In Zeiten von Corona ist auf einmal alles anders. Was gestern noch an digitaler Innovation unmöglich erschien, wo Datenschutz, Datenschutzfolgeabschätzung oder andere Hindernisse im Wege standen, ist nun Freifahrt angesagt. Selbstverständlich in geordneten und gelenkten Bahnen. Aber auf einmal sind neben der digitalen Patientenakte auch digitale Kontakte zu Patienten erleichtert – sogar in forensischen Kontexten. Lehrveranstaltungen, Wirtschaftsmeetings, wissenschaftliche Fachveranstaltungen, alles Erdenkliche kann auf einmal digital „easy“ werden. Kein Mensch spricht mehr über die Befürchtungen, die wir noch 1984 vor dem Überwachungsstaat mit George Orwells Dystopie aus dem Jahr 1948 verbanden, die Boykotte der Volkszählung in den 1980er-Jahren, Gauweilers Zwangstestungen von SexarbeiterInnen und „Fixern“.

Gleichzeitig wissen wir, dass es vor Cyberkriminalität genauso wenig absoluten Schutz gibt wie vor Corona. Es wird insofern interessant sein, welchen Einfluss Corona auf die Kriminalitätsentwicklung im Bereich Cyberkriminalität hat. So wie die digitalen Medien inzwischen zu unserem Alltag gehören, so gehört auch Cyberkriminalität zum Alltag: Die Weitergabe von Daten an andere, Betrugsgeschäfte, das Ausspionieren von Zugangsdaten, Betrug beim Onlinebanking, das Versenden von Nachrichten im eigenen Namen, die sog. Hasskriminalität, Sexualdelikte und verschiedenste weitere Aspekte lassen sich unter den Begriffen Cyberkriminalität subsumieren. Als wir das vorliegende Heft geplant haben, war Corona noch nicht aktiv. Nun erhält es eine beklemmende Aktualität.

Der Schwerpunkt im ersten Teil des Heftes widmet sich also diesem Thema. Horten und Gräber geben einen ersten Überblick zu Erscheinungsformen und zeigen den Anstieg von Cyberkriminalität im Vergleich zum Vorjahr in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019 um 15,4 %. Rettenberger und Leuschner beschäftigen sich mit Cyberkriminalität im Kontext von Partnerschaft, Sexualität und Peerbeziehungen: Cyberstalking, Cybergrooming, Cyberbullying und „scamming“. Wir merken, wir brauchen also auch ein neues Glossar. Ethel Quayle untersucht im englischsprachigen Beitrag verschiedene Facetten der bildlichen Darstellung sexueller Ausbeutung von Kindern und welche Herausforderungen es gibt, die Prävalenz von Aktivitäten zu erfassen. Die Züricher Arbeitsgruppe mit de Tribolet-Hardy et al. widmet sich einer besonders perfiden Form sexueller Ausbeutung, dem „webcam child sexual abuse“, also der mittels des Internets erfolgenden Anstiftung zur sexuellen Ausbeutung von Kindern. Für diese Form der Tatbegehung stellen sich dem Gutachter besondere Aufgaben. Aus der Göttinger Arbeitsgruppe um Fromberger et al. wird schließlich ein Überblick zum Potenzial virtueller Realitäten (VR) für die Diagnostik und Therapie im forensischen Kontext gegeben, und auch die damit verbundenen ethischen Herausforderungen werden dargestellt.

Anschließend widmen sich 3 Beiträge mit der Zunahme an Gutachten infolge der seit 2016 gültigen Vorgaben einer externen Begutachtung freiheitsentziehender Maßregeln in festen Abständen von 3, dann 2 Jahren, bei Sicherungsverwahrten sogar 9 Monaten. Eusterschulte skizziert die Auswirkungen aus Sicht der ärztlichen Leitung einer Maßregelvollzugsklinik. Wolf erarbeitet aus juristischer Sicht Vorschläge, die Probleme der Gutachtenflut wenigstens teilweise zu verringern. Kröber weist schließlich auf die Sinnhaftigkeit externer Gutachten hin, kritisiert allerdings gleichzeitig die zu starren Rahmenbedingungen.

