Zeitgeschichte der Medizin

Über Zeitgeschichte lässt sich trefflich streiten. Schon der Begriff ist flüchtig, bezeichnet er doch die historiographische Bearbeitung einer Epoche, die anders als andere Perioden in der Geschichte beweglich ist, weil sie sich permanent mit dem Lauf der Zeit verschiebt. Zeitgeschichte lässt sich definieren als der „Teil der Geschichte, der von den noch lebenden Menschen miterlebt und mitgestaltet wird sowie die wissenschaftl[iche] Behandlung dieses Geschichtsabschnitts“ [13]. Auch in der Medizingeschichte erfreut sich die Zeitgeschichte großer Popularität. Anders als noch in den 1980er-Jahren wird sie, der Definition der Zeitgeschichte folgend, in Deutschland immer weniger von der Medizin im Nationalsozialismus als Forschungsgegenstand dominiert. Vielmehr stehen heute beispielsweise der Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit, das deutsch-deutsche Verhältnis, Reformbewegungen der späten 1960er- und 1970er-Jahre und die Technisierung und Molekularisierung der Medizin sowie die Medikalisierung des Alltags im Zentrum des Interesses [19, 54]. Nicht anders als andere Bereiche der Geschichte fragt auch die Zeitgeschichte der Medizin nach handelnden Personen und ihren Netzwerken, Konzepten, Strukturen, Institutionen, sozialen Verhältnissen, Ökonomien, Objekten, Technologien, Wissensformaten etc.

Die Zeitgeschichte hält eine Reihe von Herausforderungen bereit, mit denen sich Historikerinnen und Historiker konfrontiert sehen. Allem voran sind hier die Zeitzeugen mit ihren teils einander widersprechenden Erinnerungen zu nennen, die individuell und aus ihren Interessenslagen heraus ein facettenreiches Bild von Ereignissen, Prozessen und Strukturen der von ihnen erlebten Geschichte zeichnen. Dieses muss in seiner Komplexität reduziert werden, wenn daraus eine plausible Gesamtschilderung entstehen soll. Gleichzeitig ist es schwierig, dieses Bild aus der Distanz zu zeichnen, da es sich ja noch im Entstehungsprozess befindet. Anders als in anderen Bereichen der Geschichte, in denen Archivalien fehlen, ist für die Zeitgeschichte der gleichzeitige Überfluss und das Fehlen sowie das Vorliegen widersprüchlicher Quellen ein methodisches Problem.

Dies erklärt sich daraus, dass die aktuelle Zeitgeschichte zum einen auf ein Übermaß an gedruckten Quellen, Ton- und Filmdokumenten sowie beispielsweise Patientendokumentationen und Verwaltungsmaterial blicken kann. Gleichzeitig erschweren Archivsperrfristen, Datenschutz und die Nutzung von Fernsprechern, E‑Mail und anderen elektronischen Kommunikationsmedien die Auswertung von Quellen. Mitunter fehlen diese Quellen ganz, wenn an die Stelle der schriftlichen Korrespondenz als primäres Mittel der informellen Kommunikation beispielsweise das Telefon getreten ist. In der Folge sind bestenfalls noch Telefonnotizen entstanden, die wiederum nicht archiviert und meistens nur zufällig von Zeitzeugen übermittelt wurden. Patientenakten, Sozialgerichtsakten oder Protokolle von Arzt-Patienten-Gesprächen wiederum sind für zeithistorische Fragen allein schon aus archivrechtlicher Sicht nicht vollumfänglich zugänglich.

Interviews mit Zeitzeugen bieten hier neben einem Mosaik von Erinnerungen „eine zusätzliche Orientierungshilfe“ [54]. Sie helfen Quellen einzuordnen, neue Quellen zu identifizieren, Entwicklungstrends zu verstehen und heuristische Raster zu justieren. In der Oral History können zudem auch Personen zu Wort kommen, die keine zeitgenössischen Schriftquellen hinterlassen haben, etwa weil sie nicht versucht haben, Einfluss auf Verwaltungsprozesse auszuüben. So hat die Oral History das Potenzial, die Zeitgeschichte um bisher „stille“ Akteurinnen und Akteure zu ergänzen und anzureichern.

