Einführung in das Thema

Bislang sind ca. 200 Gene bekannt, die mit erblich bedingten Netzhauterkrankungen des Menschen assoziiert wurden. Die im Rahmen einer genetischen Diagnostik durchgeführte Sequenzierung des betroffenen Gens liefert Informationen über den genauen Typus der im Patienten vorkommenden Mutation. Hierbei zeigt sich eine Inzidenz von Nonsense-Mutationen von etwa 12 % bezogen auf alle krankheitsverursachenden Mutationen [13]. Darüber hinaus kann die Inzidenzrate von Nonsense-Mutationen bei einigen Netzhauterkrankungen deutlich höher liegen, wie beispielsweise bei Choroideremie-Patienten mit bis zu 30 % [14]. Demzufolge könnte ein Therapieansatz, der speziell für Nonsense-Mutationen ausgelegt ist, praktikabel und ökonomisch sinnvoll sein.

Nonsense-Mutationen: Entstehung und molekulare Folge

Bei der Transkription wird der genetische Code in mRNA überschrieben und im Prozess der Translation in die entsprechende Aminosäuresequenz übersetzt. Im genetischen Code gibt es aufgrund der vier vorhandenen Nukleotide, die jeweils als Triplett eine Funktionseinheit bilden, 64 mögliche Tripletts, wobei 61 dieser Tripletts für 20 distinkte Aminosäuren und drei Stopp-(Terminations)Codons kodieren. Punktmutationen können dazu führen, dass ein für eine Aminosäure kodierendes Triplett in ein Stopp-Codon umgewandelt wird. Diese Mutationen werden als Stopp-Mutationen oder Nonsense-Mutationen bezeichnet. Während bei Missense-Mutationen an der Stelle der Mutation eine falsche Aminosäure eingebaut wird, führt eine Nonsense-Mutation zu einem prämaturen Terminationscodon (PTC) (Abb. 1). Dies hat zur Folge, dass die Translation vorzeitig beendet wird, wodurch das synthetisierte Protein verkürzt ist und somit zumeist nicht mehr in der Lage ist, seine funktionelle Rolle (bzw. Interaktion mit weiteren Proteinen) im komplexen Gefüge der Zelle wahrzunehmen. Des Weiteren kann ein PTC die Degradation der mRNA über den sogenannten „nonsense-mediated decay“ (NMD) induzieren [23]. Diese zelleigene Qualitätskontrolle inhibiert einerseits die potenzielle zytotoxische Wirkung von verkürzten Polypeptiden, führt andererseits aber auch dazu, dass das Template für das potenziell funktionelle Protein degradiert wird. Sowohl das Vorhandensein von nicht voll funktionsfähigen Proteinen als auch das komplette Fehlen eines Proteins kann zu Dysfunktionen in der Zelle führen, was letztlich mit einem kompletten Funktionsverlust des betroffenen Gewebes oder Organs einhergehen kann.

Abb. 1
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Die Translation: normale Situation, an Nonsense-Mutationen und Überlesen von Nonsense-Mutationen in Gegenwart von „read-through inducing drugs“ (TRIDs). Details: siehe Text. Rot Terminationskomplex, grüner Kreis TRID. Normales und wiederhergestelltes Protein unterscheiden sich ggf. nach dem Überlesen in einer Aminosäure (orangenes Oval)

Das Überlesen von Nonsense-Mutationen: ein pharmakogenetischer Ansatz

Unter einer pharmakogenetischen Therapie versteht man den Einsatz von Medikamenten („pharmako“), deren Angriffspunkt eine spezielle Gensequenz („genetisch“), hier das PTC in der mRNA, ist. Ziel des pharmakogenetischen Überlese-Ansatzes ist es, pharmazeutische Wirkstoffe einzusetzen, die das Überlesen („read-through“) von PTCs und dadurch die Synthese von vollständigen Proteinen bewirken. Vielversprechend wären auch pharmazeutische Wirkstoffe mit dualer Funktion als Induktoren des Überlesens der Nonsense-Mutation und gleichzeitig als Inhibitoren des NMD. Durch die Inhibition des NMD kann die Menge der mRNA erhöht werden, die für das Überlesen der Nonsense-Mutation zur Verfügung steht [14]. Wirkstoffe, die im pharmakogenetischen Überlese-Ansatz eingesetzt werden, werden als TRIDs („translational read-through inducing drugs“) bezeichnet.

