Einleitung

In den letzten Jahren hat das Verständnis der pathophysiologischen Grundlagen von Nierenerkrankungen deutlich zugenommen. Für viele Nierenerkrankungen, die im Kindes- und jungen Erwachsenenalter manifest werden, konnte eine hereditäre Ursache nachgewiesen werden. Die Kenntnis der genetischen Ursache ist bei vielen dieser Erkrankungen inzwischen für die Therapie und damit für deren klinischen Verlauf entscheidend. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von (Kinder‑)Nephrologen und Humangenetikern bei der Betreuung dieser Patienten spielt daher eine wichtige Rolle. Am Beispiel des Alport-Syndroms (AS) soll dies im Folgenden näher erläutert werden.

Symptomatik beim Alport-Syndrom

Das AS ist gekennzeichnet durch Hämaturie und Proteinurie, bedingt durch strukturelle Veränderungen in der glomerulären Basalmembran (GBM) mit charakteristischer Aufsplitterung und Lamellierungen, und führt unbehandelt im jungen Erwachsenenalter zu terminalem Nierenversagen. Mittel- bis langfristig entwickelt sich eine glomeruläre und interstitielle Fibrose. Circa 1–2 % der Patienten mit terminalem Nierenversagen in westlichen Ländern weisen ein AS auf. Patienten mit AS können neben der progredienten Niereninsuffizienz auch eine Innenohrschwerhörigkeit sowie okuläre Veränderungen (z. B. Lentikonus anterior) entwickeln [1].

Genetische Grundlagen beim Alport-Syndrom

Beim AS handelt es sich um eine heterogene Erkrankung, bedingt durch Varianten in Genen, die für Kollagen Typ IV kodieren. Sechs Gene (COL4A1COL4A6), entsprechend der sechs homologen Kollagen-Ketten (α1–α6) für Kollagen Typ IV, sind bekannt. Ursächlich für AS sind Varianten in den Genen COL4A3, COL4A4 und COL4A5 (Tab. 1; [2]). Kollagen Typ IV ist Hauptbestandteil aller Gefäßbasalmembranen. An mechanisch besonders beanspruchten Stellen wie der GBM, dem Innenohr und der Augenlinse besteht das Typ IV Kollagennetzwerk aus α3.α4.α5-Ketten, die eine sogenannte Triple-Helix-Struktur bilden. Es kommt hierbei zu einer engen Verdrillung der Kollagenketten, was durch das Vorhandensein von Glycin an jeder dritten Aminosäureposition bedingt ist. Ein Austausch von Glycin führt zum Abknicken der Triple-Helix-Struktur, trunkierende Varianten zu einem vorzeitigen Kettenabbruch. Bei bis zu 95 % der Patienten können in den bisher bekannten Genen COL4A3, COL4A4 und COL4A5 ursächliche Varianten nachgewiesen werden, wobei es sich meist um Glycin‑, Nonsense‑, Splice-Site- und Frameshift-Varianten sowie größere Deletionen bzw. Duplikationen handelt [3]. Die Einschätzung anderer Varianten erscheint derzeit noch problematisch, ggf. handelt es sich in diesen Fällen um Varianten ohne oder mit unklarer klinischer Relevanz. Hier ist die Anwendung elektronischer Vorhersageprogramme hilfreich. Auch die Einschätzung bei Identifikation mehrerer Varianten ist aktuell noch schwierig, klare Empfehlungen können diesbezüglich daher nicht gegeben werden. Mehrere Erbgänge können beim AS unterschieden werden: (1) der X‑chromosomale (Variante im COL4A5-Gen), (2) der autosomale (autosomal-rezessiv und autosomal-dominant; Variante(n) im COL4A3- oder COL4A4-Gen) und (3) der digenische (Varianten im COL4A3-, COL4A4- und COL4A5-Gen) [1, 4, 5]. Die Häufigkeit des X‑chromosomalen AS wird auf 1:5000 geschätzt, die Prävalenz des autosomal-rezessiven AS auf 1:50.000, der autosomal-dominante sowie der digenische Erbgang sind deutlich seltener. Es wird vermutet, dass – zumindest für COL4A5 – bisher nur ca. 10 % der ursächlichen Varianten in der Literatur bekannt sind [3], Angaben für die Gene COL4A3 und COL4A4 liegen bisher nicht vor. Fast 1 % der Bevölkerung sind heterozygote Anlageträger für Varianten in den Genen COL4A3 und COL4A4 [6]. Die Verteilung von Varianten in den Genen COL4A3 und COL4A4 ist ungefähr gleich. Für die X‑chromosomale Form ist eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation bekannt [7]. Durch Inframe- oder Missense-Varianten werden Veränderungen in der Proteinstruktur hervorgerufen, die sich meist in einem milderen Verlauf der Erkrankung mit späterem Beginn der terminalen Niereninsuffizienz widerspiegeln (terminales Nierenversagen unbehandelt mit Beginn <40 Jahren). Frameshift‑, Nonsense- und große Rearrangement-Varianten hingegen führen zur Verkürzung des Proteins und folglich schwerem Verlauf der Erkrankung mit frühem Beginn der terminalen Niereninsuffizienz (terminales Nierenversagen unbehandelt mit Beginn <30 Jahren). Patienten mit Splice-Site- oder trunkierenden Varianten oder mit Varianten, die am 5′-Ende des Gens lokalisiert sind, weisen ein deutlich erhöhtes Risiko für eine extrarenale Beteiligung (Augenveränderungen, Innenohrschwerhörigkeit) auf.

