Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags …

  • kennen Sie die wichtigsten diagnostischen Algorithmen für spinale Muskelatrophien (SMA).

  • sind Sie in der Lage, die genetischen Risiken in Familien mit einer SMA 5q richtig einzuschätzen.

  • sollte Ihnen das klinische Bild der infantilen bzw. proximalen SMA geläufig sein.

  • haben Sie eine Übersicht über die verschiedenen SMA-Formen.

  • haben Sie den Stand der Therapiemöglichkeiten zur Kenntnis genommen.

Einleitung

Unter dem Begriff „spinale Muskelatrophie“ (SMA) wird eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe erblicher neuromuskulärer Erkrankungen erfasst. Die sind durch einen progredienten Untergang von Vorderhornzellen im Rückenmark und z. T. auch der motorischen Hirnnervenkerne des Hirnstamms charakterisiert. Je nach anatomischer Lokalisation des Manifestationsschwerpunkts werden proximale und distale Muskelatrophien unterschieden. Darüber hinaus existieren seltene Formen mit speziellen Verteilungsmustern (Tab. 1).

Tab. 1 Spinale Muskelatrophien (SMA) mit bekannten Genen bzw. Genorten. (OMIM-Einträge, Stand Juni 2016)

Die autosomal-rezessive proximale SMA im Kindes- und Jugendalter durch Mutationen im SMN1-Gen (SMA 5q) stellt mit einer Inzidenz von mindestens 1 zu 10.000 Geburten und einem Anteil von ca. 80–90 % die Mehrheit aller SMA-Formen. Hier ist die genetische Analyse inzwischen Goldstandard vor weiteren Untersuchungen. Bei den anderen SMA-Formen sind die diagnostischen Algorithmen komplexer und richten sich weiterhin nach der klinischen Präsentation in Verbindung mit Informationen zum Familienbefund.

Diagnostik

Die klinische Zuordnung einer SMA erfolgt zunächst anhand des Verteilungsmusters einer meist symmetrischen schmerzlosen Muskelatrophie (Abb. 1), da sich sehr unterschiedliche genetische Ursachen bei proximalem oder distalem Schwerpunkt ergeben. Im Säuglings- und Kleinkindalter besteht oft eine generalisierte Muskelhypotonie, bevor proximale oder distale Paresen deutlich werden. Bei der proximalen SMA im Jugend- bzw. Erwachsenenalter sind in der Regel Paresen und Atrophien der unteren Extremität Anlass zur weiteren Diagnostik. Diese beginnt bei Verdacht auf eine SMA 5q mit der genetischen Analyse des SMN1-Gens. Auch bei einigen Sonderformen der infantilen SMA und bei der spinobulbären Muskelatrophie Typ Kennedy (SBMA) sollte eine genetische Analyse einer möglichen invasiven Diagnostik vorausgehen. Kann die Diagnose genetisch nicht bestätigt werden, erfolgt in den meisten Fällen eine weitere neurologische Diagnostik, die bei den Laboruntersuchungen insbesondere die Kreatinkinaseaktivität (CK-Aktivität) im Serum einschließt. Diese ist bei einer SMA meist nicht oder nur geringfügig erhöht und erlaubt damit eine Abgrenzung von primären Myopathien, v. a. von Muskeldystrophien.

Abb. 1
figure 1

Verteilungsmuster der Paresen bzw. Muskelatrophien bei den wichtigsten Formen der spinalen Muskelatrophie (SMA)

Neurophysiologische Befunde zeigen beim Untergang von Vorderhornzellen im Rückenmark meist neurogene Potenzialveränderungen (vergrößerte Amplitude, polyphasische Potenziale), pathologische Spontanaktivität und ein gelichtetes Interferenzmuster in der Elektromyographie. Für die Diagnosestellung wird in der Regel ein Normalbefund in der Elektroneurographie gefordert. Die Elektroneurographie kommt insbesondere bei den distalen Formen zum Einsatz, um die wesentlich häufigeren hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien abgrenzen zu können.