Die molekularen Mechanismen der Translation und ihrer Termination

Für das bessere Verständnis des Wirkmechanismus der TRIDs ist die Kenntnis der biologischen Abläufe der Translation essenziell (weitere Details: [9, 14]). Für die Translation lagern sich die beiden Untereinheiten der Ribosomen an das 5′-Ende der mRNA an und die einzelnen Aminosäuren werden von tRNAs zum Ribosom transportiert. Eine tRNA besitzt neben der gebundenen Aminosäure ein Anticodon, das zu einem Codon auf der mRNA komplementär ist. Nach der Initiation liegt das naszente Peptid kovalent an eine tRNA gebunden vor, die sich zusammen mit der mRNA an der P‑Stelle des Ribosoms befindet (Abb. 1). Das nächste freie 3′-Codon der mRNA befindet sich auf der A‑Stelle. Im nächsten Schritt lagern sich tRNAs an das Codon der mRNA an. Passen Codon und Anticodon zusammen, wird die mitgeführte Aminosäure mittels einer enzymatischen Reaktion der Peptidyltransferase auf das Peptid übertragen. Als Nächstes bewegt sich die mRNA genau drei Nukleotide weiter im Ribosom, sodass das wachsende Peptid an der P‑Stelle, das nächste freie Codon der mRNA an der A‑Stelle des Ribosoms liegt und der Prozess wiederholt werden kann. Die Ribosomen wandern so lange an der mRNA entlang, bis ein Stopp-Codon in der mRNA erreicht wird. Hier pausiert das Ribosom. Da für Stopp-Codons keine korrekt passende tRNA existiert, konkurrieren tRNAs, die ein oder zwei Basen Fehlpaarung mit dem Codon aufweisen, mit Terminationsfaktoren („release factors“) um die Bindung an das Stopp-Codon. Wenn die Terminationsfaktoren binden, wird das Ende der Proteinsynthese eingeleitet, während bei der Bindung einer tRNA die Translation fortgesetzt wird. Letzteren Prozess bezeichnet man als Überlesen von Nonsense-Mutationen („read-through“). Für eine effiziente Termination der Translation ist nicht nur das Binden der „release factors“ an das Stopp-Codon entscheidend, sondern auch das Zusammenwirken eines Terminationskomplexes (Abb. 1, rot; [14]). So interagieren die „release factors“ mit dem Poly-A bindenden Protein PABP („poly(A) binding protein“) am 3′-Ende der mRNA. PABP wiederum bindet über den Initiationsfaktor IF4G an IF4E, das an die 5′-Methyl-Kappe der mRNA gebunden ist (Abb. 1, rot). Verstärkt wird die Termination dadurch, dass an physiologischen Stopp-Codons meist die Basenabfolge UAA vorhanden ist, die Untersuchungen zufolge am schlechtesten überlesen werden kann [3]. Zudem sind am 3′-Ende der mRNA häufig mehrere Stopp-Codons zu finden. All diese Faktoren führen dazu, dass die Translation mit einer 99,9 %igen Sicherheit beendet wird.

Die Tatsache, dass die Termination der Translation nicht mit 100 %iger Sicherheit effizient ist, führt dazu, dass ein Teil der Stopp-Codons überlesen wird. Während die basale Überleserate an physiologischen Stopp-Codons am 3′-Ende der mRNA bei 0,001–0,1 % liegt, ist sie an PTCs mit 0,01–1 % zehnfach höher [9]. Derzeit geht man davon aus, dass sich der Terminationskomplex an PTCs nicht vollständig ausbilden kann, da die Distanz vom PTC zum PABP zu groß ist. Dadurch kommt es zu einem Pausieren des Ribosoms, wodurch die Terminationsfaktoren häufiger von der mRNA dissoziieren und anschließend mit tRNAs wieder um die Bindung am Stopp-Codon konkurrieren.

