Unter erblichen Tumorsyndromen versteht man Krankheitsbilder mit einem deutlich erhöhten Risiko für die – zum Teil frühmanifeste – Entstehung bestimmter Tumore, die auf einer hochpenetranten Keimbahn-Mutation in einem einzelnen Gen beruhen. Es handelt sich somit um klassische monogene Erbkrankheiten, die den Mendelschen Gesetzen der Vererbung folgen. Vererbt wird dabei nicht der Tumor, sondern die genetische Disposition für ein erhöhtes Tumorrisiko; präziser spricht man deshalb von Tumordispositionssyndromen (TDS).

Mindestens 3–5 % aller (soliden) Krebserkrankungen – je nach Tumortyp aber bis zu 20 % der Fälle – beruhen auf einer monogen erblichen Veranlagung. Damit treten in Deutschland jährlich mindestens 15–20.000 Malignome im Kontext eines TDS auf (www.rki.de; [1,2,, 3, 4];). Bei bis zu 30 % der Patienten mit malignen Erkrankungen beobachtet man allerdings eine familiäre Häufung von Tumoren, die an eine erbliche Disposition denken lässt. Der Verdacht auf Vorliegen eines TDS ist deshalb eine häufige Differentialdiagnose bei der Erhebung der Eigen- und Familiengeschichte und damit von hoher klinischer Relevanz.

Die Erkennung und korrekte Einordnung monogen erblicher Tumorformen ist wichtig, da Patienten, Risikopersonen und asymptomatische Anlageträger eine im Vergleich zu Patienten mit sporadischen Krebserkrankungen spezielle und langfristige medizinische Betreuung benötigen. Einerseits besteht ein hohes Lebenszeitrisiko für ein bestimmtes und oft breites Tumorspektrum sowie ein hohes Wiederholungsrisiko bei erstgradig verwandten Familienangehörigen; andererseits ist durch syndrom-spezifische intensivierte Vorsorge- und Früherkennungs-Untersuchungen sowie chirurgische Maßnahmen häufig eine effiziente Krebsprävention möglich; zum Teil bestehen inzwischen auch spezifische medikamentöse Präventions- und Therapieansätze.

TDS stehen deshalb paradigmatisch für ein äußerst erfolgreiches Konzept der präventiven Onkologie und individualisierten (personalisierten) Medizin. Sie begegnen dem Arzt in jeder Altersgruppe und zeigen eine mitunter ausgeprägte klinische Variabilität, auch innerhalb einer Familie. Für die professionelle Betreuung der Patienten und ihrer Angehörigen ist in besonderem Maße eine multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Humangenetik, Pathologie und verschiedenen klinischen Disziplinen notwendig. Spezialisierte interdisziplinäre Zentren sollten deshalb in Diagnostik und Koordination der Früherkennung und Behandlung eingebunden sein.

Aufgrund der raschen Verbreitung der genetischen Hochdurchsatz-Diagnostik bei Verdacht auf Vorliegen einer erblichen Erkrankung sowie der zunehmend umfassenderen prätherapeutischen genetischen Tumor-Untersuchung (Companion Diagnostics) im Rahmen individualisierter Therapiekonzepte, werden TDS inzwischen immer öfter gezielt oder als Zusatzbefund nachgewiesen, was eine Herausforderung hinsichtlich der korrekten Dateninterpretation, Wissensvermittlung und Empfehlung risikoadaptierter präventiver Maßnahmen darstellt. Neben den etablierten allgemeinen und spezifischen klinischen Kriterien spielt die somatische Tumordiagnostik und nachfolgende weitere Abklärung als separate Eintrittspforte eine immer größere Rolle bei der Identifizierung der betroffenen Familien. Die technologische Entwicklung trägt somit zusammen mit der Implementierung neuer Therapieformen zu einer steigenden ärztlichen Sensibilität und einem vermehrten Informationsbedürfnis bezüglich der TDS bei, die auch in einer stärkeren Aufmerksamkeit anderer Fachrichtungen gegenüber dem Thema zum Ausdruck kommt [6].

In den vergangenen Jahren waren mehrere Beiträge und Themenschwerpunkte den häufigeren TDS, insbesondere den verschiedenen Entitäten des familiären Darm- und Brustkrebses, gewidmet [2, 5]. Das vorliegende Themenheft behandelt deshalb seltenere Formen, die bisher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit standen, in ihrer Gesamtheit aber hohe Bedeutung für die Patientenbetreuung und als Modellerkrankungen für die Aufklärung grundlegender pathophysiologischer Zusammenhänge bei der Tumorentstehung haben.