Eine Muskelbiopsie ist bei Verdacht auf eine SMA nicht mehr indiziert, da sich die Mehrzahl der Fälle durch eine genetische Analyse klären lässt und andere Diagnosen bei typischem klinischen Bild sehr viel seltener sind. Zeichen der akuten Denervierung bei der schweren SMA-Typ I sind die Gruppenatrophie von Typ-I- und Typ-II-Fasern in Kombination mit Typ-I-Muskelfasern von normalem oder vergrößertem Kaliber (Typ-I-Hypertrophie). Bei milderen und später beginnenden SMA-Formen wird das Bild eher durch eine Fasertypengruppierung als Folge von Reinnervationsvorgängen sowie durch sekundär myopathische Veränderungen bestimmt.

Differenzialdiagnosen

Im Säuglingsalter mit generalisierter Muskelschwäche kommt die umfangreiche Differenzialdiagnose des „floppy infant“ in Betracht. Hier sollte v. a. gedacht werden an:

  • kongenitale Muskeldystrophien,

  • kongenitale myotone Dystrophie,

  • Strukturmyopathien,

  • Prader-Willi-Syndrom und

  • hypotone Zerebralparese.

Auch Sonderformen der infantilen SMA (s. dort), die nicht auf dem Chromosom 5 lokalisiert sind, müssen abgegrenzt werden. Nicht weiter in diesem Betrag thematisiert werden Stoffwechselstörungen, z. B. Mitochondriopathien, die sich wie eine infantile SMA manifestieren können.

Bei proximaler Muskelschwäche im Kindes- und Jugendalter sollten differenzialdiagnostisch insbesondere in Betracht gezogen werden:

  • Muskeldystrophien (Muskeldystrophie Typ Becker-Kiener, Gliedergürtelmuskeldystrophien, Emery-Dreifuss-Muskeldystrophie) und

  • Strukturmyopathien.

Selten können metabolische Myopathien wie eine proximale SMA im Jugend- und Erwachsenenalter imponieren (z. B. Hexosaminidase-A-Defizienz oder der Saure-Maltase-Mangel [M. Pompe]). Im Erwachsenenalter sind für die proximalen Formen folgende Differenzialdiagnosen abzugrenzen:

  • X-chromosomale spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy (s. dort),

  • myotone Dystrophie Typ 2 und

  • Motoneuronerkrankungen bzw. die amyotrophe Lateralsklerose.

Bei den nichtproximalen Formen sind andere neuromuskuläre Störungen sehr viel häufiger und sollten in der Abklärung vorgeschaltet werden, z. B. eine fazioskapuloperonäale Muskeldystrophie (FSHD) oder periphere hereditäre Neuropathien bei distalem Schwerpunkt. Auch an die monomele juvenile SMA Typ Hirayama oder benigne monomele Amyotrophie oder juvenile segmentale SMA sollte gedacht werden.

Klinische Formen und genetische Ursachen

SMA 5q, SMA-Typen I–IV

Das klinische Bild der autosomal-rezessiven proximalen SMA, bedingt durch einen Funktionsverlust im SMN1-Gen, umfasst ein breites Spektrum von Formen mit intrauterinem Beginn bis zum Krankheitsbeginn im Erwachsenenalter. Der weitaus größte Teil wird jedoch im Neugeborenen- bzw. Kindesalter klinisch manifest. Die klinische Klassifikation in die Subtypen I–III berücksichtigt nach internationaler Übereinkunft den Erkrankungsbeginn, wesentliche motorische Meilensteine und die Prognose [1, 2].

SMA-Typen I–III

Die klinischen Zeichen des schwer verlaufenden SMA-Typs I oder Werdnig-Hoffmann-Erkrankung manifestieren sich meist innerhalb der ersten Lebenswochen. Im Vordergrund stehen eine generalisierte muskuläre Hypotonie und Bewegungsarmut mit proximaler Betonung. Die Lebenserwartung ist durch eine progrediente Schwäche der Atemmuskeln und einsetzende Bulbärparalyse erheblich eingeschränkt und beträgt durchschnittlich 7 bis 8 Monate. Ein kleiner Teil der Patienten (ca. 10 %) weist eine chronische Verlaufsform mit längerer Überlebenszeit z. T. bis ins Erwachsenenalter auf.