Tab. 1 Genetische Ursachen des Alport-Syndroms (AS) und der „thin basement membrane nephropathy“ (TBMN)

Digene und biallelische Vererbung die COL4A3–5-Gene betreffend wurde in Einzelfällen bei AS in der Literatur beschrieben. Bezüglich des Phänotyps konnte zumindest für Patienten mit einer heterozygoten Variante in COL4A3 und COL4A4 ein leichterer Phänotyp im Vergleich zu Patienten mit zwei heterozygoten Varianten in COL4A3 oder COL4A4 beobachtet werden. Zudem ist ein leichterer Phänotyp bei Patienten mit Varianten in cis im Vergleich zu in trans festzustellen [3]. Segregationsanalysen mit Berücksichtigung des klinischen Phänotyps helfen hierbei, die einzelnen Varianten und ihre klinische Relevanz zu beurteilen.

Frauen und Alport-Syndrom

Mädchen und Frauen mit einer heterozygoten Variante in COL4A5 weisen sowohl intra- wie auch interfamiliär ein breites Spektrum an klinischen Symptomen auf, welches von Mikrohämaturie bis hin zum Vollbild des AS reicht [8]. Bis zu 30 % der Frauen entwickeln bis zum 60. Lebensjahr eine Niereninsuffizienz [9]. Zusätzlich besteht ein Risiko von jeweils ca. 30 %, eine Hochtonschwerhörigkeit und/oder Retinopathie zu bekommen. Zudem haben Frauen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein 2‑ bis 3‑fach erhöhtes Risiko für kardiale Ereignisse. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation bei Frauen konnte bislang nicht nachgewiesen werden [10]. Als Ursache für die phänotypische Variabilität bei Mädchen und Frauen werden u. a. eine ungünstige X‑Inaktivierung und das Vorhandensein von genetischen Modifiern vermutet [5, 11, 12].

