Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist eine der Hauptursachen von Morbidität Inhaftierter. Die jährliche Prävalenz von SVV in Gefängnissen beträgt 5–6 % bei männlichen und 20–24 % bei weiblichen Inhaftierten. Was sind die Ursachen dieser hohen Zahlen, die deutlich die SVV-Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung (1 %) übersteigen? Wie hoch sind die Stärke und Konsistenz der Effektgrößen bekannter Risikovariablen von SVV? Welche Maßnahmen erscheinen vor dem Hintergrund knapper Ressourcen besonders geeignet, gezielt zur SVV- und Suizidprävention beizutragen? In einer kürzlich in der Zeitschrift The Lancet Psychiatry erschienenen systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse versuchen Favril et al. (2020), Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie schlossen Querschnitts‑, Fall-Kontroll- und Kohortenstudien mit überwiegend erwachsenen Inhaftierten sowie 2 bisher unveröffentlichte Studien in ihre Untersuchung mit ein. Dabei wurden Personen, die SVV im Haftkontext zeigten, denjenigen ohne Selbstverletzungen innerhalb einer Gefängnispopulation gegenübergestellt. Ausgeschlossen wurden narrative und ökologische Studien, Untersuchungen zu SVV ausgewählter Subgruppen, Studien, die die Lebenszeitprävalenz von SVV auch außerhalb der Haft im Fokus hatten, und Studien mit einer nichtrepräsentativen Vergleichsgruppe.

Der primäre Endpunkt der Metaanalyse war das Chancenverhältnis („odds ratio“, OR) der SVV-Risikofaktoren. Dabei umfasste der Begriff „selbstverletzendes Verhalten“ sowohl suizidale als auch nichtsuizidale selbstverletzende Verhaltensweisen, denen ähnliche Risikofaktoren zugrunde liegen. Alle Risikofaktoren, die in mindestens 3 der eingeschlossenen Studien vorhanden waren, wurden mittels „Random-effects“-Modell untersucht und die OR als Maß der Effektstärke gebildet.

Die AutorInnen schlossen insgesamt 35 Studien aus 20 Ländern mit zusammen 663.735 Gefangenen (davon 9,6 % Frauen), von denen 24.978 (3,8 %) SVV zeigten, ein. Unter den eingeschlossenen Studien waren 12 Querschnitts-, 6 Kohorten- und 2 prospektive Studien. Die 3 größten retrospektiven Studien untersuchten über 90 % der Studienpopulation. Die Risikofaktoren wurden in 5 Kategorien eingeteilt: (1) klinisch, (2) haftspezifisch, (3) soziodemografisch, (4) kriminologisch und (5) kritische Lebensereignisse betreffend.

