Vor 6 Jahren hatten wir ein Themenheft Sexualstraftäter-Therapie. Es ging um Therapieverfahren und die Frage, ob das Risk-Needs-Responsivity (RNR) Model ergänzt werden muss durch das Good Lives Model (GLM), also ob man sich im Verlauf der Behandlung löst von einer defensiven Fixierung auf individuelle Risiken der Vergangenheit und weitergeht zu einer zukunfts- und ressourcenorientierte Behandlung. Von dem, der man nicht mehr sein will, hin zu dem, der man jetzt und künftig sein will. Das GLM galt vielen Protagonisten von RNR als wissenschaftlich nichtfundierte, böse Häresie. Stets bewegte die Frage, wie man einen Therapieerfolg schon zum Entlassungszeitpunkt definieren und messen kann und nicht erst fünf oder zehn Jahre später anhand des Auszugs aus dem Strafregister. Und es wurde auch damals vor der Pathologisierung des „normalen“ sexuellen Rechtsbrechers gewarnt.

In diesem Heft wird der Diskurs fortgesetzt, den die Forensiker der verschiedenen Gewerke Recht, Psyche, Sozialerziehung, Pflege, Wissenschaft seither geführt haben. Die Entwicklung in den letzten Jahren ist geprägt durch die Vermarktung von sexuellen Übergriffen für große politische/mediale Kampagnen (Migranten als Bedrohung der deutschen Frau; MeToo; Forderung nach sexuellen Schutz‑/Tabuzonen einerseits, nach sexueller Vielfalt und freier Geschlechtswahl andererseits). Es wird in allen Medien nicht mehr nur zur Jagd auf „Kinderschänder“ aufgerufen wie vor knapp 20 Jahren, postuliert wird – in einem „Aufschrei“ nach angeblich langem Schweigen – ein enormes Schutzbedürfnis von Frauen vor dem sexuell gefährlichen Mann; der staatliche Schutz müsse entschieden weiter gehen als bisher. Man hat zornig erklärt, dass bewundernde Blicke gefährlich sind; das stimmt ja auch, weil sie eine Handlungssequenz einleiten können (zumeist eine sozial kompatible).

Man beginnt darüber nachzudenken, welche Rolle den Strafrichtern, den forensischen Psychiatern und Psychologen, Pädagogen und Pflegern jeglichen Geschlechts da zugewiesen wird, auf der Gespensterjagd nach einem risikofreien, gefahrlosen Leben, mit Unterwerfung unter die Uralt-Klischees der grundsätzlich schwachen, schutzbedürftigen Frau und, solange er nicht entmannt ist, des stets gefährlichen Mannes. Unmenschlich entfremdet ist der justizielle und der therapeutische Umgang mit Sexualstraftätern dann, wenn der Behandler glaubt, er müsse diesen gemäß den Wünschen einer medial erlebten „Allgemeinheit“ („für die Allgemeinheit gefährlich“) zurichten, die eine infantil-egozentrische Versorgungsmentalität hinsichtlich Sicherheit entwickelt hat, während die Akzeptanz von Andersartigkeit anderer stark zurückgeht. So ist die Möglichkeit, einstige Sexualstraftäter in eine Wohnung oder eine Wohneinrichtung zu entlassen, extrem gering. Die freien Träger und die Vermieter verweigern sich grundsätzlich, und die Bundesländer lehnen es seit Jahren ab, staatliche Wohnmöglichkeiten für entlassene Sexualstraftäter zu schaffen, obwohl das viel schneller und viel billiger zu lösen wäre als die Integration von Migranten, wo es ja auch gelungen ist, obgleich deren jährliche Zahl ungleich größer war und bleiben wird.

Wenn aber der Staat die Sexualstraftäter gar nicht als Entlassene zurückhaben will, was ist dann der Auftrag an die Richter, an die psychotherapeutischen „caseworker“? Sollen die Therapeuten – wenn denn eine solche Hilfe angezeigt ist – einem konkreten Menschen zu einem besseren, erfüllteren, sozial verträglichen Leben verhelfen? Oder sollen sie, mittels standardisierter gruppentherapeutischer Risikoreduktionsverfahren, möglichst vielen Insassen vermitteln, dass sie psychisch defizitär, eine ständige Gefahr und dauerhaft kontrollbedürftig sind? Ist am Ende das Wohlbefinden des Einzelnen das Erfolgsmaß, oder ein Punktwert in einem standardisierten Risikoinstrument? Viele Gefangene haben die Erfahrung gemacht, dass im Lauf ihrer Haft- oder Maßregelzeit die Preise für den Stempel „Entlassbarkeit“ ständig gestiegen sind. Auch wird die Währung bisweilen nach Jahren gewechselt, statt des komplett absolvierten Behandlungsprogramms für Sexualstraftäter hört der Vergewaltiger jetzt: plus chemische Kastration. Entspringt das der Analyse des unmittelbaren Behandlers oder der Anweisung des Chefarztes, oder reagiert der Chefarzt auf die Nullrisikoforderungen des Ministeriums und der Medien?

