Nach 18 (sic!) Jahren erscheint wieder ein Themenheft zu erblichen Nierenerkrankungen in der Zeitschrift „medizinischegenetik“. Die Auswahl der Krankheitsbilder haben wir aus dem im Jahr 2000 von Klaus Zerres koordinierten Heft zu großen Teilen übernommen – ebenso wie den Titel. Beides möchten wir als Kompliment an die damaligen Autoren verstanden wissen. Und doch zeigt das Blättern in der alten Ausgabe, welche Zeitenwende die Humangenetik mittlerweile durchlebt hat. Die damaligen Tabellen enthielten in der Spalte „Ursächliche Gene“ oft nur einen oder wenige Einträge und zudem viele Fragezeichen. Zum Teil konnte nur ein chromosomaler Locus angegeben werden. Die Übersichtsarbeiten des vorliegenden Heftes hingegen quellen förmlich über vor krankheitsassoziierten Genen.

Eine direkte Folge der Genomik-Ära ist, dass das vertiefte molekulare Verständnis vieler Krankheitsbilder in Kombination mit neuen Technologien (wie RNA-Interferenz‑, CRISPR/CAS9-, und/oder Stammzell-basierte Ansätzen) nun zahlreiche Früchte trägt: Während im alten Heft therapeutische Aspekte – wenn überhaupt – meist nur kurz angesprochen werden konnten, enthält beispielsweise der neue Beitrag über das Alport-Syndrom eine eigene Tabelle zu aktuellen klinischen Studien in Deutschland und ein Flussdiagramm zur medikamentösen Therapie. Hier werden erste Konturen der vielzitierten „Präzisionsmedizin“ erkennbar.

Der Stellenwert der genetischen Diagnostik ist für die Nephrologie des Jahres 2018 sicherlich auch deutlich höher als noch zu Beginn des neuen Jahrtausends. Trotz der ungleich größeren Zahl an relevanten Genen, die es zu testen gilt, sind die Sequenzierkosten und -zeiten dank Next-Generation Sequencing erheblich gesunken. Auch hinsichtlich ihres patientenorientierten Nutzens ist die molekulargenetische Diagnostik also gewissermaßen erwachsen geworden. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum die genetische Abklärung heute in vielen Fällen am Anfang und nicht mehr am Ende des diagnostischen Algorithmus steht. Ein anderer Grund ist die bereits angesprochene therapeutische Relevanz einer exakten molekularen Diagnose. Durch entsprechende Gesetzesänderungen in den USA und in der EU werden zunehmend Medikamente für Seltene Erkrankungen entwickelt und zugelassen, auch auf dem Gebiet der Nephrologie. Diese therapeutischen Innovationen sind allerdings oft teuer. So belaufen sich die Jahrestherapiekosten von Eculizimab (Soliris®) zur – sehr effektiven – Behandlung des atypischen hämolytisch-urämischen Syndroms auf mehrere hunderttausend Euro. Naheliegender Weise wird mit Hilfe einer frühzeitigen genetischen Diagnostik versucht, eine solche Therapie möglichst nur denjenigen Patienten zukommen zu lassen, bei denen sie auch wirken kann.

Die Ausweitung der genetischen Diagnostik bringt aber auch alte Gewissheiten ins Wanken und zeigt, dass die Unterscheidung zwischen nephrologischen Krankheitsbildern in der Pädiatrie und der Erwachsenenmedizin oft nur in unseren Köpfen existiert. So konnte kürzlich bei einem überraschend hohen Anteil (0,5 %!) nierentransplantierter Erwachsener mit spätmanifester Niereninsuffizienz und der prototypischen Diagnose eines „chronischen Nierenversagens unklarer Ätiologie“ eine homozygote Deletion des NPHP1-Gens nachgewiesen werden – und damit eine der häufigsten Ursachen der Nephronophthise und der terminalen Niereninsuffizienz des Kindesalters. Die noch immer verbreitete Lehrmeinung, dass monogene Ursachen einer schweren Nierenfunktionsstörung – von der autosomal-dominant erblichen polyzystischen Nierenerkrankung einmal abgesehen – im Wesentlichen bei pädiatrischen Patienten zu finden sind, ist angesichts der Tatsache, dass in dieser Studie nur auf eine einzige pathogene Mutation aus der genetisch sehr heterogenen Krankheitsgruppe der Nephronophthisen getestet wurde, sicher revisionsbedürftig.

Wie in anderen Gebieten der Humangenetik beginnen auch in der Nephrogenetik in Folge der immer umfassenderen genetischen Diagnostik die Grenzen zwischen ehemals in den Lehrbüchern klar getrennten Krankheitsbildern bisweilen zu verschwimmen. So zeigt sich zum Beispiel, dass eine fokal-segmentale Glomerulosklerose (FSGS) mit klinischen und histopathologischen Mitteln alleine nicht immer klar von einem Alport-Syndrom zu unterscheiden ist. Eine eindeutige Diagnose – mit enormen Auswirkungen für die weitere Therapie und die Einschätzung des Wiederholungsrisikos für Familienangehörige – ist in diesem Fällen erst durch den Nachweis der ursächlichen Mutation(en) möglich.

Eine umfassende nephrogenetische Diagnostik sollte auch zunehmend in der Pränatalmedizin an Bedeutung gewinnen. Beispielhaft sei hier auf zystische Nierenveränderungen des Feten hingewiesen, die eine Vielzahl von genetischen Ursachen haben können. Einige der zugehörigen Krankheitsbilder haben deutlich andere prognostische Implikationen als die autosomal-rezessiv erbliche polyzystische Nierenerkrankung (ARPKD), die heute noch oft reflexhaft aufgrund des Ultraschall-Befundes vermutet wird. Die Vorteile einer molekulargenetisch gesicherten Diagnose für das weitere Management der Schwangerschaft und für die Beratung der Schwangeren liegen auf der Hand.

Die nephrogenetische Forschung ist noch weit davon entfernt, alle monogen erblichen Formen von Nierenerkrankungen und -fehlbildungen aufgeklärt zu haben. Vieles gilt es noch zu entdecken und zu verstehen, beispielsweise auf dem Gebiet der Congenital Anomalies of the Kidney and Urinary Tract (CAKUT). Hier beträgt die diagnostische Aufklärungsrate umfassender genetischer Tests erst maximal 40 %. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Themenheft einen Überblick über den Stand der Grundlagenforschung und der Translation des Wissens in die klinische Anwendung auf dem faszinierenden Forschungsgebiet der Nephrogenetik zu liefern. Wir bedanken uns herzlich bei den Autoren der Beiträge und sind jetzt schon gespannt darauf, wie das Themenheft „Erbliche Nierenerkrankungen 3.0“ im Jahr 2036 aussehen wird!