Differentialdiagnose

Die Nephropathie vom Typ der dünnen Basalmembran („thin basement membrane nephropathy“, TBMN) wird mit einer Häufigkeit von ca. 1 % in der Allgemeinbevölkerung angegeben und wurde früher als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet [6, 13]. Bei den meisten Individuen mit TBMN können heterozygote Varianten in COL4A3 oder COL4A4 nachgewiesen werden (Tab. 1; [14]), wobei auch hier eine relative Gleichverteilung der Variantenhäufigkeit in COL4A3 bzw. COL4A4 festzustellen ist. Die TBMN ist gekennzeichnet durch Hämaturie sowie ggf. durch eine geringe Proteinurie, früher wurde sie auch als benigne familiäre Hämaturie (BFH) bezeichnet. Das Auftreten einer Nierenfunktionseinschränkung wird bei bis zu 40 % der Patienten mit einer TBMN in höherem Lebensalter beobachtet, die Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz nur selten (1–2 %) [1]. Bisher sind nur relativ wenige Varianten ursächlich für TBMN in der Literatur beschrieben, Frequenzunterschiede bzgl. Varianten in COL4A3 bzw. COL4A4 sind derzeit nicht zu beobachten. Aufgrund des erhöhten Risikos einer ernsthaften Nierenerkrankung werden Patienten mit TBMN mittlerweile zum AS hinzugezählt, um Patienten mit einer heterozygoten Variante (autosomale Form) durch die Diagnose Alport-Syndrom eine lebenslange nephrologische Betreuung zu ermöglichen [15]. Daher kommt hier dem Humangenetiker mit seiner frühzeitigen genetischen Diagnose eine wichtige Lotsenfunktion zu.

Molekulargenetische Diagnostik

Da eine klinische und histologische Unterscheidung beider Entitäten (AS, autosomal heterozygotes AS/TBMN) häufig schwierig ist, spielt die molekulargenetische Diagnostik, gerade auch im Hinblick auf einen frühestmöglichen Therapiebeginn bei AS, eine entscheidende Rolle. Aufgrund der Heterogenie und gerade auch hinsichtlich einer möglichen digenen Vererbung und/oder genetischer Modifier wird inzwischen empfohlen, Next Generation Sequencing (NSG)-Technologien (Panel-Diagnostik, Exom- und ggf. Genom-Analysen) zur molekulargenetischen Abklärung zu verwenden [16]. Ist die Variante bei einem Patienten mit AS mittels NGS identifiziert, können sich (asymptomatische) Familienangehörige mittels Zieldiagnostik (Sanger-Sequenzierung) auf die familiäre(n) Variante(n) untersuchen lassen.

Organoprotektion bei chronischer Nierenfibrose

Die Durchführung einer molekulargenetischen Diagnostik ermöglicht die frühzeitige Diagnose noch vor Beginn der klinischen Symptomatik im Kleinkindesalter und eröffnet so die Möglichkeit einer präemptiven Therapie. COL4A3−/−Mäuse erkranken am Vollbild des AS und erlauben so mögliche Therapieoptionen [17,18,19,20]: Die präemptive Gabe von Ramipril zeigte hierbei ein deutlich verlängertes Überleben der Tiere [19]. Der Effekt ist dabei jedoch stark abhängig vom Zeitpunkt des Therapiebeginns. Ein früher Beginn der Therapie bewirkte deutlichere Effekte als ein später Beginn. Für AT1-Antagonisten, HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren und Paricalcitol konnte ebenfalls eine – allerdings geringer ausgeprägte – nephroprotektive und antifibrotische Wirkung nachgewiesen werden [20, 21].

Aktuelle Therapiestudien und Therapieansätze

Die Effektivität und Sicherheit von Ramipril bei Kindern in sehr frühen Krankheitsstadien wird derzeit in der deutschlandweiten EARLY PRO-TECT Alport-Studie (Tab. 2) untersucht. Die RAAS-Blockade beim AS hat sich dank des Therapieregisters in den letzten Jahren etabliert und gilt als sehr effektiv und bei Erwachsenen sicher.

