präventionsansatz — ihn nicht zu berücksichtigen oder anderweitig in Abrede zu stellen, wird sich bitter rächen.