TRIDs erhöhen das Überlesen von prämaturen Stopp-Codons

TRIDs können das Überlesen von PTCs induzieren. Beim Pausieren des Ribosoms am PTC erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass an der Nonsense-Mutation eine tRNA bindet, folglich eine Aminosäure in die Polypeptidkette eingebaut wird und die Translation trotz des verfrühten Stopps weitergeht. Hierbei beeinflussen die Sequenz des Stopp-Codons und die umgebende Nukleotidsequenz die Effizienz des Überlesens [3, 10]. Dabei zeigt UAA die niedrigste Überleserate, während die Rangfolge der zwei weiteren Stopp-Codons derzeit diskutiert wird [3, 10]. Darüber hinaus begünstigt die Base Cytosin an Position +4 die Überlese-Effizienz. Weiteren Einfluss haben die Basen an den Positionen −1, −5 und +8. Allerdings zeigen die bisher durchgeführten Studien divergierende Einflüsse dieser Basen auf die Überleserate [3, 10].

Beim Überlesen des PTC kommt es zur Fehlpaarung der tRNA mit dem Stopp-Codon. Dadurch unterscheiden sich Wildtypprotein und wiederhergestelltes Protein häufig in einer Aminosäure. Neuere Untersuchungen in Hefen zeigen, dass die Aminosäuren Tryptophan, Arginin und Cystein vor allem bei UGA und Tyrosin, Glutamin und Lysin bei den Stopp-Codons UAG und UAA eingebaut werden [21]. Eine veränderte Aminosäure kann jedoch zu Veränderungen in der Proteinfaltung und der Beeinflussung der Proteinfunktion führen. Die derzeit vorhandenen In-silico-Methoden (z. B. Polyphen-2) können erste Informationen über den Einfluss der veränderten Aminosäure auf die Funktion des Proteins geben, allerdings sollte in präklinischen Untersuchungen der Grad der Funktionalität des wiederhergestellten Proteins nachgewiesen werden [10, 14].

TRIDs und ihr Potenzial bei der Therapie von Nonsense-Mutationen

Derzeit wird der Einsatz von TRIDs als Therapeutika für zahlreiche durch Nonsense-Mutationen verursachte Krankheiten untersucht [14, 19]. Eine Vielzahl von Studien zeigen die potenzielle Wirksamkeit von TRIDs bei Nonsense-Mutationen, die erbliche syndromale und nicht-syndromale Augenerkrankungen zur Folge haben ([14, 19]; Tab. 1). Hier sollen kurz die eingesetzten TRIDs beschrieben und die ersten Erfolge in der präklinischen Augenforschung erläutert werden.

Tab. 1 Zusammenstellung der bislang durchgeführten präklinischen Studien zur Effektivität der Überlese‐Therapie bei erblichen syndromalen und nicht‐syndromalen Augenerkrankungen, die durch Nonsense‐Mutationen verursacht werden. Für weitere Literaturhinweise [14]

Aminoglykoside wurden als erste Wirkstoffe mit Überleseaktivität identifiziert. Die Anwendbarkeit von Gentamicin zur Behandlung von Pathologien, die auf Nonsense-Mutationen beruhen, wurde bereits in zahlreichen klinischen Studien getestet und führte zum Überlesen von Nonsense-Mutationen z. B. bei Patienten mit zystischer Fibrose, Duchenne Muskeldystrophie (DMD) und Hämophilie [14]. Dem routinemäßigen Einsatz stehen jedoch die Nebenwirkungsprofile der Aminoglykoside entgegen. Untersuchungen zeigten, dass die derzeit auf dem Markt befindlichen Aminoglykoside neben ihrer Oto- und Nephrotoxizität auch eine hohe Retinotoxizität aufweisen [4,5,6, 14].

Um eine verbesserte Biokompatibilität zu erreichen, wurden Aminoglykoside chemisch modifiziert. Die so erhaltenen Designer-Aminoglykoside sind beispielsweise Abkömmlinge von Kanamycin B, Paromomycin oder Geneticin [14]. Die auf Paromomycin basierenden Designer-Aminoglykoside, auch NBs genannt, wurden bereits erfolgreich in präklinischen Studien für genetischen Erkrankungen wie Tumorerkrankungen, spinale Muskelatrophie, zystische Fibrose, Usher-Syndrom und lysosomale Speicherkrankheiten eingesetzt [1, 2, 14, 19]. Darüber hinaus zeigen NBs eine deutlich verbesserte retinale und vestibuläre Verträglichkeit als Geneticin [4,5,6, 17]. Allerdings liegen zu diesen Substanzen noch keine detaillierten pharmakokinetischen Untersuchungen oder klinische Studien vor.

