Das Coronavirus hat seit seinem Ausbruch in China im November 2019 die Welt über Jahre mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Diese betrafen weitgehend alle Lebensbereiche des Menschen und griffen tief in das politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und persönliche Leben ein. Insbesondere sah sich aber auch das Gefängnis mit unerwarteten Problemen, die nicht zuletzt eingefahrene Routinen und Denkgewohnheiten infrage stellten, konfrontiert. Dies betraf nicht nur die strafvollzugspolitische und gefängnisadministrative Seite, die einen Spagat zwischen Gesundheitsfürsorge für die ihr anvertrauten Gefangenen und Bediensteten und der Resozialisierungsaufgabe leisten musste. Dies betraf v. a. auch die Gefangenen selbst, die – ohnehin bereits mannigfach vorbelastet, den restriktiven Bedingungen einer Justizvollzugsanstalt unterworfen und hierdurch wesentlicher Kompensations- und Bewältigungsmöglichkeiten beraubt – nun weiteren pandemiebedingten Einschränkungen und Belastungen ausgesetzt wurden. Folgt man gängigen Definitionen, so wird man diese in weiten Bereichen unvorbereitete Lage für alle Beteiligten als Krise einstufen.

Krisen bergen Chancen, wohnt doch in der Bewältigung einer Krise das Potenzial für Wachstum, Innovation und Entwicklung inne. Dies gilt zunächst für den einzelnen Menschen. So kennt die Entwicklungspsychologie das Konzept der „Kritischen Lebensereignisse“. Gemeint sind Ereignisse, die tiefgreifend die Rahmenbedingungen und Regeln verändern, nach denen bislang ein Leben organisiert war. Das Individuum ist mithin mit der Aufgabe konfrontiert, das Leben an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Misslingt dies und bleibt es beim hartnäckigen Festhalten an den dysfunktional gewordenen Lebensgewohnheiten und -zielen, kann das gravierende psychische Probleme zur Folge haben. Ein Gelingen der erforderlichen Anpassung führt indessen zu einem Entwicklungsprozess, der das Individuum im positiven Sinne weiterbringt. Ein vergleichbares Konzept kennt auch die Entwicklungskriminologie, nach deren Befunden sich z. B. die krisenhafte Veränderung der Rahmenbedingungen eines Rechtsbrechers, unter denen sein Lebensentwurf bis dato choreographiert war, auf der Grundlage eines sogenannten „turning point“ im Leben nachhaltig verändern kann und er die Chance gewinnt, aus dem kriminellen Lebenspfad auszuscheiden – freilich auch hier unter der Voraussetzung, dass ihm die Anpassung an die neue Lebenssituation gelingt. Von Vergleichbarem geht nicht zuletzt auch die Organisationspsychologie aus, die in einer gelungenen Krisenanpassung die Voraussetzung für Fortschritt und die Stärkung der Resilienz einer Organisation erkennt.