Tab. 2 Aktuelle klinische Studien zum Alport-Syndrom in Deutschland

Regulus Therapeutics führt die Phase 2‐Studie HERA mit anti-micro-RNA21 (miR21) durch, das im Alport-Mausmodell über „peroxisome proliferator-activated receptor-α“ insbesondere die tubulointerstitielle Fibrose hemmt [22, 23]. Reata Pharmaceuticals führt die Phase 2/3-Studie CARDINAL mit Bardoxolonmethyl durch, zu dem keine Daten aus dem Alport-Mausmodell vorliegen, aber klinische Daten zur diabetischen Nephropathie [24], die zum vorzeitigen Studienabbruch führten. Bardoxolonmethyl greift potenziell unter anderem über den NFκb-Pathway in die Pathogenese der Nierenfibrose ein [22]. Auch hier ist unklar, wie gut sich präklinische Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen. Eine weitere zukünftige Therapieoption stellen Kollagenrezeptor-Inhibitoren wie Integrine sowie Discoidin Domain Rezeptor 1 (DDR1) dar. Der Verlust bzw. die Blockade von DDR1 hemmt die Produktion von Typ IV Kollagen und verlangsamt im AS-Mausmodell den Verlauf der Nierenfibrose [25,26,27,28]. Letztlich kann der dem AS zugrunde liegende Gendefekt nur durch gen- und zellbasierte Therapien geheilt werden [29,30,31,32]. Die unklare Datenlage rückt die Knochenmarktransplantation als mögliche kurative Therapie noch in weite Ferne.

Nephrologischer Leitfaden zu Diagnose und Verlaufskontrolle

(1) Zeitpunkt und Methoden der Frühdiagnose: eine Domäne der Humangenetik

Besonders im kindernephrologischen Bereich ist in Deutschland die molekulargenetische Diagnostik Goldstandard für die Diagnose von Typ IV Kollagen-Erkrankungen und ersetzt mittlerweile oft die Nierenbiopsie. Jedes Kind, auch Mädchen mit einer heterozygoten Variante, sollte bereits im Kindesalter genetisch diagnostiziert werden, da die Diagnose therapeutische Konsequenzen hat. Wegen der Ausreifung der GBM sollte das Screening beim Kinderarzt auf Mikrohämaturie bei AS ab dem 2. Lebensjahr, spätestens bei der U8, erfolgen. Jede Mikrohämaturie renalen Ursprungs oder Mikroalbuminurie sollte zur Überweisung zum Kindernephrologen führen. Das AS ist zunächst eine klinische Diagnose des erfahrenen (Kinder‑)Nephrologen, die häufig schon durch sorgfältige Untersuchung und (Familien‑)Anamnese gestellt werden kann (Abb. 1). Jeder Verdacht auf AS ist wegen der Therapiemöglichkeiten mittels vollständiger Diagnostik abzuklären. Leider liegen oft viele Jahre zwischen den ersten Symptomen und der Diagnosestellung [34] mit einem traurigen Gipfel der zu spät erkannten Fälle zwischen dem 10. und 25., teils auch 30. Lebensjahr (trotz eindeutiger Symptome wie Proteinurie und Ödemen). Jede Familie sollte humangenetisch beraten und idealerweise bereits vom Humangenetiker auf Therapiemöglichkeiten hingewiesen werden. Nierenbiopsien sind zwingend auch elektronenmikroskopisch aufzuarbeiten, typische lichtmikroskopische (Fehl‑)Diagnosen sind die fokal segmentale Glomerulosklerose (FSGS) oder die mesangioproliferative Glomerulonephritis.

Abb. 1
figure 1

Synopsis der Diagnose- und Therapieempfehlungen (nach [33]). Zur Diagnostik gehören neben der nephrologischen Standarddiagnostik eine vollständige Familienanamnese (einschließlich Untersuchung der Angehörigen auf Mikrohämaturie) und die Abklärung auf Innenohrschwerhörigkeit und Augenveränderungen (Spaltlampenuntersuchung)

