Gerichtliche Sachverständige bemühen sich gewöhnlich nach Kräften, dem zu begutachtenden Menschen gerecht zu werden und der wahrscheinlichsten Wahrheit über ihn und den Hintergründen seiner (Tat‑)Handlungen möglichst nahezukommen. Welche Probleme dieses Anliegen aufwirft, wo die Grenzen liegen und welche idiografischen methodischen Möglichkeiten dennoch existieren, diskutiert der Beitrag von Johannes Holzer anhand der literarischen Vorlage des wegen Mordes an seinen Vater angeklagten Dimitrij Karamasow. Nun erfährt man im Beitrag von Hauke Brettel, dass es den Gerichten nicht notwendigerweise und immer um eine möglichst dichte Annäherung an die wahrscheinlichste Wahrheit geht, demnach Fallkonstellationen denkbar sind und vorkommen, in denen „Wahrheit“ und „richtige Urteile“ auseinanderliegen. Hier können sich insoweit unterschiedliche Perspektiven zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ergeben, die das methodische Vorgehen des Sachverständigen v. a. dann tangieren, wenn sie die zugrunde zu legende Tatsachengrundlage betreffen.

Über die Möglichkeiten und Grenzen einer Begutachtung nach Aktenlage geht es im Beitrag von Elmar Habermeyer und Henning Saß. Eine solche Konstellation tritt v. a. dann auf, wenn der Proband von seinem Schweigerecht Gebrauch macht und seine Beteiligung an der Begutachtung ablehnt. Hier beschränken sich die Erkenntnismöglichkeiten notwendigerweise auf Akten, evtl. weitere Erkenntnisse aus dem Hauptverfahren und etwaige Beobachtungen des Probanden im Prozess – dessen Möglichkeiten, seine Sicht der Dinge darzulegen und in die Beurteilung einfließen zu lassen, sind indessen begrenzt bzw. bestehen nicht. In einer posthum anhand öffentlich zugänglichen Fallmaterials und ergänzenden gutachterlichen Erkenntnissen vorgenommenen Analyse des Hanauer Attentäters Tobias R., der am 20.02.2020 planvoll zunächst 9 Stadtbewohner mit Migrationshintergrund, sodann seine pflegebedürftige Mutter und schließlich sich selbst tötete, geht Henning Saß der Frage nach, ob es sich um Gesinnungstaten handelte, oder inwieweit eine psychopathologische Entwicklung Hauptantriebsfeder war. Berichtet wird über Persönlichkeitsauffälligkeiten bereits seit der Jugend und über einen aus Liebesenttäuschung entstandenen Verfolgungswahn, der sich dann in fremdenfeindliche Ideologien und Verschwörungsgedanken kanalisierte. Zur Frage des Nutzens und Schadens sog. projektiver psychologischer Testverfahren im Rahmen familienrechtspsychologischer Begutachtung geht es im Beitrag von Neuerburg und Banse. Sie kommen hier zu dem Schluss, dass in Anbetracht der Schadensrisiken eine einzelfalldiagnostische Anwendung nicht empfehlenswert sei, solange keine direkten Validitätsbelege für das jeweilige Verfahren und seine intendierte Anwendungsform vorliegen. Über die Ergebnisse einer qualitativen Fokusgruppenstudie zum Erleben einer aussagepsychologischen Begutachtung durch Betroffene sexualisierter Gewalt berichten Wiebke Schoon und Peer Briken. In Abhängigkeit von der Profession der Fachleute sahen dabei die Befragten unterschiedliche Belastungsfaktoren, die vorgestellt und hinsichtlich ihrer Implikationen diskutiert werden. Das Positionspapier von Lennart May, Teresa Schneider und Malgorzata Okulicz-Kozaryn diskutiert schließlich kritisch den Gebrauch unseriöser und ineffektiver Methoden der Lügenerkennung und Vernehmungstaktik im Rahmen der polizeilichen Fallarbeit und Ausbildung. Sie zeichnen dabei die Risiken ihres Einsatzes nach und raten dringend zu einer kritischen Prüfung der theoretischen und empirischen Fundierung bei der Auswahl, der Vermittlung und Anwendung. Interessante Einblicke ins österreichische Strafprozessrecht bietet schließlich der Beitrag von Reinhard Haller, der insbesondere die Probleme, die sich für die beteiligten Gutachter hieraus ergeben, beleuchtet.

Neben Beiträgen rund um das Schwerpunktthema gibt es, wie immer, weitere Themenfelder im Heft. So finden sich auch stärker empirisch geprägte Arbeiten aus Behandlungseinrichtungen. Hier berichten Elisabeth Stück, Peer Briken und Franziska Brunner über Zusammenhänge der Gewährung selbstständiger Lockerungen und des Erreichens von Resozialisierungszielen im Rahmen einer Evaluation der sozialtherapeutischen Anstalt in Hamburg. Janina Neutze, Halina Schmid, Susanne Stübner und Joachim Nitschke analysierten schließlich Nutzung und Verbesserungspotenziale digitaler Patientendokumentationssysteme im bayerischen Maßregelvollzug.

Das Heft ist also umfangreich geworden, umso lohnender verspricht die Lektüre zu sein.