Der Erbliche Brust- und Eierstockkrebs (HBOC), der Erbliche Darmkrebs ohne Polyposis (HNPCC/Lynch-Syndrom) und die häufigeren oder auf den Gastrointestinaltrakt beschränkten Polyposis-Syndrome (adenomatöse Polyposis-Formen, hyperplastische Polyposis) mit den ihnen zugrunde liegenden Genen wurden deshalb bewußt nicht berücksichtigt. Abhängig vom Leittumor sind die hier erwähnten seltenen TDS allerdings oft als Differentialdiagnosen der bekannteren Formen in Betracht zu ziehen.

Darüber hinaus werden seltene TDS wie das Li-Fraumeni-Syndrom oder das erbliche diffuse Magenkarzinom durch den inzwischen standardmäßigen Einsatz zunehmend breiterer Multi-Gen-Analysen im Rahmen der Abklärung des familiären Brust- und Darmkrebses nun auch vermehrt außerhalb der klassischen klinischen Kriterien identifiziert. Diese Entwicklung wird langfristig eine bessere Abschätzung der syndromspezifischen Penetranzen und Tumorspektren erlauben und damit auch eine Weiterentwicklung risikoadaptierter präventiver Strategien bewirken; sie verstärkt aber auch die Notwendigkeit der interdisziplinären Betreuung und des Austausches über Fachgrenzen hinweg. Eine scharfe Trennung der diagnostischen Algorithmen ist daher im klinischen Alltag kaum noch möglich.

Verena Steinke-Lange und Kollegen beginnen den Themenschwerpunkt mit einen Überblick über seltene TDS mit breitem Tumorspektrum, insbesondere das Li-Fraumeni‑, Cowden- und Peutz-Jeghers-Syndrom, die nicht nur häufig als Differentialdiagnose zu berücksichtigen sind, sondern aufgrund der eingeschränkten präventiven Möglichkeiten und psychischen Belastung eine Herausforderung für die multidisziplinäre Betreuung und prädiktive Testung darstellen. Die juvenile Polyposis hat sich in den letzten Jahren von einer scheinbar auf den Gastrointestinaltrakt beschränkten Tumorerkrankung zu einer syndromalen Systemerkrankung mit Beteilung des Gefäßsystems (Morbus Osler) gewandelt, was gravierende Konsequenzen für Beginn und Umfang von Früherkennungs-Untersuchungen nach sich zieht.

Tim Ripperger und Kollegen behandeln seltene, pädiatrisch relevante TDS mit einem besonderen Fokus auf embryonale Leittumoren (Wilms-Tumore, Medulloblastome, Hepatoblastome, Neuroblastome) mit ihren hereditären Differentialdiagnosen, die aufgrund des häufig sporadischen Auftretens oft verkannt werden. Die konstitutionelle Mismatch-Repair-Defizienz (CMMRD) als biallele, frühmanifeste Variante des Lynch-Syndroms und das DICER1-Syndrom mit seinen zum Teil sehr spezifischen Tumoren schlagen die Brücke zu den TDS mit breitem Manifestationsspektrum.

Der das Chromatin-(Re)Modeling beeinflussende SWI/SNF-Komplex gehört zu den bei der Tumorentstehung am häufigsten mutierten regulatorischen Einheiten. Keimbahn-Mutationen seiner Untereinheiten SMARCB1, SMARCA4, SMARCE1 und PBRM1 wurden in den letzten Jahren als Ursache eines Spektrums phänotypisch zum Teil sehr differenter TDS identifiziert und stellen die ätiologische Klammer des Beitrags von Susanne Bens und Kollegen dar. Ausführlich werden die genetischen Grundlagen, Pathomechanismen und die klinische Breite der Rhabdoid-Tumor-Prädispositionssyndrome, der hyperkalzämischen Form des kleinzelligen Ovarialkarzinoms (SCCOHT), der Schwannomatose und ihrer sporadischen Pendants besprochen.

Auf somatischen Mutations-Mosaiken (postzygotischen Mutationen) beruhende TDS werden durch den Einsatz der sensitiven NGS-Technologie zunehmend als quantitativ relevante Entitäten wahrgenommen. Sie treten bevorzugt in Genen mit hoher Neumutationsrate auf sowie in Genen, in denen konstitutionelle Mutationen früh letale Konsequenzen haben. Isabel Spier und Stefan Aretz gehen in ihrem Beitrag speziell auf letzteren Pathomechnsimus ein, der exemplarisch am Beispiel von Mosaiken des PI3K-AKT-Signalwegs und der resultierenden segmentalen Überwuchs-Syndrome dargestellt wird. Der teilweise milde oder atypische Phänotyp, das sporadische Auftreten und die aufwändigere molekulare Abklärung lassen vermuten, dass es sich bei Mosaikformen nach wie vor um stark unterdiagnostizierte Entitäten handelt.