In diesem Sinn ist es von besonderem Wert, wenn medizinische Fachgesellschaften sich dazu entschließen, ihre eigene Zeitgeschichte auch durch Zeitzeugeninterviews zu erarbeiten, zu dokumentieren und zur Diskussion zu stellen. Die Gesellschaft für Humangenetik (GfH) hat sich die Erforschung ihrer jüngeren Geschichte durch eine Zeitzeugenbefragung als Aufgabe gestellt. In einem Projekt mit den medizinhistorischen Instituten in Düsseldorf (Direktor: Prof. Dr. Heiner Fangerau) und Lübeck (Direktor: Prof. Dr. Cornelius Borck) strebt sie danach, zum einen ihre jüngere Vergangenheit zu rekonstruieren, zum anderen auch Stimmen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für spätere Analysen zu konservieren. Das Projekt wird über alle Phasen hinweg durch Experten aus der Humangenetik (Arbeitsgruppe Oral History: Prof. Christian Kubisch, Hamburg; Dr. Christine Scholz, München; Prof. Dagmar Wieczorek, Düsseldorf; Prof. Klaus Zerres, Aachen) begleitet. Während sich die GfH damit zum einen an internationalen Vorhaben wie dem des britischen Genetikers Prof. Peter Harper orientiert, der zwischen 2003 und 2014 100 Interviews mit insgesamt 104 Personen führte [21], geht sie doch einen etwas anderen Weg, indem sie ein unabhängiges Forschungsprojekt an die genannten Institute vergeben hat. In Düsseldorf wird das Projekt durchgeführt von Dr. Matthis Krischel und Dr. Felicitas Söhner.

Eine solche unabhängige Bearbeitung durch Medizinhistoriker/-innen kann die Zeitgeschichte der Humangenetik möglicherweise besser in eine breitere Zeitgeschichte einbetten als eine interne Geschichtsschreibung. Gleichzeitig existiert ein Konfliktpotenzial, wenn etwa die historische Analyse nicht den Erwartungen der beauftragenden Institution entspricht oder wenn Zeitzeugen ihre Geschichte als nicht genügend gewürdigt oder durch andere Zeitzeugen oder andere Quellen als verfremdet erleben. Für die beteiligten Historikerinnen und Historiker wiederum ergibt sich die Herausforderung, in ihrer Analyse der Geschichte der Humangenetik die historischen Interessen der beauftragenden Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren, ohne in die Rolle des Sprachrohrs [54] oder des Schreibers einer offiziellen Geschichtsdarstellung zu verfallen.

So mag das Interesse einer medizinischen Fachgesellschaft darin liegen, eine angemessene Würdigung des Vereins und seiner Mitglieder im Feld der medizinischen Forschung und Praxis zu erfahren. Im Sinn eines „history marketing“ [36] könnte es das Ziel sein, eher eine Erfolgsgeschichte sowohl von Forschung und Entwicklung als auch der Institutionalisierung eines Fachs zu schreiben. Aus dieser Perspektive würden sich Erkenntnisinteressen folglich vor allem auf die Bereiche der Institutionalisierung und klinischen Erfolge konzentrieren.

Spezialisierung und Institutionalisierung sind nun auch Aspekte, die für Historikerinnen und Historiker von Interesse sind [10, 70]. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sollte der Bogen aber breiter gespannt und weniger am Ergebnis selbst orientiert sein. Die Institutionalisierung wird hier verstanden als abhängig von beispielsweise der sozialen und diskursiven Einbettung des Fachs in gesellschaftliche Strömungen und einer selbst wieder kontingenten wissenschaftlichen sowie technischen Entwicklung. Das Interesse an Spezialisierung und Institutionalisierung bewegt sich also im Feld zwischen Wissenschaftsgeschichte und Sozialgeschichte der Humangenetik. Es geht im konkreten Fall um die Wechselwirkung zwischen Ideen, Techniken, Akteuren, Institutionen, Politik und Öffentlichkeit, die das Fach Humangenetik sowie seine inhaltliche, personelle und institutionelle Ausgestaltung determinierten [11].