Die Vorbedingung für Positiventwicklungen infolge einer Krise ist die Diagnose der Krise und der mit ihr einhergehenden Anforderungen, Folgen und Wirkungen. Das Besondere an einer pandemiebedingten Krise ist es indessen, dass sie temporärer Natur ist und die Rahmenbedingungen nicht notwendigerweise dauerhaft verändert. Damit besteht das Risiko, über kurz oder lang in tradierte Gewohnheiten zurückzufallen und die Chance, die die Krise ursprünglich in sich geborgen haben mag, ungenutzt zu lassen. Es lohnt sich also, die Diagnose frühzeitig zu stellen, wenn die Erinnerungen und Erfahrungen noch nicht verblasst sind. Dies gilt insbesondere auch für den Justizvollzug. Immerhin besteht hier die zusätzliche Möglichkeit, dass die coronabedingten Maßnahmen in Reaktion auf die Coronalage wie ein Brennglas gewirkt haben könnte, unter dem die bereits zuvor bestandenen Wirkmechanismen zwischen den Restriktionen und Angeboten einer Haftanstalt einerseits und den Folgen für Gefangene und Bedienstete andererseits klarer zutage traten. In diesem Sinne könnten Beobachtungen, die aus dieser Zeit im Justizvollzug zu gewinnen waren, ein Lernfeld darstellen, welches hilft, die Wirkmechanismen einer totalen Institution besser zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund will das vorliegende Schwerpunktheft der Zeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie den Aufschlag für eine solche Diagnostik geben, indem die Beiträge dazu nicht nur den Umgang des Justizvollzugs mit Corona und die Folgen der getroffenen Maßnahmen für Gefangene und Bedienstete beschreibend nachzeichnen, sondern auch den verschiedenen Einfluss- und Wirkmechanismen nachgehen, die diese Folgen moderiert haben. Den Anfang macht dabei zunächst eine internationale Bestandsaufnahme verschiedener Umgangsweisen mit der Coronapandemie im Justizvollzug einzelner Länder, die mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen konfrontiert waren. Im Beitrag von Dünkel et al. werden aber nicht nur die verschiedenen Maßnahmen verglichen, sondern auch gezielt ausgleichende und nicht zuletzt haftvermeidende Maßnahmen, aus denen sich durchaus Lehren für die weitere Entwicklung des Justizvollzugs ziehen ließen. Einen Einblick in die Größenordnung der coronabedingten Belastungen für die Gefangenen geben sodann Meischner-Al-Mousawi et al. In einem Kohortenvergleich berichten sie über Gefängnissuizide vor sowie während der Coronapandemie und zeigen, dass die Suizidraten während der coronabedingten Maßnahmen deutlich gestiegen sind, nachdem sie in den Jahren zuvor noch gesunken waren. Vor dem Hintergrund des Konzepts der prozeduralen Gerechtigkeit gehen dann Bliesener und Schüttler der Frage nach den Wirkungen coronabedingter Belastungen und der Art der Kommunikation von Einschränkungen seitens der Anstalten auf die Zustimmung zu Verschwörungsmythen bei Gefangenen und Bediensteten nach. Demnach vermochte die (wahrgenommene) Angemessenheit der Kommunikation den Zusammenhang zwischen Belastungserleben und Zustimmungsgrad durchaus zu beeinflussen. Auch der Beitrag von Bielefeld und Hamatschek behandelt die Kommunikation einschränkender Maßnahmen in den Haftanstalten und widmet sich dabei den Zusammenhängen mit der Attribution dieser Maßnahmen als Schikane bzw. Fürsorge und der Ablehnung der Maßnahmen sowie der erlebten psychischen Belastung. Die Befunde deuten u. a. darauf hin, dass die Art der Kommunikation die Attribution der Maßnahmen als Schikane beeinflusst und dessen Einfluss auf den Grad der Ablehnung der Maßnahmen mediieren kann. Richter und Hamatschek befassen sich mit der Wahrnehmung und Bedeutung des Anstaltsklimas für Gefangene und Bedienstete. Sie fanden nicht nur Unterschiede in der Wahrnehmung des Anstaltsklimas zwischen den beiden untersuchten Gruppen, sondern auch Einflüsse des Belastungserlebens und der Gruppenzugehörigkeit auf die Klimawahrnehmung. Den Abschluss bildet schließlich eine Untersuchung zur Übertragbarkeit des ursprünglich aus der Arbeits- und Gesundheitspsychologie stammenden Job-demands-resources(JD-R)-Modells– ein Arbeitsmodell zur Untersuchung des Zusammenspiels von kontextuellen Belastungsfaktoren und Ressourcen für proximale und distale psychische Folgen – auf den Kontext einer Haftanstalt. Hierbei fanden sich unterschiedliche Wirkpfade des Belastungserlebens durch die Coronamaßnahmen und des wahrgenommenen therapeutischen Halts im Stationsklima auf psychische Folgeprobleme und motivationale Faktoren, die wiederum die wahrgenommene Lebensqualität, das Gesundheitserleben und aufkommende Suizidgedanken bei den Gefangenen beeinflussten.

Wie immer werden die Schwerpunktbeiträge durch frei eingereichte Arbeiten mit unterschiedlichen Themen ergänzt. So widmet sich die Untersuchung von Freudenthaler und Eher der Frage nach der Risikorelevanz von Vergewaltigungsmythen bei Männern mit sexuellen Gewaltstraftaten. Die Übersichtsarbeit von Ibrahim und Kattenberg geht der Frage nach der Bedeutung adäquater Gefährderbeurteilungen in der Polizeiarbeit im Umgang mit psychisch auffälligen Personen nach und leitet hieraus das Modell einer Heuristik zur Einschätzung von Gefährdungslagen ab. Abgerundet wird das Heft schließlich durch die Rubrikbeiträge des Journal-Clubs und des beliebten Blitzlichts.

Wir hoffen, ein interessantes und erkenntnisreiches Themenheft zusammengestellt zu haben, und laden die Leserschaft der FPPK herzlich ein, sich aktiv an der Diskussion um etwaige Lehren aus der Coronapandemie für die Weiterentwicklung des Justizvollzugs, aber auch für die Vollzugsforschung zu beteiligen.

Klaus-Peter Dahle und Hauke Brettel