(2) Art und Häufigkeit der Kontrolluntersuchungen, insbesondere bei Hämaturie

Heterozygote Anlageträger des X‑chromosomalen (XLAS) oder autosomal-rezessiven Alport-Syndroms (ARAS) mit einer dünnen Basalmembran sind darüber aufzuklären, dass der klinische Verlauf nicht immer benigne ist. Bis zu 40 % der Patienten entwickeln im höheren Alter eine Nierenfunktionseinschränkung, bis zu 20 % sind auf Dialyse angewiesen. Mutmaßlich ist die Dialyse bei den heterozygoten Anlageträgern durch frühzeitige RAAS-Blockade komplett vermeidbar. Heterozygote Anlageträger sollten daher ab Diagnosestellung jährlich und lebenslang auf weitere Risikofaktoren untersucht werden. Erwachsene heterozygote Anlageträger sollten bereits ab dem Auftreten einer Mikroalbuminurie behandelt werden, Kinder erst ab dem Auftreten einer Proteinurie. In späteren Stadien unterscheidet sich die Therapieeskalation nicht vom „normalen“ Patienten mit AS (s. unter Punkt 5).

Patienten, die hemizygote, compound-heterozygote oder homozygote Varianten aufweisen, entwickeln zu 100 % eine terminale Niereninsuffizienz. Die Zeitspanne bis zur Dialyse ist abhängig vom Therapiebeginn und der Variante, Patienten mit Glycin-Missense-Varianten zeigen einen langsameren Verlauf der Erkrankung. Daher sind diese Patienten ab Diagnosestellung mindestens halbjährlich und lebenslang vom Nephrologen auf Mikroalbuminurie und Risikofaktoren zu untersuchen.

Im Erwachsenenbereich bedeutet dies, dass jeder Patient mit Mikrohämaturie glomerulären Ursprungs schriftlich über sein potenzielles Risiko aufgeklärt und jährlich beim Hausarzt auf Mikroalbuminurie untersucht werden sollte. Bei Auftreten von Mikroalbuminurie sollte sofort eine erneute nephrologische Vorstellung erfolgen. Jedes Kind mit persistierender Mikrohämaturie glomerulären Ursprungs, insbesondere bei weiteren betroffenen Familienmitgliedern, sollte frühzeitig einer genetischen Diagnostik auf AS durch den Humangenetiker zugeführt werden.

(3) Optimaler Therapiebeginn

In Beobachtungsstudien konnte gezeigt werden, dass ACE-Hemmer die Dialyse im Median um 18 Jahre verzögern und die Lebenserwartung verbessern [35]. Die nachfolgende Empfehlung (Abb. 2) gibt eine Orientierung für die Off-Label-Therapie, solange klinische Studien noch keine Entscheidungsgrundlage liefern. Jeder Patient sollte im Register (Tab. 2) erfasst werden, weil die Off-Label-Therapie ohne wissenschaftliche Auswertung als unethisch angesehen wird.

Abb. 2
figure 2

Wissenschaftliche Rationale der überragenden Bedeutung der humangenetischen Familienuntersuchung beim Alport-Syndrom. Eine frühe humangenetische Diagnose verzögert das Nierenversagen um viele Jahre.

Rot Natürlicher Verlauf des Alport-Syndroms in Europa. Abhängig vom Genotyp muss der unbehandelte Patient im Median mit 22 Jahren an die Dialyse.

Gelb Der Beginn der RAAS-Blockade bei einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) < 60 ml/min/1,73m2 verzögert das Nierenversagen „nur“ noch um 3 Jahre.

Grün Der Beginn der RAAS-Blockade bei proteinurischen Patienten mit normaler GFR verzögert die Dialyse im Median um 18 Jahre. Der nephroprotektive Effekt in dieser Gruppe ist stark abhängig von Umweltfaktoren: Am effektivsten scheint die Kombination von RAAS-Blockade, regelmäßiger Anbindung an einen Nephrologen mit strenger Einstellung aller zusätzlichen Risikofaktoren, gesunder Lebensstil und Nichtrauchen.