Aus wissenschaftshistorischer Sicht wird gefragt nach Technikentwicklungen, Forschungsinteressen, -institutionen, -themen etc. Aus sozialhistorischer Sicht wird gefragt nach der Anwendung der Genetik auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Hierzu gehören beispielsweise die humangenetische Beratung als Teil der Gesundheitsversorgung und -vorsorge, die Suche nach den Akteurinnen und Akteuren der Genetik auf verschiedensten beruflichen Ebenen, die öffentlichen Reaktionen auf genetische Entwicklungen und nicht zuletzt die Interaktion zwischen Humangenetik, Politik und Öffentlichkeit. Dabei bleiben in der ersten Phase des Forschungsprojekts Fragen nach der Patientenperspektive und Beziehungen zwischen Humangenetikern und der medizinischen Industrie noch im Hintergrund; diese Fragen können und sollen aber zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen werden. In der deutschen Zeitgeschichte gibt es hier überdies eine historisch singuläre Kontrastfolie, die durch die Suche nach Vergleichspunkten in beiden deutschen Staaten im Sinn einer, wie Kleßmann es formulierte, „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ [24] entsteht.

Zeitgeschichte der Humangenetik in Deutschland und Forschungsstand

Für die GfH als relativ junge Gesellschaft mit gleichwohl langer Tradition spielt die Zeitgeschichte eine besondere Rolle: In ihrer Selbstverortung bezieht sich die GfH seit ihrer Gründung bewusst und kontinuierlich auf Geschichte als Referenzpunkt, Argument und Richtschnur für das eigene Gesellschaftshandeln. In einer 2014 von Klaus Zerres und Christine Scholz zur 25. Jahrestagung der Gesellschaft herausgegebenen Festschrift [74] beispielsweise spricht Zerres die historische Verortung und Organisation des Fachs an, wenn er schreibt:

Ethische Fragen haben auch auf dem Hintergrund unserer leidvollen Geschichte von Beginn an in unserem Fach einen herausgehobenen Stellenwert. Die auf der ersten Tagung der GfH in München verabschiedete erste Stellungnahme sollte dies von Beginn an deutlich machen [74].

In der Folge zitiert er eine Erklärung der Gesellschaft von 1989, in der betont wird, dass humangenetische Diagnostik und Prädiktion die Gesundheit des einzelnen Patienten und seiner Familie im Fokus hätten und die GfH den Einsatz humangenetischer Erkenntnisse als Basis einer „eugenisch orientierten Gesundheitspolitik“ als Missbrauch ablehne. Zerres selbst schließt seinen Beitrag mit fünf Feststellungen und Forderungen, in denen er für einen verantwortungsvollen Umgang mit genetischen Informationen, für eine Beförderung des Wissens in der Bevölkerung über „Erbkrankheiten und Behinderungen und deren Entstehung“ sowie für eine Reflexion darüber plädiert, ob die Gesellschaft „Familien mit dem Schicksal einer Erbkrankheit diejenigen Hilfen biete[t], die ihnen ein würdevolles Leben ermöglich[en]“ [74]. Hier wird ein andauernder Anspruch auf eine nicht nur wissenschaftlich-medizinische, sondern auch gesellschaftlich kritisch-reflektierte Rolle der Humangenetik deutlich.

Dies ist allerdings in der Geschichte der Medizin nicht unüblich [63]. Auffällig für die GfH ist in diesem Kontext jedoch, wie viele Genetiker sich bisher mit der Geschichte der Eugenik befasst haben. Bereits um die Gründung der GfH herum ist das vielbeachtete Werk von Peter Emil Becker Wege ins Dritte Reich (Bd. 1 1988, Bd. 2 1990) erschienen, in dem er ausführlich am Beispiel von Biographien, wie der seines Vorgängers in Göttingen Fritz Lenz, die Rolle genetischen Denkens für die eugenischen und rassenhygienischen Ideale der Zwischenkriegszeit beschreibt und ihren Einfluss im sog. Dritten Reich thematisiert (zu Becker selbst s. [22, 73]). Bereits einige Jahre zuvor hatten sich andere Genetiker zur Eugenik geäußert und dabei immer auch implizit oder explizit das Verhältnis der Humangenetik zur Eugenik angesprochen. Dazu zählen etwa Benno Müller-Hill (1984) im Kontext der „Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken“ durch deutsche „Wissenschaftler, Mediziner, Anthropologen und Psychiater“ [38] sowie Gerhard Koch (1985) im Kontext der psychiatrischen Genetik [25].

