In diesem Themenheft der Somnologie finden sich Übersichten von Arbeitsmedizinern und Schlafforschern sowie 2 Originalarbeiten zur Therapie und den Folgen von Schichtarbeit. Gesellschaftspolitisch ist dieses Thema eines der wichtigsten im Bereich der Schlafforschung und Schlafmedizin.

Aus den Beiträgen von Anderer sowie Rodenbeck u. Hajak wird klar, das zum einen mehr Menschen als noch vor 20 Jahren als Schichtarbeiter(innen) tätig und damit einem deutlich erhöhten Risiko für kardiovaskuläre und Tumorerkrankungen sowie einer erhöhten Unfallneigung ausgesetzt sind. Gleichzeitig wehren sich viele Betroffene gegen eine Umsetzung von Schichtarbeitsplänen, die den wissenschaftlich begründeten Strategien der Forscher entsprechen, weil dadurch die Anzahl von aufeinanderfolgenden freien Tagen, aber auch unmittelbare finanzielle Vorteile reduziert werden könnten. Andererseits gibt sowohl in der Bevölkerung als auch bei Schlafspezialisten eine breite Akzeptanz nicht nur der ökonomischen Realität, die der Schichtarbeit zugrunde liegt, und der Ausweitung unseres Tages auf 24 h ohne Rücksicht auf basale zirkadiane Belange: Wer hat nicht schon um 21 oder 22 Uhr in leeren Läden eingekauft oder sich an verkaufsoffenen Sonntagen erfreut? Und das ist nicht nur in der Stadt so, sondern auch auf dem Land.

Nach 25 Jahren schlafmedizinischer Tätigkeit hat mich daher beim Lesen dieser Arbeiten eine gewisse Resignation überkommen. Warum? Trotz Kenntnis der aktuellen Literatur hatte ich mir einen Quantensprung in unserem Wissen und unserem Umgang mit der Schichtarbeit erhofft. Stattdessen konfrontiert dieses Heft Schlaf- und Arbeitsmediziner immer wieder mit der tristen Realität der Schichtarbeit.

Dennoch können und dürfen wir uns dieser Realität der 24-h-Gesellschaft nicht verschließen, müssen sie bis zu einem gewissen Punkt akzeptieren und können oft nur versuchen, den Betroffenen den Umgang mit der Schichtarbeit soweit wie möglich zu erleichtern. Erstaunlicherweise hat das letzte Jahrhundert noch Rücksicht auf die Bedürfnisse von Schichtarbeitern genommen. Damals wurden in Regionen mit Schichtarbeit Häuser konzipiert, in denen die Arbeitenden für den Tagessschlaf Schlafräume zur Verfügung hatten, die – ohne den Rest der Familie zu beeinträchtigen – so gelegen waren, dass sie ein Minimum an Geräusch- oder Lichtbelästigung boten. Die Betriebsmediziner sind sich über das Spektrum der die Schichtarbeit flankierenden Probleme im Klaren und haben diese auch weitestgehend ausgeleuchtet. Allerdings ist die Hilflosigkeit, die sich in den mangelnden Umsetzungsmöglichkeiten spiegelt, erschreckend. Für die Hausärzte und die Schlafmediziner, die sich mit den Schlafproblemen der Schichtarbeiter(innen) beschäftigen müssen, stehen auch nicht viele Möglichkeiten zur Verfügung.

Wir können und dürfen uns dieser Realität der 24-h-Gesellschaft nicht verschließen

Wir wissen genau, dass viele unserer Patienten, wenn wir ihnen nicht helfen können, ihre Schichtarbeit weiter zu verrichten, arbeitslos werden würden. Das können und wollen wir nicht riskieren. Also haben wir ein „Management“ entwickelt, das daher schon vom Ansatz her recht kläglich sein muss. Die theoretischen Grundlagen dieses Managements sind – wie uns Hajak u. Rodenbeck zeigen – plausibel und zumindest teilweise evidenzbasiert, allerdings meist nicht auf langfristiger Beobachtung basierend oder gar die Lebensqualität der Betroffenen berücksichtigend. Es existieren immer noch keine prospektiven Untersuchungen, die uns zeigen, wie sich ein Schichtarbeiterleben oder dessen Gesundheit im Verlauf von beispielsweise 10 Jahren verändert. Die wenigen Modelle, die mit sinnvollen Schichten umgesetzt wurden, haben sich nicht etabliert.

Gleichzeitig treibt der verbreitete Personalmangel bei parallelem Personal-Einsparungsdruck den „Wahnsinn“ des Schichtdienstes bei Polizei, Pflegepersonal, Bus- und Bahnverkehr auf die Spitze. Wir sehen diese Betroffenen täglich in unserer Praxis und sind dazu verdammt, sie entweder „kaputtzuschreiben“ oder medikamentös zumindest eine Zeit lang über Wasser zu halten. Sogar die Erwartung dieser Menschen, mit Rentenbeginn endlich wieder ordentlich schlafen zu können, müssen wir eigentlich auch enttäuschen. Trotzdem ist es gut, dass es einige Medikamente gibt, die es ermöglichen, das Elend eine Zeit lang zu verbessern. Aber es muss uns immer bewusst bleiben, dass wir das Schichtarbeitersyndrom – genauso wie viele andere Erkrankungen – nicht ursächlich heilen, sondern nur lindern können. Und wir müssen uns gutachterlich mit den Folgen der Schichtarbeit auseinandersetzen, meist retrospektiv, nicht prospektiv. Diesem Problem ist ein daher eigener Beitrag gewidmet.

Trotz, oder gerade wegen, der genannten Einschränkungen und Probleme bei der Umsetzung theoretisch fundierter Grundlagen in den klinischen Alltag und der viel zu großen Zahl der von Schichtarbeit betroffenen Personen ist dieses Editorial nicht als Grabstein für die Schlafmedizin in der Schichtarbeit zu verstehen. Im Gegenteil! Das Editorial wie das ganze Themenheft soll die Schlafforschung und Schlafmedizin dazu animieren, sich inhaltlich intensiver und langfristiger diesem Problem zu widmen, um es den Betroffenen und den Gesundheitsinstitutionen immer wieder vor Augen zu führen. Dabei dürfen wir uns nicht nur in den interessanten Aspekten der Messung von Müdigkeit, Schläfrigkeit und Fatigue verlieren, sondern müssen vielmehr Konzepte entwickeln, die sozial verträgliche Arbeitszeiten, Pausen, Ernährungskonzepte an der Arbeit und damit ein geringeres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko für die Betroffenen und vermindertes Unfallrisiko für die Gesellschaft ermöglichen. In diesem Sinne hoffe ich auf die Fortschritte in den nächsten 20 Jahren, die translational auch gesellschaftlicher Natur sein sollten.

Prof. Dr. Geert Mayer