In großen Medikamentenscreens wurde unter anderem Ataluren (PTC124, Translarna) identifiziert. Bis dato hat Ataluren eine hohe Effektivität bei mehr als einem Dutzend verschiedener genetischer Krankheiten gezeigt und wird als Hoffnungsträger der pharmakogenetischen Therapie gehandelt [14]. Ataluren ist oral bioverfügbar und zeigt auch bei Langzeiteinnahme keine schweren Nebenwirkungen. In Phase I-Studien wurden von gesunden Probanden vereinzelt leichte Kopfschmerzen, Schwindel und gastrointestinale Probleme als Nebenwirkungen beschrieben, allerdings lagen die eingenommenen Mengen an Ataluren deutlich über der therapeutischen Dosis [14]. In Europa und den USA ist Ataluren für die Behandlung von DMD, verursacht durch Nonsense-Mutationen, zugelassen. In den USA hat dieser Wirkstoff zusätzlich noch die Zulassung zur Behandlung von Patienten mit zystischer Fibrose erhalten. Darüber hinaus werden dort Patienten mit durch Nonsense-Mutationen verursachter Aniridie für klinische Studien der Phase II rekrutiert (NCT02647359). Um die Überlese-Effizienz von Ataluren zu steigern, wurden Ataluren-Derivate synthetisiert [12, 15]. PTC-414 zeigte jedoch eine höhere Oto- und Nephrotoxizität im Zebrafisch in Verbindung mit einer schlechteren Überleserate der Nonsense-Mutation in REB-1 (siehe unten).

Amlexanox wird als antiinflammatorisches und antiallergisches Medikament seit 30 Jahren oral oder topisch zur Behandlung der aphthösen Stomatitis, der allergischen Rhinitis und des allergischen Asthmas eingesetzt. Amlexanox hat duale Eigenschaften: Es inhibiert den NMD und kann zusätzlich Stopp-Codons überlesen [14]. Bislang konnte seine Wirksamkeit als TRID bei Nonsense-Mutationen im Tumorsuppressorgen p53, bei Dystrophin (DMD) und CFTR („cystic fibrosis transmembrane conductance regulator“, zystische Fibrose) nachgewiesen werden.

Präklinische Studien zur Wirksamkeit von TRIDs bei Augenerkrankungen

Die Choroideremie ist eine X‑chromosomal vererbte Retinopathie, die durch Mutationen im CHM, das für REB1 (Rab Escort Protein 1) kodiert, verursacht wird. Nonsense-Mutationen sind in über 30 % der Fälle die molekulargenetische Ursache für die Choroideremie [14]. Im chmru848-Zebrafisch und an Patientenzellen konnten die Mutationen mit Gentamicin, Paromomycin, Ataluren und PTC-414 überlesen werden, wobei das wiederhergestellte REB1 funktionell war [11, 12]. Ataluren zeigte eine deutlich bessere Aktivität und Biokompatibilität als PCT-414 [12].

Die Lebersche kongenitale Amaurose (LCA) umfasst eine heterogene Gruppe von chorioretinalen Atrophien, die sich häufig pränatal manifestiert und durch Mutationen in mehr als 20 Genen verursacht wird. Mutationen im RPE65 sind verantwortlich für etwa 6 % der Fälle [14]. Das Überlesen der p.(Arg44*)-Mutation wurde in vivo im rd12-Mausmodell mit Gentamicin und G418 evaluiert, ohne dass ein Überlesen der Mutation festgestellt werden konnte [8]. Weitere Untersuchungen mit neuartigen TRIDS (Ataluren, NBs) sind erforderlich.

Bei unvollständigem Verschluss der Augenbecher während der embryonalen Entwicklung kommt es zum okulären Kolobom. Dieses kann nicht-syndromal oder syndromal auftreten. Beispielsweise führen Nonsense-Mutationen im PAX2 (Paired Box 2) zum Kolobom und zu renalen Fehlbildungen (OMIM; https://www.OMIM.org). Weitere molekulare Ursachen für Kolobome sind Mutationen im Lamb1. In Zebrafischmodellen mit Nonsense-Mutationen in PAX2 bzw. Lamb1 zeigt die Behandlung mit Gentamicin und Paromomycin sowohl die Wiederherstellung der jeweiligen funktionellen Proteine als auch eine Erhöhung der Lebensdauer der Tiere [11].