Ebenfalls bereits ab den 1980er-Jahren begannen (Medizin‑)Historiker, Philosophen und Soziologen den Themenkomplex zu bearbeiten. Bereits 1988 legten Peter Weingart, Jürgen Kroll und Karl Bayertz mit Rasse, Blut und Gene [68] ein bis heute beständiges Standardwerk zur „Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland“ vor; Stefan Kühl (1997; [29]) beschrieb die internationale Dimension der Bewegung. Beide Arbeiten untersuchen die Implikationen der historischen Erfahrung der Anthropologie und Eugenik für die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung der Humangenetik und medizinischen Genetik. Ausdrücklich von Kontinuitäten von der Rassenhygiene zur Humangenetik sprachen etwa Hans-Peter Kröner (1998; [27]) und Benoît Massin (1999; [31]), der in der Humangenetik bis in die 1970er-Jahre starke Bezüge auf die Anthropologie einschließlich der Rassenkunde ausmacht. Durch eine diachrone Co-Zitationsanalyse zeigten Krischel, Halling und Fangerau (2012; [26]), dass die meisten Autoren aus dem Umfeld der Eugenik ab den 1980er-Jahren kaum mehr im Kontext der Humangenetik, dafür häufiger im Kontext der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte zitiert werden. Dies deutet darauf hin, dass es auch nach 1945 intellektuelle Kontinuitäten zwischen der Eugenik und der sich formierenden Humangenetik gab. Die Autoren argumentieren, dass die Problematisierung der Eugenik durch Historiker zu einem Bruch dieser Kontinuität beitrug.

Im Rahmen des Forschungsprogramms „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ erschienen in verschiedenen Bänden Aufsätze zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik [28, 32, 66, 67] sowie Monographien zum Institut [55, 56] und dem auch im Nachkriegsdeutschland einflussreichen Hans Nachtsheim [58]. Der Förderung von Forschung zur Vererbungsfrage im medizinischen Kontext in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und im Nachkriegsdeutschland ist Anne Cottebrune (2008) in einer Monographie nachgegangen [7], die in einer Reihe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft erschienen ist. Einen Überblick über die reichhaltige englischsprachige Literatur zum Verhältnis von Eugenik und Humangenetik bietet Nils Roll-Hansen (2010; [52]).

Bis heute schreiben Humangenetiker überdies auch die Zeitgeschichte ihres eigenen Fachs. Einen klassischen Platz findet sie nach wie vor in Einführungskapiteln von Lehrbüchern [37, 64]. Darüber hinaus sind die Geschichte und gesellschaftlichen Implikationen der Genetik nach 1945 auch ein Thema, dem sich arrivierte deutsche Humangenetiker wie Friedrich Vogel (1999; [65]) oder Peter Propping [49, 50] gewidmet haben. Bereits seit 2002 engagiert sich der Waliser Humangenetiker Peter Harper im „Genetics and Medicine Historical Network“ (https://genmedhist.eshg.org). Im Jahr 2008 legte er eine Monographie zur Wissenschaftsgeschichte der Humangenetik vor [20]. Im Jahr 2014 erschien zur 25. Jahrestagung der GfH und damit ein gutes Vierteljahrhundert nach der Ablösung der Humangenetik von der Anthropologie in Deutschland die bereits oben erwähnte von Zerres und Scholz herausgegebene Festschrift, die ein Bild der Entwicklung der Humangenetik in diesem Zeitraum aus der Perspektive ihrer Protagonisten zeichnet [74].