Blau 10 Jahre Registerarbeit deuten an, dass möglicherweise Patienten mit sehr früher Diagnose durch den Humangenetiker und „günstigerem“ Genotyp (Missense-Variante) bei optimaler Therapie und nephrologischer Betreuung in Zukunft kein terminales Nierenversagen mehr erleiden werden. Diese Gruppe könnte durch Therapien mit neuen Medikamenten noch deutlich anwachsen

Im klinischen Alltag wird das Fortschreiten der Mikroalbuminurie zur Poteinurie oft mit Verzögerung festgestellt und die RAAS-Blockade auch erst verzögert eingeleitet. Bei Kindern mit Loss-of-Function-Varianten kann man eine Therapie bereits ab dem Stadium der Mikroalbuminurie erwägen, bei allen anderen Patienten spätestens bei Auftreten der Proteinurie [36, 37]. Die Frage nach einem noch früheren Therapiebeginn wird die EARLY PRO-TECT Alport-Studie 2019 hoffentlich beantworten. Möglicherweise ist die Dialyse bei der Mehrzahl der Patienten mit Missense-Varianten vermeidbar. Von Brüderpaaren wissen wir, dass jedes Jahr, welches die Diagnose früher gestellt wird, dem Patienten mehrere zusätzliche Jahre mit erhaltener Nierenfunktion bringt [35].

Mögliche genetische Modifier beim Alport-Syndrom

Aktuell sind verschiedene NGS-Panels verfügbar, die insbesondere Varianten in Genen, die für Schlitzmembranproteine kodieren, analysieren. Auch wenn tierexperimentell erste Hinweise vorliegen, dass Polymorphismen und heterozygote Varianten in den Schlitzmembranproteinen den Krankheitsverlauf beim Alport-Syndrom beeinflussen, kann derzeit aufgrund unzureichender Datenlage noch keine abschließende genetische Bewertung dieser Varianten vorgenommen werden. In naher Zukunft wird deshalb die engere Zusammenarbeit zwischen einsendendem (Kinder‑)Nephrologen und Humangenetiker noch bedeutender.

Nephrologischer Leitfaden zur Therapie

Patienten mit Alport-Syndrom: ACE-Hemmer ab Proteinurie >0,3 g/Tag, AT1-Antagonisten sind second-line [20, 34, 38,39,40]. Empfohlen wird Ramipril bis 10 mg/Tag bzw. 6 mg/m2. Kinder in frühen Stadien sollten nur in Studien wie EARLY PRO-TECT Alport behandelt werden [41].

Heterozygote Anlageträger mit TBMN: ACE-Hemmer bei volljährigen Patienten mit Mikroalbuminurie und bei allen Patienten mit Proteinurie [33, 36,37,38]. Auch Patienten mit Hämaturie sollten jährlich untersucht werden, insbesondere auf Risikofaktoren [39]. Heterozygote X‑linked- oder ARAS-Anlageträger (mit TBMN) werden hier nicht unterschieden, denn beide haben ein – therapierbares – erhöhtes renales Risiko!

(4) Supportive Maßnahmen

Die Pathogenese des Alport-Syndroms ist hochkompliziert, letztlich aber Folge eines simplen mechanischen Stabilitätsproblems der GBM. Die Effektivität von supportiven Maßnahmen beim AS zum Schutz der GBM wird unterschätzt. Studien an Jugendlichen mit AS lassen vermuten, dass sich rezidivierende bakterielle Infekte, schlechter Zahnstatus, hoher Salzkonsum, hoher Konsum von tierischem Eiweiß, extremer Kraftsport, Rauchen, Grenzwerthypertonie und Übergewicht negativ auf die GBM auswirken [20]. Eine Änderung der Lebensgewohnheiten verzögert wahrscheinlich das Nierenversagen um Jahre. Wir versuchen derzeit, dies im Tiermodell wissenschaftlich zu beweisen.