Aniridie wird als autosomal dominante Form durch Mutationen im PAX6-Gen hervorgerufen. Sie ist charakterisiert durch eine Irishypoplasie einhergehend mit einem erhöhten Risiko u. a. für Kataraktbildung und Sekundärglaukom (OMIM; https://www.OMIM.org). 50 % der Mutationen in PAX6 sind Nonsense-Mutationen [7]. In-vivo-Behandlungen von Pax6Sey+/−-Mäusen zeigen, dass durch die Applikation der TRIDs Ataluren und Gentamicin sowohl die Morphologie des Auges als auch der Visus der Tiere signifikant verbessert wird. Interessant ist, dass der Entwicklungsdefekt durch die Applikation von TRIDs nach der Geburt partiell revertiert werden kann. Erwähnenswert ist auch die Entwicklung einer topischen Applikationsmethode. Eine Formulierung aus 0,9 % Natriumchlorid, 1 % Tween 80, 1 % Ataluren und 1 % Carboxymethylcellulose (START) erhöht die Viskosität und Dispersion von Ataluren. Die topische START-Behandlung, die 14 Tage nach der Geburt begonnen wurde, zeigte in vivo im Mausmodell eine bessere therapeutische Aktivität als die systemische Applikation.

Retinitis pigmentosa (RP) ist eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe erblich bedingter Netzhautdystrophien. Derzeit sind neun krankheitsverursachende Nonsense-Mutationen in RHO beschrieben [20]. Die systemische Applikation von Gentamicin an genetisch veränderten Ratten mit einer Nonsense-Mutation im Rho (S334ter Ratte) verlangsamte die retinale Degeneration der Photorezeptoren [8]. Mutationen im Retinitis pigmentosa-2-Gen (RP2) verursachen eine X‑chromosomal gekoppelte RP. RP2-Patienten zeigen häufig Nonsense-Mutationen, wobei die p.(Arg120*) die häufigste Mutation darstellt [22]. In Fibroblasten von Patienten und in retinalen Pigmentepithelzellen (RPE), die aus induzierten pluripotenten Stammzellen („induced pluripotent stem cells“; iPSC) generiert wurden, konnte die wiederhergestellte Expression von RP2 nach der Behandlung mit Ataluren und G418 gezeigt werden. Darüber hinaus wurde phänotypisch die korrekte Lokalisation des Zilienproteins IFT20 und der Golgi-Architektur durch Gentamicin- und Ataluren-Behandlung wiederhergestellt [22]. Eine Nonsense-Mutation in MERTK (MER Rezeptortyrosinkinase, RP38), konnte durch die Applikation von G418 und Ataluren überlesen werden. Patientengenerierte iPSC-RPE-Zellen zeigten nach Behandlung mit Ataluren eine signifikant höhere Phagozytoseaktivität als unbehandelte Patientenzellen [16].

Das Usher-Syndrom (USH) ist eine seltene Erkrankung, die jedoch die häufigste Form kombinierter Taub-Blindheit darstellt [18]. Klinisch wird USH je nach Schwere und Progression der Symptome in drei Typen unterteilt, die genetisch heterogen sind. Das Überlesen von vier Nonsense-Mutationen im PCH15-Gen (USH1F) konnte mit unterschiedlichen NBs gezeigt werden [17]. Das Überlesen der p.(Arg31*) Nonsense-Mutation im USH1C konnte mit NBs und Ataluren in Zellkultur, in organotypischen murinen Retinakulturen und in vivo in der Maus validiert werden. Darüber hinaus zeigen diese Arbeiten, dass das Überlesen der Nonsense-Mutation im USH1C-Gen bei den Harmoninisoformen a1 und b3 zur Synthese funktioneller Proteine führt [4,5,6].