Der dritte Teil des Hefts beschäftigt sich mit verschiedenen Diagnostika im forensischen Kontext und beginnt mit Kubes und Banses Analyse der Daten von 18 Studien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hinsichtlich der Rückfälligkeit von Sexualstraftätern und der prädiktiven Validität des Static-99. Mit dem Static-99 lassen sich danach im deutschsprachigen Raum valide Vorhersagen treffen. Prätor und Guéridon widmen sich der Frage, inwieweit klinische Urteile von Justizvollzugsbediensteten über das Risiko erneuter Straffälligkeit mit der durch Auszüge aus dem Bundeszentralregister ermittelten Rückfälligkeit ehemals inhaftierter Frauen korrespondieren. Billen et al. stellen eine Version der Skala „Clinical Global Impression (CGI)“ vor, welche an die Erfordernisse des Vollzugs angepasst wurde.

Der folgende Abschnitt, bei dem die für diese Ausgabe zuständigen Herausgeber freundlicherweise von Dr. Dr. Daniel Turner aus der Mainzer Universitätspsychiatrie unterstützt wurden, stellt 3 Beiträge aus dem IX. Symposium „Empirische Forschung in der Forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie“ (EFPPP) vor. Die Veranstaltung wurde am 12.09.2019 und am 13.09.2019 von der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Mainz in Kooperation mit dem Zentrum für Interdisziplinäre Forensik der Universität Mainz ausgerichtet. Seit nunmehr 9 Jahren dient die an wechselnden Orten stattfindende Veranstaltung dazu, wissenschaftlichen Nachwuchs aus den forensischen Disziplinen, u. a. durch Preise, zu fördern. Priscilla Gregório Hertz wurde dort für ihre Arbeit mit dem Eberhard-Schorsch-Preis der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung ausgezeichnet. Sie stellt mit ihren Kollegen eine empirische Anwendung des Selbstregulationsmodells sexueller Rückfälligkeit von Tony Ward vor, bei der sexuell motivierte Straftaten unterschiedlichen Rückfallpfaden zugeordnet und mit den individuellen Defiziten und Ressourcen der Täter in Verbindung gebracht werden. Walde und Lungwitz untersuchen in einer systematischen Literaturübersicht Faktoren, die den Erfolg der Legalbewährung bei entlassenen Patienten des Maßregelvollzuges beeinflussen können. Ein erhöhtes Rückfallrisiko zeigt sich bei Substanzmissbrauch und häufigem Wechsel von Wohnort und Arbeitsplatz. Einen schützenden Effekt hat neben der Stabilisierung der psychischen Situation ein institutionalisiertes Wohnumfeld. Meuschke und Jagsch untersuchen die Bedeutung von Gedanken an den Tod und das Sterben im Hinblick auf die Persönlichkeit, die physische und psychische Gesundheit sowie die Zufriedenheit mit unterschiedlichen Bereichen des Lebens und der Haftsituation von 55 Inhaftierten im Seniorenalter in österreichischen Haftanstalten.

Abschließend folgen die wiederkehrenden Rubriken unserer Zeitschrift, zunächst ein kriminologischer Beitrag von Horten und Gräber, der eine Studie der Kriminologischen Zentralstelle zu Fehlurteilen der deutschen Justiz vorstellt. Der psychiatrische Journal Club, in dem Curic über eine Studie zur Rolle moralischer Überzeugungen für Gewaltdelikte von an Schizophrenie Erkrankten berichtet, und passend dazu das Blitzlicht von Kröber, der sich mit Verschwörungstheorien und Wahn und nochmals mit dem „Attentat“ von Hanau befasst. Zu Recht fordert er dabei „zupackende Hilfe, wenn sich bedroht fühlende Wahnkranke darum ersuchen, und Kontrolle ihres Zugangs zu Waffen“.

Zu guter Letzt noch ein paar „Fakten“ zum Thema Kriminalität bzw. Kriminalprävention. In Hamburg sollen heute, am 10.07.2020, Folgende die ZAHLEN DES TAGES sein: Minus 73 % bei Raubdelikten. Minus 64 % bei Taschendiebstählen. Minus 54 % über alle Kriminalität. Die Bilanz der Einführung von 22 Überwachungskameras auf dem Hansaplatz in Hamburg St. Georg, traditionell Umschlagplatz für Drogen, traditionell Aufenthaltsort vieler SexarbeiterInnen. Glauben wir, dass in Zeiten des Cyberspace diese Form der Überwachung wirklich eine Verbesserung darstellt? Oder geht es nur um eine Verschiebung weg von der Bildfläche? Vielleicht einerlei im Panoptikum der Disziplinargesellschaft, wo nun ohne Murren und ohne Knurren überwacht wird – auf öffentlichen Plätzen wie im virtuellen Raum.