Mit der Entwicklung der Humangenetik in den Nachbarländern Deutschlands haben sich etwa Dirk Tomaschke (2014) für Dänemark [62] sowie Pascal Germann (2016) für die Schweiz beschäftigt [16]. Dabei nimmt Tomaschke den Zeitraum bis 1990, Germann den bis 1970 in den Blick. Zur Humangenetik in der DDR gaben Karin Weisemann, Peter Kröner und Richard Toellner bereits 1996 einen Sammelband heraus [69]. Jörg Schulz (2007) stellt die Humangenetik in der DDR als eine besonders stark von der Politik abhängige Disziplin dar [57]. Sie sei erst ab den 1970er-Jahren mit zunehmenden medizinisch-praktischen Anwendungen und nach dem Ende des Lyssenkoismus hoffähig geworden [23].

Wichtige Beiträge zur Geschichte der Humangenetik aus globaler Perspektive erschienen jüngst in einem von Heike Petermann, Peter Harper und Susanne Doetz (2017) herausgegebenen Band [44]. Im Kontext der Zeitgeschichte der Humangenetik in Deutschland sind hier etwa ein Kapitel zur Humangenetik als angewandte Wissenschaft in der frühen Bundesrepublik [45], Kapitel zur genetischen Beratung in der Bundesrepublik [39], der DDR [9] und – in vergleichender Perspektive –Österreich [15] relevant. Ein biographisches Kapitel über den ostdeutschen Genetiker Herbert Bach bietet einen weiteren Einblick in die Humangenetik in der DDR [46].

Eine so rege Publikationstätigkeit lässt bereits darauf schließen, dass es gegenwärtig bzw. in der jüngeren Vergangenheit bereits mehrere Forschungsprojekte zur (Zeit‑)Geschichte der Humangenetik gibt bzw. gab. Dazu gehören etwa die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekte zur „Geschichte der Humangenetik in Deutschland nach 1945 im internationalen Kontext“ (Heike Petermann, Münster, Förderung von 2010 bis 2015) und zur „Etablierung humangenetischer Beratungsstellen in der DDR im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit“ (Susanne Doetz, Berlin, Förderung von 2013 bis 2016; [8]). Vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg wird das Projekt „Präventionsentscheidungen in der Humangenetischen Früherkennung (1949–2010)“ als Teilprojekt eines Verbundprojekts zu Präventionsentscheidungen (Philipp Osten, Birgit Nemec, Heidelberg) gefördert.

Zeitzeugeninterviews zur Geschichte der Humangenetik in Deutschland

Ein Modell für den Ansatz der Experteninterviews stellt das bereits angesprochene, von Peter Harper initiierte „Genetics and Medicine Historical Network“ dar. Unter den etwa 100 von Harper interviewten Personen befindet sich jedoch nur ein in Deutschland arbeitender Humangenetiker, sodass Zeitzeugeninterviews in Deutschland weiterhin ein Desiderat darstellen. Gleichzeitig hat das von der GfH geförderte Forschungsprojekt durch seinen Bogen zwischen Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Humangenetik eine eigene Ausrichtung: Durch die besondere Geschichte der Eugenik in Deutschland gewinnt der historische und gesellschaftliche Kontext hier an Bedeutung.

Die Debatte um die gesellschaftliche Einordnung der Humangenetik wird dabei begleitet durch eine Ideen- und Technikgeschichte des Fachs. Bezugspunkte für das Projekt bieten hier u. a. die Überblicke über die Geschichte der GfH von Vogel (1999; [65]) und Propping (2007; [49]) in der Zeitschrift medizinische genetik. Propping nennt die wissenschaftlich-technische Entwicklung der Humangenetik, konkret das „Aufstreben von Zytogenetik, biochemischer Genetik und insbesondere der Molekulargenetik“ bis 1987 als einen Grund für eine Abspaltung der Humangenetik von der Anthropologie und für die Gründung der GfH. Er benennt in einer Zeittafel Meilensteine der Entwicklung der GfH bis 2009, darunter auch die Einrichtung einer Geschäftsstelle in München im Jahr 2004.

Diese Einschätzung der Periodisierung in Zytogenetik und Molekulargenetik, ergänzt um eine dritte Periode der Informationswissenschaft, scheint von anderen Autoren geteilt zu werden. In Anlehnung an Timothy Lenoir [30] kann für eine dritte Phase von einer medizinischen Genetik in silico gesprochen werden. Hiermit ist gemeint, dass vor allem Labor- und Informationstechniken zu einer Fokussierung auf computergestützte Techniken geführt haben. Dabei lösen die Perioden einander aber (gerade in der Patientenversorgung) nicht im Sinn eines Nacheinanders ab, sondern sie treten überlappend nebeneinander: Durch Entwicklungen der molekularen Medizin und der Bioinformatik wird zum Beispiel die Diagnostik chromosomaler Syndrome (z. B. Trisomie 21) nicht obsolet.