Von den 40 untersuchten Risikofaktoren standen die klinischen Risikofaktoren und darunter wiederum jene in Verbindung mit Suizidalität am stärksten im Zusammenhang mit SVV. Aktuelle oder kürzlich aufgetretene Suizidgedanken zeigten den stärksten Zusammenhang mit SVV (OR 13,8; 95 %-Konfidenzintervall [KI] 8,6–22,1). Das bedeutet, dass das Chancenverhältnis der Personen mit Suizidgedanken im Vergleich zu denjenigen ohne Suizidgedanken unter den Personen mit SVV bei 13,8:1 lag. Außerdem konnten als weitere wesentliche Risikofaktoren Suizidgedanken in der Vergangenheit (OR 8,9; 95 %-KI 6,1–13,0), früheres SVV (OR 6,6; 95 %-KI 5,3–8,3), eine gegenwärtige psychiatrische Diagnose (OR 8,1; 95 %-KI 7,0–9,4), insbesondere schwere depressive Symptome (OR 9,3; 95 %-KI 2,9–29,5) oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (OR 9,2; 95 %-KI 3,7–22,5), identifiziert werden. Eine psychiatrische Behandlung im Gefängnis zeigte ein größeres Chancenverhältnis in Bezug auf SVV (OR 10,5; 95 %-KI 4,8–22,8) als psychiatrische Behandlungen vor Inhaftierung (OR 3,7; 95 %-KI 2,8–4,9). In Bezug auf die gegenwärtige psychiatrische Behandlung zeigte sich eine hohe Heterogenität der Studien (I2 = 98), was bedeutet, dass ein Großteil der Varianz eher methodologischen oder klinischen Unterschieden der Studien als einem zufälligen Effekt zuzuschreiben ist. Die ausgeprägtesten haftspezifischen Risikofaktoren für SVV waren Einzelinhaftierung (OR 5,6; 95 %-KI 2,7–11,6), Disziplinarstrafen (OR 3,5; 95 %-KI 1,2–9,7) und sexuelle oder körperliche Viktimisierung während der Haft (OR 3,2; 95 %-KI 2,1–4,8). Unter den soziodemografischen Variablen waren Obdachlosigkeit (OR 2,5; 95 %-KI 1,8–3,3), Arbeitslosigkeit vor Inhaftierung (OR 1,6; 95 %KI 1,3–2,1) und ein Lebensalter unter 30 Jahren (OR 2,0; 95 %-KI 1,4–2,9) am stärksten mit SVV assoziiert. Unter den kriminologischen Risikofaktoren waren Haftstrafen über 5 Jahre (OR 2,3; KI 1,9–2,7), Gewaltdelikte (OR 1,8; 95 %-KI 1,3–2,4), Vorinhaftierungen (OR 2,0; 95 %-KI 1,3–3,1) und lebenslange Freiheitsstrafen (OR 2,0; KI 1,2–3,3) am stärksten mit SVV assoziiert. Aus der Kategorie der kritischen Lebensereignisse standen sexuelle, physische, emotionale und andere Traumatisierungen vor dem 18. Lebensjahr mit einem erhöhten OR für SVV im Zusammenhang (mittlere OR 2,1–3,9). Bemerkenswert war, dass in der Gefängnisstichprobe im Gegensatz zur Normalbevölkerung die antisoziale Persönlichkeitsstörung kein Risikofaktor für SVV ist.

Während Stärken der Studie die Größe der Studienpopulation, die quantitative Auswertung und den Einschluss bisher unveröffentlichter Daten umfassen, kann als Limitation aufgeführt werden, dass die Variablen nicht auf zu erwartende Störfaktoren durch gegenseitige Beeinflussung untersucht wurden. Der Einfluss der psychiatrischen Versorgungsqualität auf die Variablen wurde nicht untersucht. Die Heterogenität mancher Chancenverhältnisse wie z. B. „gegenwärtige psychiatrische Behandlung“ könnte auf nationale Unterschiede in der Versorgungsqualität, die Verurteilungspolitik oder die Heterogenität der weltweiten Gefängnisbevölkerung zurückzuführen sein.

Zusammenfassend standen gerade potenziell beeinflussbare klinische und inhaftierungsspezifische Variablen im stärksten Zusammenhang mit SVV, während „statische“ Faktoren wie kritische Lebensereignisse moderat und soziodemografische bzw. kriminologische Variablen schwach mit SVV zusammenhingen. Daraus lässt sich mit Blick auf Präventionskonzepte ableiten, dass diese verschiedene Bereiche umfassen könnten: Screening nach bekannten Risikofaktoren, Schulung Beteiligter zum Abbau falscher Grundannahmen, Monitoring haftspezifischer Risikosituationen, Verbesserung der psychosozialen Grundversorgung und Vernetzung der multidisziplinären Versorgung zur Unterstützung der gefährdeten Inhaftierten. Das Auftreten von risikoassoziierten Situationen wie Einzelinhaftierung, Viktimisierung, das Verhängen von Disziplinarmaßnahmen oder der Einbruch des sozialen Rückhalts sollten Anlass für eine Intensivierung präventiver Maßnahmen geben.

Die Studie hebt den hohen Stellenwert einer optimalen Vernetzung der verschiedenen Akteure innerhalb der Haftanstalten hervor, wobei eine optimale psychiatrische Versorgung die Grundlage zur Prävention von SVV darstellt.