Patienten mit einem SMA-Typ II können wie bei SMA-Typ I mit einer generalisierten Muskelhypotonie in den ersten Lebensmonaten auffällig werden, lernen zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Entwicklung, ohne Hilfe aufrecht eine Sitzposition zu halten, jedoch nicht frei zu laufen (Beginn <18 Monate). Lange Stillstandsphasen ohne merkliche Verschlechterungstendenzen sind typisch; die Mehrzahl der Patienten erreicht das Erwachsenenalter. Die rumpfbetonte Muskelatrophie führt im Laufe der Erkrankung jedoch zu Wirbelsäulendeformitäten, Gelenkkontrakturen und eingeschränkter Lungenfunktion.

Die mildeste Form der infantilen SMA und gleichzeitig die Form mit der größten klinischen Variabilität stellt der SMA-Typ III (Typ Kugelberg-Welander) dar. Im Unterschied zum SMA-Typ II lernen die Patienten, ohne Hilfe zu gehen, obgleich das freie Laufen oft nur mühsam und mit großer Verzögerung erlernt wird. Die ersten Symptome können bereits im ersten Lebensjahr deutlich werden; der Beginn erstreckt sich über 30 Jahre. Der Krankheitsverlauf ist nach einem initialen Verlust von motorischen Funktionen meist sehr stabil und von langen Phasen ohne Progredienz gekennzeichnet.

Adulter SMA-Typ (Typ IV)

Die adulte proximale SMA (Beginn ca. 30 bis 60 Jahre) oder SMA-Typ IV wird in der Literatur meist im Kontext der „lower motor neuron diseases“ genannt und schließt eine heterogene Erkrankungsgruppe ein [3, 4]. Mehrheitlich sind die proximalen Beinmuskeln betroffen, der Verlauf ist meist langsam progredient. Nur selten lässt sich eine homozygote Deletion im SMN1-Gen nachweisen; familiäre Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel. Die Pathomechanismen und genetischen Faktoren sind größtenteils noch unbekannt, mit Ausnahme einzelner autosomal-dominanter Formen (Tab. 1).

Diagnostische Aussagekraft der SMN1-Analyse

Der Nachweis der homozygoten SMN1-Deletion hat eine hohe Sensitivität (>95 %) und Spezifität (>99 %) für die SMA 5q [5]. Etwa 2–5 % der Patienten tragen auf einem Chromosom eine Deletion und auf dem anderen Chromosom eine kleine, nur durch eine Sequenzierung erkennbare („subtle“) Mutation im SMN1-Gen, während homozygote intragenische Mutationen bisher nur in blutsverwandten Familien beschrieben wurden [6]. Für den diagnostischen Algorithmus (Abb. 2) ist demnach die Kenntnis des familiären Hintergrunds sehr wichtig. Die Sequenzierung des SMN1-Gens ist durch die komplexe Genstruktur und die gleichzeitig vorhandenen SMN2-Kopien technisch anspruchsvoll und wird durch unterschiedliche Verfahren ermöglicht.

Abb. 2
figure 2

Diagnostischer Algorithmus bei der SMA 5q

Das SMN-Gen kommt in 2 funktionellen Kopien (telSMN=SMN1 und cenSMN=SMN2) vor, die sich im 3’-Ende (Exons 7 und 8) unterscheiden. Eine normale Embryonalentwicklung setzt das Vorhandensein mindestens einer intakten SMN1/2-Kopie voraus. Da 5–10 % in der Normalbevölkerung eine homozygote SMN2 -Deletion aufweisen, schließt dieser Befund eine SMA 5q im Kontext einer diagnostischen Abklärung aus.