Vorteile eines pharmakogenetischen Ansatzes

Derzeit steht vor allem die virale Gentherapie im Fokus ophthalmologischer Behandlungsansätze. Trotz erster vielversprechender Erfolge wird die Effektivität der Gentherapie dennoch kritisch diskutiert. Die pharmakogenetische Überlese-Therapie hat den Vorteil, dass kein genetisch verändertes Material in das Genom eingebracht werden muss, sodass das Risiko einer sogenannten Insertionsmutagenese umgangen wird. Die Größe eines Gens ist zudem nicht limitierend, wodurch diese Therapie auch für eine Behandlung großer RP-Gene wie ADGRV1, USH2A, PRPF8 oder ABCA4 geeignet ist. Das Zielgen unterliegt der gewebsspezifischen Kontrolle, sodass die Gendosis, das zeitliche und örtliche Muster der Transkription sowie ein mögliches alternatives Spleißen der primären mRNA nicht beeinflusst werden. Für eine effektive Therapie wäre es möglich anhand von Patientenzellen das optimale TRID individuell zu identifizieren – was ein wichtiger Schritt hin zur personalisierten Medizin darstellen würde (siehe unten).

Applikationswege von TRIDs

In den bisher durchgeführten klinischen Studien, in geplanten Studien an Aniridie-Patienten und in der klinischen Anwendung wird Ataluren oral verabreicht. Unklar ist jedoch, inwieweit Ataluren und andere TRIDs in der Lage sind, die Blut-Retina-Schranke effektiv zu passieren. Eine vielversprechende Möglichkeit, v. a. für nicht-syndromale retinale Degenerationen, wäre die lokale Applikation des Medikaments. Hierdurch könnte die systemische Belastung und damit u. U. verbundene Nebenwirkungen beim Menschen signifikant reduziert werden.

Eine Möglichkeit wären mit TRIDs beladene „beads“ oder Nanopartikel, die kontinuierlich den therapeutischen Wirkstoff sezernieren, in das Auge zu implantieren. Allerdings zeigen Aminoglykoside bei einer Spitzenkonzentration, die durch eine tägliche Injektion erreicht wird („peak-driven“), eine bessere Wirkung als bei einer kontinuierlichen Applikation über eine osmotische Pumpe [8, 14]. Denkbar wären in diesem Zusammenhang intravitreale Injektionen. Hierfür muss jedoch die Pharmakokinetik der TRIDs und die Kinetik der wiederhergestellten Proteine detailliert analysiert werden.

Darüber hinaus sind auch nicht-invasive Applikationen denkbar. Eine Applikation über Augentropfen wurde, wie oben beschrieben, von einer kanadischen Arbeitsgruppe bereits erfolgreich an einem Mausmodell für Aniridie erprobt [7]. Allerdings gilt es zu beachten, dass meist Nager als Tiermodelle dienen, deren Augen nur bedingt mit denen des Menschen vergleichbar sind. Neben strukturellen Unterschieden ist hier vor allem bei der lokalen Applikation der Größenunterschied des Augapfeldurchmessers zwischen humanem Auge (~25 mm) und Nagerauge (~3,5 mm) zu beachten. Dies impliziert eine deutlich größere Distanz, die das Medikament beim Menschen zurücklegen muss. Aus diesem Grund sollte die Wirkstoffverteilung zunächst in größeren Augen, beispielsweise an Schweinen, untersucht werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für einen nachhaltigen klinischen Erfolg erforderlich ist, eine hoch effiziente Verabreichungsform zur langfristigen Anwendung von TRIDs zu identifizieren.