(5) Therapieeskalation bei zunehmender Proteinurie

Auch wenn ACE-Hemmer den Krankheitsverlauf um Jahre verzögern, schreitet die Erkrankung dennoch fort. Bei zunehmender Proteinurie werden in Deutschland in erster Linie AT1-Antagonisten additiv zum ACE-Hemmer eingesetzt. Bei steigendem Blutdruck und/oder zunehmender Proteinurie können alle Antihypertensiva-Klassen verwendet werden, vorzugsweise langwirksame Ca-Antagonisten, Diuretika und ggf. Spironolacton. Der Ziel-RR liegt bei unter 125/75 mm Hg. Ziele sind hier die Reduktion der Proteinurie und zu jedem Krankheitsstadium der Schutz der restlichen Glomeruli vor Hyperfiltration.

(6) Therapiemöglichkeiten und -ziele bei Sekundärkomplikationen

Prinzipiell entsprechen die Sekundärschäden bei AS denen von anderen Nierenerkrankungen. Speziell bei Erwachsenen mit Dyslipoproteinämie werden Statine aufgrund der im Alport-Tiermodell nachgewiesenen antifibrotischen Eigenschaften und bei Hyperparathyreoidismus Paricalcitol empfohlen [32, 33]. Beide Maßnahmen verzögern möglicherweise auch beim Menschen das Nierenversagen um Monate bis wenige Jahre und verringern das kardiovaskuläre Risiko.

Nephrologischer Leitfaden zu Nierenersatzverfahren, Transplantation und Prognose

(7) Besonderheiten bei Dialyse und bei Transplantation

Die Lebenserwartung von Patienten mit AS unter Dialyse und nach Transplantation ist besser als von gleichaltrigen Dialysepatienten mit anderen Nierenerkrankungen [40]. Spendewilligen Anlageträgern mit einer heterozygoten Variante in einem der COL4A-Gene ist von der Nieren-Lebendspende abzuraten.

Ausblick

Die frühzeitige Off-Label-Therapie mit ACE-Hemmern bei Kindern mit AS ist medizinischer Standard. Über die Studienzentrale kann jedem Patienten mit AS die Teilnahme an weltweiten klinischen Studien angeboten werden, die in den nächsten Jahren weitere Therapiemöglichkeiten aufzeigen werden. Das Ziel zukünftiger Studien ist nicht nur der Beleg des klinischen Nutzens, sondern insbesondere auch die Sicherheit neuer Medikamente. Dem Humangenetiker kommt hier eine wichtige Lotsenfunktion zu, indem die frühe molekulargenetische Diagnosesicherung nicht nur zur umfassenden Familienuntersuchung führt, sondern auch zur frühen organprotektiven Therapie.

Fazit für die Praxis

  • Auch bei heterozygoten Anlageträgern (früher: benigne familiäre Hämaturie) sollte der Befund des Humangenetikers auf das erhöhte Risiko einer progredienten Nierenerkrankung hinweisen. Ebenso wie das AS ist auch die benigne familiäre Hämaturie nicht benigne. Beide Erkrankungen benötigen eine lebenslange nephrologische Betreuung und Therapie.

  • Kernprobleme beim AS sind die mechanische Stabilität der GBM, Fehlsignale der Kollagenrezeptoren, der Podozyt mit lokalem RAAS und interstitielle Sekundärschäden.

  • Vielen Patienten mit AS können aktuell klinische Interventionsstudien mit neuen Medikamenten angeboten werden.

  • Die frühe Diagnose durch den Humangenetiker in Zusammenarbeit mit dem (Kinder‑)Nephrologen ist entscheidend und verbessert durch die frühere RAAS-Blockade die Prognose um viele Jahre.

  • Optimaler Therapiebeginn, Stufentherapie und supportive Maßnahmen haben bei vielen Patienten das Potenzial, einen dialysepflichtigen Erkrankungsverlauf zu vermeiden. Bitte weisen Sie Ihre Patienten in Ihrem genetischen Befund auf die Behandlungsmöglichkeiten hin.