Genotyp-Phänotyp-Beziehungen

Es besteht zwar eine deutliche Korrelation zwischen der Zahl der SMN2-Kopien und der vorhandenen Muskelkraft, aber eine Vorhersage des Verlaufs ist mit der Bestimmung der SMN2-Kopienzahl vielfach nicht möglich [7]. Bei milderen Verlaufsformen liegen keine SMN1-Deletionen, sondern gehäuft Genkonversionen von SMN1 nach SMN2 vor, weshalb der Schweregrad der SMA entscheidend durch die verbleibende Proteinexpression des SMN2-Gens mitbestimmt wird. In seltenen Fällen kann bei Patienten mit einer adulten Manifestation nach dem 30. Lebensjahr (SMA-Typ IV) eine SMA 5q mit 4 bis 6 SMN2-Kopien nachgewiesen werden. Der prädiktive Wert einer SMN2-Kopienzahl ohne Berücksichtigung der klinischen Symptome ist jedoch begrenzt, wenn man bedenkt, dass z. B. beim Vorhandensein von 3 SMN2-Kopien bei homozygoter SMN1-Deletion alle 3 SMA-Typen I–III entstehen können (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Prozentuale Verteilung der SMN2-Genkopien bei Kontrollen und Patienten mit den Typen I–III der spinalen Muskelatrophie (SMA). (Modifiziert nach Zerres et al. [26], unter Ergänzung weiterer Studien zu Kontrollen mit kaukasischem Hintergrund)

Genetische Beratung von Familienangehörigen

Dem autosomal-rezessiven Erbgang folgend haben gesunde Geschwister von Betroffenen eine Wahrscheinlichkeit von 66 % und Geschwister von Eltern betroffener Kinder eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, heterozygote Anlageträger zu sein. Sofern die Mutationen beim Indexpatienten bekannt sind, ist eine gezielte Risikoeinordnung bei Angehörigen möglich. Falls eine heterozygote Anlageträgerschaft gesichert ist, wird im Rahmen der Familienplanung eine genetische Risikoeinordnung der Partnerin bzw. des Partners angeboten. A priori liegt die Wahrscheinlichkeit, heterozygot zu sein, für einen nichtverwandten Partner bei 1 zu 50. Eine quantitative Analyse der SMN-Kopien senkt diese Wahrscheinlichkeit beim Nachweis von 2 SMN1-Kopien bei Mitteleuropäern um etwa 95 %, d. h. auf etwa 1 zu 1000. Es bleibt ein kleines Risiko für eine falsch-negative Zuordnung bei dem Vorhandensein von 2 SMN1-Kopien auf einem Chromosom (3–8 % der Normalchromosomen, [5]) und eine methodisch in der Routine nicht erkennbare intragenische SMN1-Mutation (3–4 % der Mutationen). Die durch die quantitative Analyse der SMN1-Kopien erzielte Risikoreduktion reicht für die Familienplanung in der Regel vollständig aus. Bei der genetischen Beratung sollte außerdem auf eine geringe Neumutationsrate auf einem Allel hingewiesen werden. Diese beträgt ca. 2 % der Patienten [5].

Autosomal-dominante proximale SMA

Die autosomal-dominanten Formen mit proximaler SMA sind eine Rarität und durch die bisher schlecht charakterisierten Ursachen schwer als Entitäten abzugrenzen. Der Verlauf ist i. Allg. milde mit lang erhaltener Gehfähigkeitder Betroffenen; weitere neurologische Defizite bestehen meist nicht. Die genetischen Ursachen werden mithilfe neuer Methoden der Genomsequenzierung (Hochdurchsatztechnologien) zunehmend besser verstanden, die in den letzten Jahren erzielten Genidentifikationen (Tab. 1) beschränken sich jedoch meist auf einzelne Familien oder bestimmte ethnische Gruppen. Für einige Formen bestehen klinische Übergänge zu Erkrankungen des 1. Motoneurons (SMA Typ Finkel mit VAPB-Mutationen, ALS4 mit SETX-Mutationen; Abb. 4a).