Oral History als Methode

Um die neben der bisher aufgeschriebenen Geschichte (dem „kulturelle[n] Gedächtnis“ der GfH [1]) stehenden Aspekte subjektiver Erfahrungsgeschichte zu erforschen, werden in dem Projekt Experteninterviews mit Protagonisten der deutschen Humangenetik aus den Jahren 1970–2010 geführt. Dieser Zugang weist Spezifika auf, die ihn als nützliches, wenn auch nicht gänzlich problemloses zeithistorisches Instrument ausweisen. Das Weitergegebene des Erlebten bildet keine historischen Fakten ab, sondern ist in seiner Narration bereits verarbeitetes Wissen [72]. Subjektivität ist ein zentraler Aspekt der Oral History [41]. Mit dieser Methode werden historische Narrative als Verarbeitung subjektiver Vergangenheit [47] rekonstruiert, die dann auf Abweichungen vom bisherigen Quellenstand untersucht werden können [48].

Forschungspraktisch bedeutet das für die Zeitzeugenarbeit, dass die individuellen Lebenserfahrungen der Akteurinnen und Akteure nicht unreflektiert als historische Wahrheiten übernommen werden können [43], sondern in ihrer Subjektivität ernst genommen, durch zusätzliche Quellen kontextualisiert und interpretiert werden müssen [59]. Nach Welzer sollten Zeitzeugengespräche als adressatenbezogene Konstruktionen aufgefasst werden, „in denen biografische Erfahrungen nach ihrer sozialen und emotionalen Bedeutsamkeit, nach narrativen und normativen Erfordernissen und nach Maßgabe nachträglichen Wissens jeweils neu fingiert und präsentiert werden“ [71]. Die Gespräche können daher nur in der Masse und durch eine Einbeziehung weiterer Quellen zur exakten Rekonstruktion von Abläufen beitragen. Sie werfen aber immer ein Licht auf die Subjektivität von Wahrnehmung [4, 14] und Erinnerung. Zeitzeugen können als (ehemalige) Mitglieder von Fachgremien und Forschungseinrichtungen strategische Positionen im Erinnerungsdiskurs besetzen, was einen distanzierten, retrospektiven Blick auf die eigene Fachgeschichte erschweren kann. In ihrer Rolle als „wertvolle, endogene Stimmen im Erinnerungskanon“ [53] können sie historische Kernfragen nur aus der Innenperspektive beantworten. Die daraus resultierende Spannung muss in der Auswertung berücksichtigt werden.

Von zentraler Bedeutung für die Einordnung von Aussagen aus Zeitzeugeninterviews ist ferner, dass die sozialen Voraussetzungen biografischer Narration reflektiert werden und dass zu diesen Voraussetzungen auch die Interviewsituation selbst gehört. Der Soziologe Pierre Bourdieu etwa warnt, dass die Neigung des Erzählers, „sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen“ durch eine „natürliche Komplizenschaft des Biographen, […] diese künstliche Sinnschöpfung zu akzeptieren“ gefördert werden könne [5]. Der Zeitzeugenforscher Lutz Niethammer ergänzt, dass es in der Oral History nicht darum gehe „die Sinnkonstruktionen der Quelle durch Nacherzählung zu verstärken oder schlüssiger zu machen, sondern ihre konstruktiven Elemente, ihre Erfahrungsabhängigkeit und einen Pluralismus einschlägiger Typen herauszupräparieren“ und dabei „ihren naiven Sinntransfer“ kritisch zu hinterfragen [40].