Möglicher Weg zur personalisierten Therapie

Für eine erfolgreiche personalisierte Therapie von Nonsense-Mutationen müssen sowohl die Applikationsmöglichkeiten validiert (siehe oben) als auch das für den Patienten beste TRID identifiziert werden. Wie effektiv ein TRID wirkt und wie gut ein PTC überlesen werden kann, hängt von der Sequenz des Stopp-Codons und von der umgebenden Nukleotidsequenz ab. Derzeit gibt es keine In-silico-Vorhersagemöglichkeit die Überleserate zu bestimmen. Auch ist es nicht möglich, das effektivste TRID für eine spezifische Nonsense-Mutation theoretisch zu bestimmen. Aus diesem Grund muss jede krankheitsverursachende Nonsense-Mutation individuell am besten im genetischen Kontext des Patienten untersucht werden. Patientenspezifische Zellen stellen hierbei ein fast ideales Instrument zur Testung der Wirksamkeit von spezifischen TRIDs dar [2, 12, 16, 22]. Hierfür können Zellen aus den Patienten wie Fibroblasten, Myoblasten oder Lymphoblasten eingesetzt werden. Falls das zu untersuchende Protein nicht in Primärkulturen exprimiert wird, können über iPSCs hergestelltes retinales Pigmentepithel, Photorezeptorzellen oder retinale Organoide eingesetzt werden [16, 22], dies wäre jedoch mit deutlich höheren Kosten und Zeitaufwand verbunden. Ein möglicher Weg zur personalisierten Therapie ist schematisch in Abb. 2 dargestellt. Zunächst erfolgt eine molekulargenetische Abklärung. Wird hierbei eine Nonsense-Mutation identifiziert, werden dem Patienten Primärzellen entnommen (z. B. Fibroblasten oder Lymphozyten) und entsprechende Zellkulturen angesetzt. Sollte das mutierte Gen nicht in Primärzellen exprimiert werden, kann die Generierung von iPSCs und deren Differenzierung in einen geeigneten Zelltyp bzw. in das Organoid erfolgen. Diese patientenspezifischen Zellkulturmodelle werden mit unterschiedlichen TRIDs behandelt und im Anschluss wird mit unterschiedlichen Methoden (Western Blot, Immunfluoreszenz- und massenspektroskopische Analysen) die Wiederherstellung des fehlenden Genproduktes sowie seine Funktionalität (Protein-Protein-Interaktion, Revertierung des pathologischen Phänotyps sowie Mislokalisation) überprüft. Mögliche Nebenwirkungen könnten durch den Vergleich der Expressionsprofile (Proteomics und RNAseq) von behandelten Patientenzellen und gesunden Spendern annähernd bestimmt werden. Durch die Auswertung der erhaltenen Daten kann dann das für den Patienten optimale Medikament identifiziert werden.

Abb. 2
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Möglicher Weg zur personalisierten Therapie von Nonsense-Mutationen bei menschlichen Netzhautdegenerationen. Nach molekulargenetischer Identifikation einer Nonsense-Mutation werden dem Patienten geeignete Zellen entnommen, kultiviert, ggf. in induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) reprogrammiert und in die gewünschte Zielzelle differenziert. In einem Screen mit unterschiedlichen TRIDs wird das effektivste TRID mittels komplementärer Methoden der Biochemie (Western Blot-Analysen [WB]), Mikroskopie (IF) und Proteomics identifiziert sowie die Funktionalität des wiederhergestellten Proteins validiert (Protein-Protein-Interaktionen; Lokalisationsstudien). Nebenwirkungen können mittels Massenspektrometrie (MS) und RNAseq abgeschätzt werden

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die pharmakogenetische Überlese-Therapie einen vielversprechender Ansatz zur Behandlung von Nonsense-Mutationen bei erblichen Netzhauterkrankungen darstellt. Nach der Etablierung geeigneter Applikationen wird in Zukunft der pharmakogenetische Ansatz im Sinne einer personalisierten Medizin für jeden Patienten, dessen Krankheit durch eine Nonsense-Mutation verursacht wird, möglich werden.

Fazit für die Praxis

  • 12 % aller krankheitsverursachenden Mutationen sind Nonsense-Mutationen.

  • Nonsense-Mutationen führen zu vorzeitigen Terminationscodons (PTCs), mit der Folge, dass verkürzte, zumeist nicht mehr funktionelle Proteine synthetisiert werden.

  • TRIDs (translational read-trough inducing drugs) bewirken das Überlesen (read-through) von PTCs und dadurch die Synthese von vollständigen Proteinen.

  • Eine Vielzahl von präklinischen Studien belegt die Effizienz des pharmakogenetischen Überlese-Ansatzes bei Nonsense-Mutationen in Zellkultur, Tiermodellen und patientenspezifischen Zellen.

  • Nach der molekulargenetischen Identifizierung einer krankheitsverursachenden Nonsense-Mutation, können patientenspezifische Zellen als personalisiertes Screeningmodell für die Identifizierung des wirksamsten TRID eingesetzt werden.

  • Der pharmakogenetische Überlese-Ansatz könnte in Zukunft für jeden Patienten, dessen Netzhauterkrankung durch eine Nonsense-Mutation verursacht wird, eine personalisierte Therapie erlauben.