Abb. 4
figure 4

Patienten mit unterschiedlichen Formen der spinalen Muskelatrophie (SMA), die nicht durch Mutationen im SMN1-Gen bedingt sind. a Ein 37-jähriger Patient mit autosomal-dominanter SMA aufgrund einer heterozygoten Mutation im SETX-Gen ([27], mit freundl. Genehmigung von Elsevier); b eine 10 Monate alte Patientin mit SMARD1 und homozygoter IGHMBP2-Mutation ([28], mit freundl. Genehmigung des Georg Thieme Verlags); c kraniales MRT eines 24 Tage alten Patienten mit pontozerebellärer Hypoplasie Typ 1 und compound-heterozygoter Mutation im EXOSC3-Gen; d ein 36-jähriger Patient mit kongenitalen Kontrakturen und dem klinischen Bild einer SMALED mit heterozygoter BICD2-Mutation. (Fall des Patienten in [18] publiziert)

Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy

Die spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA) oder Kennedy-Erkrankung stellt mit einer Häufigkeit von etwa 1 zu 40.000 eine wichtige Differenzialdiagnose zu dem SMA-Typ III oder IV dar und ist einer genetischen Diagnostik sehr einfach zugänglich. Die SBMA ist X‑chromosomal und wird durch eine Trinukleotid(CAG)-Expansion von mehr als 40 „CAG repeats“ im Androgenrezeptorgen verursacht. Der Beginn der meist proximal und beinbetonten Muskelschwäche liegt im Mittel bei 30 bis 40 Jahren mit einer breiten Schwankung von 15 bis 60 Jahren [8]. Die CK-Werte können deutlich erhöht sein; elektroneurographisch lassen sich teilweise Funktionsstörungen sensibler Nerven nachweisen. Klinisch typisch und damit hilfreich für die Diagnosestellung sind ein früher Handtremor , außerdem Muskelkrämpfe und Faszikulationen, die auch im fazialen (perioralen) Bereich deutlich sein können. Folgen der partiellen Androgenresistenz sind häufig eine Gynäkomastie, Hodenatrophie und verminderte Fertilität. Anders als bei der SMA 5q zeigen sich oft frühzeitig eine Dysarthrie, Dysphonie und Dysphagie als Hinweise auf eine Beteiligung bulbärer Neurone. Im Vergleich zu anderen Motoneuronerkrankungen mit bulbärer Beteiligung ist die Prognose jedoch günstig, die Lebenserwartung i. Allg. nicht herabgesetzt. Überträgerinnen zeigen in der Regel keine klinische Symptomatik, sodass hier ein X-chromosomal-rezessiver Erbgang vorliegt.

Sonderformen der infantilen SMA

Diaphragmale SMA, SMA mit primär respiratorischem Distress (SMARD)

Leitsymptom der diapragmalen SMA ist eine Zwerchfellparese , die meist zu einer initialen Ateminsuffizienz und Beatmungspflicht führt. Die Diagnose wird sonographisch oder radiologisch durch verminderte Zwerchfellexkursionen bzw. einen ein- oder beidseitigen Zwerchfellhochstand gestellt. Eine allgemeine muskuläre Hypotonie und Gedeihstörungen gehen der Ateminsuffizienz meist voraus, während sich im weiteren Verlauf eine distal betonte Muskelatrophie entwickelt (Abb. 4b). Die diaphragmale SMA wird autosomal-rezessiv vererbt und ist genetisch heterogen. Die wichtigste Form, SMARD1, wird durch Mutationen im IGHMBP2-Gen auf Chromosomenabschnitt 11q13.3 verursacht [9]. Inzwischen hat sich das klinische Spektrum von milderen IGHMBP2-Mutationen auf reine distale motorische Neuropathien (axonale Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie) erweitert, bei denen bis ins Erwachsenenalter keine Ateminsuffizienz besteht [10].

SMA mit pontozerebellärer Hypoplasie

Die genetische Basis dieser heterogenen Sonderform wurde für eine große Zahl an Patienten in den vergangenen Jahren aufgeklärt. Leitsymptom ist eine pontozerebelläre Hypoplasie (PCH) bzw. frühe Kleinhirnatrophie, die in der zerebralen bildgebenden Untersuchung deutlich wird (Abb. 4c). Grundsätzlich wird nach klinischen und pathoanatomischen Gesichtspunkten die PCH-1 von der PCH-2 unterschieden, wobei nur bei der PCH-1 zusätzlich ein Vorderhornzellabbau wie bei der SMA eintritt [11]. Patienten mit einer PCH-1 zeigen meist wie bei der SMA-Typ I zunächst eine allgemeine muskuläre Hypotonie und ausbleibende motorische Entwicklung, bevor sich zusätzliche Symptome (Visusstörungen, Nystagmus, mentale Retardierung, Anfallsleiden) hinzugesellen, die eine schwere ZNS-Entwicklungsstörung deutlich machen.