Die Zeitzeugenarbeit benötigt eine gründliche Planung [60]: Zur Vorbereitung der Gespräche haben die Interviewenden sich in die Geschichtsschreibung der Humangenetik in Deutschland eingearbeitet, um etwa Nachfragen stellen zu können. Über die Erkenntnisinteressen zur Wissenschafts- und Sozialgeschichte hinaus hatte die Befragung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen hypothesengenerierenden Charakter, d. h. über die Interviews wurden Muster in den Antworten sichtbar, aus denen neue Forschungsfragen generiert wurden. Die Suche nach geeigneten Interviewpersonen ergab sich damit nicht nur aus einer Vorauswahl auf Basis der Literatur und der Empfehlungen der Arbeitsgruppe Oral History, sondern auch sukzessive im Vollzug der bereits begonnenen Analyse. Wenn der Kreis der Befragten ausschließlich auf Empfehlung einzelner erstellt worden wäre, hätte ein verzerrtes Sample entstehen können, das sich auf die Perspektive eines Akteurclusters in einem Netzwerk beschränkt. Dies ist insbesondere zu bedenken, wenn die Empfehlungen auf Basis von Auswahlkriterien wie gemeinsame Generation, fachlicher Herkunft, persönliche Bindungen, Sprachraum oder Forschungsthema erfolgen.

Um diesem Aspekt zu begegnen, basierte in diesem Projekt die Wahl der Gesprächspartner auf einer Wechselbeziehung von Datensammlung und Analyse, die parallel zur Eruierung der Interviewpartner erfolgte. Die Auswahl der Befragten für das Projekt (32 Personen) orientierte sich an den Kriterien von Gläser und Laudel [18]. Es wurden Träger relevanter Merkmalskombinationen zu einem sog. theoretischen Sample zusammengestellt [2, 12]. Die Interviewpartner wurden nach Verfügbarkeit, Bereitschaft und Auskunftsfähigkeit so ausgewählt, dass sie die deutsche Humangenetik in der Breite repräsentieren, d. h. es sollten auch (traditionell) in der Geschichtsschreibung unterrepräsentierte Gruppen eingeschlossen werden. Für das Forschungsprojekt zur Zeitgeschichte der Humangenetik in Deutschland bedeutet das, insbesondere Frauen und Männer, Naturwissenschaftler/-innen und Ärzt/-innen und Personen aus Ost- und Westdeutschland einzuschließen. Vereinzelt wurden auch Personen, die (teilweise) im Ausland gearbeitet haben, um eine Einschätzung der Situation in Deutschland von außen gebeten. Weitere Kriterien zum Einschluss von Zeitzeugen waren fortgeschrittenes Lebensalter und gesundheitlicher Zustand. Bei der Auswahl der Zeitzeugen spielte die Arbeitsgruppe Oral History der GfH eine entscheidende beratende Rolle (s. oben).

Die Zeitzeugen wurden über das Projekt und das Interview (Durchführung, Auswertung, Publikation von Sequenzen) informiert, sodass sie dem Gespräch und der Aufzeichnung zustimmen konnten. Die Gespräche wurden von Felicitas Söhner nach der Methode des leitfadengestützten Experteninterviews geführt [18]. Über die Leitfadeninterviews wurden Informationen gesammelt, die später mit den vorhandenen Primär- und Sekundärquellen verglichen werden konnten. Dies diente zum einen dazu, die Aussagen der Zeitzeugen mit schriftlichen Primärquellen zu vergleichen, zum anderen wird die Geschichtsschreibung der Humangenetik (also die Sekundärquellen) gegen die Aussagen der Zeitzeugen geprüft, um etwa blinde Flecken in der Geschichtsschreibung aufzudecken.

Der Leitfaden konzentrierte sich auf Fragen zu professionellem Hintergrund, Forschungsnetzwerken, persönlichen Idealen und Zielen sowie Verortung der eigenen Rolle, des Fachs und fachlicher Institutionen (s. Leitfaden im Anhang). Gleichzeitig wurde versucht, das Interviewsetting und mögliche Antworten möglichst wenig zu beeinflussen. Um eine zu tiefe Vorstrukturierung des Interviews zu vermeiden, wurden die Fragen offen formuliert, sodass Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die Möglichkeit hatten, den Gesprächsverlauf auf die für sie relevanten Inhalte zu lenken. Die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurden gebeten, neben dem Interview gegebenenfalls auch weitere Zeitdokumente zur Verfügung zu stellen, die als historische Primärquellen in die Analyse einfließen können.

