In der Europäischen Union (EU) sind etwa 30 Mio. Menschen von seltenen Erkrankungen betroffen, welche eine spezialisierte und komplexe Behandlung erfordern. Für viele dieser Erkrankungen gibt es bislang jedoch kein standardisiertes Versorgungskonzept, in strukturschwächeren Ländern fehlt vielen Patienten zudem der Zugang zu einer möglichen Behandlung. Die EU-Kommission hat daher in den letzten Jahren die verbesserte Versorgung dieser Patientengruppe zu einem der Schwerpunkte ihrer Gesundheitspolitik erklärt.

Als eine in diesem Rahmen beschlossene Maßnahme wurde 2016 zur Bildung europaweiter Expertennetzwerke für verschiedene Gruppen seltener oder komplexer Erkrankungen aufgerufen. Insgesamt 24 europäische Referenznetzwerke (ERNs), darunter viele mit deutscher Beteiligung, wurden im März 2017 nach einem aufwendigen Bewerbungs- und Evaluierungsverfahren zugelassen. Sie sollen standardisierte Behandlungskonzepte für ein breites Spektrum seltener Erkrankungen schaffen und allen Patienten grenzübergreifend Zugang zu einer bestmöglichen Versorgung ermöglichen. Zudem soll die Vernetzung auch die Durchführung aussagekräftiger wissenschaftlicher Studien durch Einschluss größerer Patientenzahlen und breiterer fachlicher Expertise ermöglichen.

Das ERN GENTURIS (GENetic TUmor RIsk Syndromes) befasst sich als eines dieser 24 Netzwerke mit der Versorgung von Patienten, die von einem erblichen Tumorsyndrom betroffen sind und somit eine seltene Erkrankung tragen bzw. eine komplexe Versorgung erfordern (www.genturis.eu). Nach derzeitigen Schätzungen werden in Europa nach wie vor 70–80 % dieser Patienten nicht erkannt und ihnen und ihren Angehörigen entsprechend keine adäquaten präventiven Maßnahmen, insbesondere Krebsvorsorge- und Früherkennungsprogramme, angeboten. Tumorerkrankungen werden bei den Patienten und den asymptomatischen Risikopersonen in ihren Familien deshalb häufig erst spät erkannt; syndromspezifische Leitlinien für die Versorgung fehlen zudem häufig.

Zu den vorrangigen Aufgaben des ERN GENTURIS gehört es deshalb, die Erfassung der betroffenen Familien zu verbessern und europaweit einheitliche Versorgungskonzepte auf hohem medizinischen Standard zu schaffen. Hierzu sollen interdisziplinäre Behandlungsstandards und Leitlinien geschaffen werden, die über nationale und europaweite Kommunikationsinstrumente und Fortbildungsangebote über die jeweils betreuenden Ärzte allen Patienten zugutekommen. Um die Maßnahmen optimal auf die Bedürfnisse der Betroffenen abzustimmen, werden Patientenvertreter von Anfang an eng in alle Arbeitsbereiche von GENTURIS eingebunden.

Aus Deutschland sind bisher drei klinische Zentren am ERN GENTURIS beteiligt. Hierzu gehören das Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn (Koordination Prof. Stefan Aretz), das Institut für Humangenetik in Dresden (Koordination Prof. Evelin Schröck) und das Medizinisch Genetische Zentrum in München (Koordination Dr. Verena Steinke-Lange). Die Aufgabe der nationalen Koordinatorin für GENTURIS in Deutschland übernimmt Frau Prof. Elke Holinski-Feder vom Medizinisch Genetischen Zentrum in München. Die einzelnen Zentren koordinieren vor Ort die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen, um eine optimale Versorgung der Patienten mit erblichen Tumorsyndromen zu gewährleisten, und stehen auf nationaler Ebene als Ansprechpartner für andere klinische Zentren, welche Patienten mit erblichem Tumorsyndrom betreuen, zur Verfügung. Die beteiligten Personen engagieren sich auch in verschiedenen Projektgruppen des ERN GENTURIS, welche die zentralen Aufgaben des ERN, wie z. B. die Leitlinienerstellung oder die Einbindung der Patientenvertreter, abdecken sollen.

Das ERN GENTURIS soll somit dazu beitragen, die klinische Versorgung der Patienten mit Tumordispositionssyndromen sowohl auf nationaler Ebene als auch grenzübergreifend zu verbessern und die Kommunikation und Zusammenarbeit der europäischen Experten auf diesem Gebiet zu fördern.