Mit der Identifikation des EXOSC3-Gens im Jahr 2012 [12] wurde es möglich, bei 30–50 % der Patienten mit einer PCH-1 die Diagnose molekulargenetisch zu bestätigen und damit u. a. die Voraussetzung für eine sichere vorgeburtliche Risikoeinordnung zu schaffen. Die Lebenserwartung der schwer behinderten Patienten liegt zwischen einigen Stunden und dem jungen Erwachsenenalter [13].

SMA mit Arthrogryposis multiplex congenita

Das Bild der Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) ist klinisch und genetisch heterogen und nur zu einem kleinen Teil durch einen Vorderhornzellabbau bedingt. Die Mehrzahl ist als sog. Amyoplasie auf intrauterine Anlagestörungen von Muskeln zurückzuführen und ist dann nicht progredient und in der Regel nicht familiär. Die sog. neurogen bedingte Arthrogryposis [14] kann jedoch wie eine SMA I imponieren, ist teilweise mit angeborenen Frakturen verbunden und folgt meist einem autosomal-rezessiven Erbgang. In wenigen Familien wurden kürzlich homozygote Mutationen in TRIP4 und ASCC1 nachgewiesen; Gene, die eine Schnittstelle zwischen Erkrankungen des Nerven- und Skelettsystems bilden [15]. Weitere Studien werden zeigen, welchen Anteil diese Gene an der gesamten Patientengruppe von SMA mit AMC einnehmen. Da ein schwerer SMA-Typ I mit einer AMC einhergehen kann, ist es in jedem Fall sinnvoll, bei einer entsprechenden Symptomatik ein SMN1 -Deletionsscreening durchzuführen, wenngleich die genetische Basis für diese Formen größtenteils noch unbekannt ist. Bei der einzigen bisher bekannten X‑chromosomalen Form der infantilen SMA, die neben Gelenkkontakturen mit genitalen Auffälligkeiten einhergeht [16], ist mit dem UBA1-Gen der verantwortliche Basisdefekt geklärt worden.

Mildere Formen mit nur geringer Progredienz sind bei autosomal-dominanten Familien beschrieben worden und zeigen eine klinisch-neurologisch oft erstaunliche Variabilität bei identischem Gendefekt (Tab. 1). In den letzten Jahren wurde insbesondere das phänotypische Spektrum der kongenitalen distalen SMA (DC-SMA) durch TRPV4 -Mutationen genauer beschrieben, welches intrafamiliär von einer schweren AMC mit Ateminsuffizienz bis zur milden skapuloperonäalen SMA reicht [17]. Mutationen im BICD2-Gen, welches seit 2013 bekannt ist, führen mehrheitlich zu einem distinkten Verteilungsmuster der Muskelatrophien mit angeborenen Fußdeformitäten und häufig auf die untere Extremität begrenzte Muskelhypoplasie (Abb. 4d; [18]).

Skapulohumerale SMA, skapuloperonäale SMA

Die Existenz einer eigenständigen skapulohumeralen SMA wird kontrovers diskutiert, da bei einem Teil der klinisch entsprechend eingeordneten Patienten die Diagnose einer fazioskapulohumeralen Muskeldystrophie gestellt wurde. Sehr selten tritt eine skapuloperonäale SMA aufgrund von TRPV4-Mutationen auf, bei der häufig zusätzliche klinische Besonderheiten vorliegen.