Die Interviewgespräche wurden als Tondateien gespeichert. Weitergehende Aufzeichnungen ausgewählter Gesprächspartner im Filmformat sind vorgesehen. Die Aufzeichnungen wurden in Form von Regesten erfasst und von den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern zur wissenschaftlichen Auswertung autorisiert. Die Interviewsequenzen werden derzeit mithilfe qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring [34, 35] sowie Breuer und Reichertz [6, 51] untersucht. Es wird erwartet, dass im Sinn der Grounded Theory [17, 61] während der Analyse der Interviews weitere Fragestellungen zu Tage treten, die sich allein aus der historischen Literatur nicht aufwerfen ließen. Dies bedeutet, dass im Sinn eines hermeneutischen Zirkels die in einer Voranalyse entwickelten Hypothesen, Periodisierungen und Rekonstruktionen der Geschichte iterativ zirkulär am Datenmaterial überprüft und gegebenenfalls überarbeitet werden [3]. Dieses Vorgehen ermöglicht es, sowohl auf der Basis zu Beginn formulierter Forschungsfragen und daran geknüpfter Hypothesen (deduktiv) zu arbeiten, als auch offen für die Narrative und Deutungen der Zeitzeugen und der von ihnen beigebrachten historischen Primärquellen zu bleiben (induktiv; [33]).

Schluss

Der Historiker Kurt Nowak hat angemerkt, dass die Geschichtswissenschaft, wenn sie mit einem Überangebot historischer Quellen konfrontiert ist, „immer ausschnitthaft arbeiten muß“. Insofern sei „historische Forschung auch immer Vergangenheitspolitik mit den Mitteln der Wissenschaft bzw. auch Gegenwartspolitik“ [42]. Ein Projekt wie dieses von der GfH geförderte zu Zeitzeugen kann sich von einer solchen Beobachtung nicht freimachen. Dies kann und soll auch gar nicht das Ziel sein. Vielmehr soll darin die Spannung zwischen Geschichte und Gegenwartspolitik innerhalb der deutschsprachigen Humangenetik produktiv angewendet werden. Zum einen wird die Entwicklung und Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Techniken aus Zeitzeugensicht nachgezeichnet. Zum anderen wird auf institutioneller Ebene die Etablierung und der Ausbau der Institutionen der Humangenetik aus Sicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Prozesses rekonstruiert. Indem zusätzlich zu den Zeitzeugeninterviews auch die oben genannten historischen Quellen – Technikgeschichte der Genetik, Geschichtsschreibung rassenhygienischer Tradition sowie soziale und politische Selbstverortungen von Humangenetikern – analysiert werden, wird es möglich, eine Einordnung des Handelns der beteiligten Akteurinnen und Akteure in den politischen und medizinischen Alltag vorzunehmen.

Das Alltagshandeln, die jeweiligen individuellen Rahmenbedingungen und die Handlungsspielräume der Befragten sollen so ins Zentrum der Betrachtung gerückt und sowohl an gesellschaftlichen als auch an fachimmanenten Strukturen und Räumen gespiegelt werden. Perspektivisch in den Blick zu nehmen sind hier das Aufkommen von Risikodiskursen im Umfeld der Diskussion um die Nutzung der Kernenergie (1950er-Jahre) ebenso wie die Wiederaufnahme dieser Diskurse zu Beginn des Humangenomprojekts. Ferner soll danach gefragt werden, ob und wie Ereignisse wie die Studentenbewegung oder die Stern-Kampagne zum Schwangerschaftsabbruch (1971) oder auch Schwerpunktprogramme zur Humangenetik der DFG aus den 1970er-Jahren in der BRD oder humangenetische Forschungsprogramme in der gleichen Zeit in der DDR das Alltagsdenken und Alltagshandeln der Akteurinnen und Akteure bestimmten. Auf dieser Basis kann zuletzt auch ihr Gesellschaftshandeln als Mitglieder in der GfH in den Blick genommen werden und somit die Geschichte als Wissensbasis für Planungen des aktuellen und zukünftigen Handelns der Gesellschaft herangezogen werden.