Patienten mit seltenen TDS fällt es oft schwer, klinische Ansprechpartner mit entsprechender Expertise und krankheitsrelevante medizinische Informationen zu finden sowie Kontakte zu weiteren Betroffenen herzustellen. Oft bestehen keine standardisierten, qualitätsgesicherten Versorgungsstrukturen und etablierten präventiven Konzepte; die Durchführung aussagekräftiger wissenschaftlicher Studien ist durch die kleinen Fallzahlen erschwert. Eine Chance zur verbesserten Versorgung und Erforschung ist der Aufbau und die stärkere Venetzung von Expertenzentren, wie sie auf nationaler Ebene durch Zentren für erbliche Tumorsyndrome bzw. Zentren für seltene Erkrankungen erfolgt. Auf europäischer Ebene ist hier neben bereits existenten krankheitsspezifischen Strukturen insbesondere das neu gegründete Referenznetzwerk für erbliche Tumorsyndrome (ERN GENTURIS) zu nennen, auf das der letzte Beitrag des Themenschwerpunktes eingeht. Eine tabellarische Liste mit Links zu Beratungsstellen und weiterführenden Informationen findet sich in Tab. 1.

Tab. 1 Seltene Tumordispositionssyndrome: Weiterführende Links, Adressen, Selbsthilfegruppen

Die seit langem bekannte unzureichende Identifizierung und medizinische Betreuung der von TDS betroffenen Familien liegt insbesondere an der mangelnden Sensitivität etablierter klinischer Kriterien, komplexer diagnostischer Pfade (HNPCC/Lynch-Syndrom), der unzureichenden Erhebung aussagekräftiger Familienanamnesen im klinischen Alltag, der eingeschränkten Qualität familienanamnestischer Angaben und kleiner Familien sowie der vergleichsweise noch geringen ärztlichen Aufmerksamkeit der Problematik gegenüber. Die Steigerung der diagnostischen Sensitivität durch eine umfangreiche Keimbahn-Analyse hinsichtlich TDS unabhängig von klinischen Verdachtsmomenten beginnt deshalb schon jetzt Realität zu werden, insbesondere im pädiatrischen Bereich, wo bis zu 9 % der Tumorpatienten Anlageträger eines TDS sind und es sich häufig um sporadisch auftretende Fälle handelt [7]. Sie wird sich aber auch auf adulte Formen ausweiten, wo der Anteil von TDS nach aktuellen Daten möglicherweise ebenfalls höher sein könnte als bislang angenommen. Diese Entwicklung wird zum Teil vorangetrieben durch neue therapeutische Optionen, zum Beispiel PARP-Inhibitoren beim BRCA-mutierten Ovarialkarzinom und Immuncheckpoint-Inhibitoren beim Mikrosatelliten-instabilen Kolonkarzinom.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob zukünftig bei allen neu diagnostizierten Tumorpatienten eine Keimbahn-Analyse hinsichtlich etablierter TDS erfolgen sollte. Der deutlich höheren Detektionsrate eines breit angelegten genetischen Screenings stehen derzeit aber auch problematische Aspekte gegenüber. Neben dem Umgang mit Varianten unklarer klinischer Signifikanz (VUS) sind hier zum Beispiel fehlende adäquate Präventionsstrategien zu nennen, da die jenseits klinischer Kriterien identifizierten Dispositionen häufig mit einer verminderten Penetranz einhergehen. Zur Identifizierung und Validierung von Risikovarianten, der Beschreibung des phänotypischen Spektrums und der Ermittlung altersabhängiger Erkrankungsrisiken sind deshalb weitere Forschungsaktivitäten, insbesondere prospektive Kohortenstudien, erforderlich.

Aufgrund der großen Zahl bekannter TDS und der raschen Fortschritte bei der Charakterisierung weiterer ursächlich relevanter Gene sowie molekular und klinisch definierter Subtypen, kann es sich hier nicht um eine erschöpfende Bearbeitung des Themenfeldes handeln. Vielmehr wurde unter der Vielzahl beschriebener Formen je nach Häufigkeit, klinischer Bedeutung und aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen eine Auswahl getroffen und unter thematischen Gesichtspunkten in vier Gruppen zusammengefasst.

Wir hoffen, damit ein attraktives Heft nicht nur für Humangenetiker, sondern eine Vielzahl anderer Fachrichtungen gestaltet zu haben.