Distale SMA

In dieser klinisch und genetisch heterogenen Gruppe führt die uneinheitliche Nomenklatur ebenfalls nicht selten zur Verwirrung, da für die distale SMA in der Literatur synonym die Begriffe „axonale Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie“ (CMT2) oder „hereditäre motorische Neuropathie“ (HMN) verwendet werden. Nach der OMIM-Klassifikation werden inzwischen unter HMN die autosomal-dominanten Formen benannt, während die autosomal-rezessiven unter der Bezeichnung distale spinale Muskelatrophie (DSMA) geführt werden.

Das klinische Bild der symmetrischen, distal betonten Muskelatrophie kann sich sehr variabel bereits im frühen Kindesalter oder in der Jugend bzw. im Erwachsenenalter manifestieren. Je nach Schwerpunkt der Läsion und möglicher Zusatzsymptomatik, denen unterschiedliche Gendefekte zugrunde liegen, werden unterschiedliche Typen definiert (Tab. 1).

Die genetische Routine-Diagnostik steht mehrheitlich nicht zur Verfügung; dies wird sich mit Etablierung von Hochdurchsatzverfahren sicherlich ändern. In einer großen Patientenserie mit DSMA/HMN wurden pathogene Mutationen in 4 untersuchten Genen nur bei 15 % der Fälle gefunden [19]. Einzig das BSCL2-Gen nimmt bisher einen relativ wichtigen Anteil ein (5–10 %). Es verursacht mit dem Silver-Syndrom ein sehr variables autosomal-dominantes Krankheitsbild mit distalen Paresen, oft in der oberen Extremität beginnend, und unterschiedlicher Beteiligung des 1. motorischen Neurons.

Pathogenese und Therapieansätze bei SMA 5q

Die SMA 5q wird ausnahmslos dann verursacht, wenn homozygote Mutationen des SMN1-Gens der Region 5q13.2 vorliegen. Modifizierende genetische Faktoren sind bisher unvollständig verstanden. Eine erhöhte Expression von Plastin 3 führt im weiblichen Geschlecht möglicherweise zu einem gewissen Schutz, ein weiterer modifizierender Faktor stellt die Punktmutation c.859G>C im SMN2-Gen dar; eine Variante, die bei 1–2 % der Bevölkerung vorkommt und eine erhöhte Proteinsynthese von der mutierten SMN2-Kopie zur Folge hat. Damit haben Patienten unter Berücksichtigung der vorhandenen SMN2-Kopien einen vergleichsweise milderen Krankheitsverlauf.

Noch ist nicht vollständig geklärt, warum ein SMN-Proteinmangel zu einer bevorzugten Degeneration von Motoneuronen im Rückenmark führt. Das SMN-Gen ist ubiquitär exprimiert sowie für die Bildung und die Funktion des Spleißosoms im RNA-Metabolismus und die Regeneration dieser Komplexe (snRNP-Biogenese) im Zellkern verantwortlich. Inzwischen wurde außerdem nachgewiesen, dass das SMN-Protein eine wichtige Rolle beim axonalen Wachstum und beim Transport axonaler Proteine spielt. Weitere Funktionen werden ihm an der neuromuskulären Endplatte zugeschrieben. Es gibt sowohl im Tiermodell als auch bei Patienten Hinweise dafür, dass ein SMN-Mangel auch andere Organfunktionsstörungen bewirken kann; hier sind insbesondere das Gehirn, das sensible und autonome Nervensystem, die Muskulatur und der Gastrointestinaltrakt zu nennen [20]. Diese Aspekte sind vor dem Hintergrund von Therapieerfolgen, die ein längeres Überleben schwer betroffener Patienten ermöglichen können, von großer Bedeutung.

Aktuelle Therapiestrategien konzentrieren sich bei der SMA 5q auf die Erhöhung des SMN-Proteins durch eine gesteigerte Genexpression (Übersichten: [21, 22]). Placebokontrollierte Therapiestudien von Histondeacetylase(HDAC)-Inhibitoren, z. B. von Valproinsäure, 4‑Phenylbutyrat und Trichostatin A, haben nicht die erhoffte Wirkung erbracht und haben ein teilweise erhebliches Nebenwirkungspotenzial. Präklinische Studien zum Einsatz von spezifischen Gensequenzen (Antisense-Oligonukleotide , ASO), die sich positiv auf den Einschluss von Exon 7 der SMN2-Genkopie bei der Proteinsynthese auswirken, sind im Tiermodell außerordentlich erfolgreich verlaufen. Das ASO mit der früheren Bezeichnung „ISIS-SMNRx“ der Fa. Ionis Pharmaceuticals (Carlsbad, USA) ist aktuell unter dem Namen Nusinersen in verschiedenen Wirksamkeitsstudien bei Patienten im Einsatz, die bereits vielversprechende Ergebnisse erbracht haben [23, 24]. Erste positive Phase-2-Studien bei SMA-Typ-I-Patienten sind in der zweiten Hälfte 2016 veröffentlicht worden und zeigten eine gute Verträglichkeit des intrathekal applizierten Nusinersens, einen deutlichen Anstieg der SMN2-Transkripte unter Einschluss von Exon 7, eine signifikante Verbesserung der Überlebensdauer und unter höchster Dosis eine Verbesserung der motorischen Funktionen [24]. Ergebnisse von kontrollierten Phase-3-Studien stehen noch aus (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02193074).

Weitere gentherapeutische Ansätze verfolgen das Ziel, mithilfe von Adenoviren das fehlende SMN-Protein in die Nervenzellen einzuschleusen. Ergebnisse am Tiermodell mit adenoassoziierten Viren (AAV) waren erfolgreich, jedoch sind die Applikationsformen sowie die mögliche Toxizität und Nebenwirkungen durch eine hohe Viruslast schwere Nachteile, die einem breiteren Einsatz in klinischen Studien bisher entgegenstehen. Daneben stehen die Neuroprotektion und die Zunahme der Muskelmasse im Mittelpunkt weiterer Forschungsansätze.

Von kausalen Therapiestrategien abgesehen, sollten SMA-Patienten je nach Schweregrad und Verlauf symptomatische Therapiemaßnahmen wie Physiotherapie, orthopädische Maßnahmen sowie ggf. assistierte Beatmung angeboten werden [25]. Der Kontakt zu Selbsthilfegruppen (z. B. www.dgm.org) und Patientenregistern (www.treat-nmd.de/register/index.de.html) erleichtert die Information über den Stand der Wissenschaft und schafft Voraussetzungen für eine gezielte Ansprache von Patienten für Forschungsprojekte.

Fazit für die Praxis

  • Das Verteilungsmuster einer Muskelatrophie ist meist charakteristisch für den Genotyp.

  • Für die klassische infantile bzw. proximale SMA ist die genetische Diagnosestellung Goldstandard.

  • Neurophysiologische und histologische Befunde erlauben die Diagnose einer Vorderhornzelldegeneration, aber nicht die Unterscheidung zwischen verschiedenen SMA-Formen.

  • Die Differenzialdiagnose des schweren SMA-Typs I umfasst das breite Spektrum des „Floppy-infant“-Syndroms.

  • Mit dem Nachweis von 2 SMN1-Kopien ist eine SMA 5q praktisch ausgeschlossen, es sei denn, die Eltern eines Patienten sind blutsverwandt.

  • Eine homozygote Deletion der SMN2-Kopie liegt bei 5–10 % der Normalbevölkerung vor und verursacht keine SMA 5q.

  • Durch die quantitative Analyse der SMN-Genkopien ist in den meisten Fällen eine sichere Risikoeinordnung für Angehörige und deren Partner möglich.

  • Die X‑chromosomal rezessive spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy ist eine wichtige Differenzialdiagnose zu SMA-Typ III oder IV.

  • Mit Einsatz von Genpanel- und Exomanalysen wird sich die molekulargenetische Abklärung der nichtproximalen oder autosomal-dominanten SMA sowie der SMA-Sonderformen in der Zukunft sicher erheblich verbessern.

  • Die distale SMA wird oft auch als hereditäre motorische Neuropathie oder axonale Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie bezeichnet.

  • Aktuelle Therapiestrategien bei der SMA 5q konzentrieren sich derzeit auf eine Erhöhung der SMN-Expression durch Antisense-Oligonukleotide.