Es gibt nach wie vor viel zu diskutieren und skeptisch zu überprüfen. In welchem Rahmen bewegt sich unser forensisches Handeln? Thomas Fischer beschreibt diesen politischen und juristischen Rahmen in seinen vielfältigen Facetten und geht dabei von der alten Forderung aus, dass mit der Strafandrohung und Bestrafung ein „Rechtsgut“ zu schützen sei. In der Forderung, noch immer mehr zu schützen, als sei dies nicht bereits der Fall, sieht er den Versuch, das unstreitige Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zur einer Legitimation für ständige staatliche Intervention quasi auf Zuruf zu degradieren, unter Verzicht auf die einst gebräuchlichen Formen eigenständiger kooperativer Konfliktbewältigung, vor allem aber als Rechtspolitik für die Medien. Dass dies hingenommen, ja gewünscht wird, stellt er in den Kontext der eingreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen in den letzten zwei Jahrzehnten der Globalisierung.

Es folgt der eigene Beitrag (Kröber) über das zu schützende Rechtsgut der sexuellen Selbststimmung von Kindern, die eine möglichst ungestörte sexuelle Entwicklung ermöglichen soll. Jede Entwicklung zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass sie die Bewältigung von Störungen erlernt. Es werden kindliche sexuelle Verhaltensweisen und Entwicklungsstadien dargestellt, um dann die Frage aufzuwerfen, in welcher Weise der sexuelle Kindesmissbrauch die psychosoziosexuelle Entwicklung von Kindern schädigt. Es gibt Tatformen mit hohem Gewaltanteil (Vergewaltigung) und andererseits Taten, bei denen zwar Macht ausgespielt wird, aber eine Vereinnahmung des Kindes für die sexuellen Ziele des Erwachsenen ohne körperliche Gewalt stattfindet; es werden hier unterschiedliche Nachwirkungen und Schädigungen erwartet.

Fritjof von Franqué hält angesichts der wieder zunehmenden Kritik an der Indiziertheit und an der Wirksamkeit der sexualforensischen Psychotherapie an den Basisprinzipien von RNR fest, plädiert aber für eine gründliche individualisierende Renovierung der Behandlungskonzepte und legt ein besonderes Gewicht darauf, die Klienten initial in einer nichtintrusiven Weise durch Motivationsarbeit für das Behandlungsprojekt zu gewinnen.

Wenig Optimismus schafft hingegen der Beitrag von Birgit Völlm, der ein therapeutisches Desaster thematisieren muss. Ein jahrelang mit enormen Geldbeträgen finanziertes und von zahlreichen, kontinuierlich betreuten guten Gefängnis-Therapeuten durchgeführtes gruppentherapeutisches Projekt (an das auch ich geglaubt habe), nämlich das Sex Offender Treatment Program (SOTP), zeigte bei einer kaum angreifbaren Evaluationsstudie nicht nur keinen Effekt, sondern schnitt sogar noch schlechter ab als die Gruppe der unbehandelten Gefangenen. In deutschen Haftanstalten wurde Gefangenen noch vor wenigen Monaten gedroht, wenn sie nicht SOTP mitmachen, bekommen sie keine Lockerungen. Vermeintlich sicheres Wissen über unsere Behandlung (die wir Gefangenen „anbieten“) entpuppt sich als irrige Glaubensüberzeugung. Das SOTP galt als gruppentherapeutischer Goldstandard. Man hat es jetzt schnell gegen das Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (BPS) ausgetauscht; ob das besser ist, weiß man nicht. Um diesen Therapie-GAU ist es bemerkenswert still geblieben; auch Frau Völlm schildert, warum SOTP eigentlich richtig gewesen sein müsste. Es stellt sich, darum die Stille, die Frage nach den Essentials der sog. Kriminaltherapie (Gruppentherapie, „risk assessment“, Rückfallvermeidungsplan). Das Scheitern könnte bedeuten: Wenn sich an Selbstkonzept und Motivationen eines Täters nichts ändert, was in der Regel nur in der Einzeltherapie gelingt, wird er irgendwann Risikosituationen nicht meiden, sondern bewusst ansteuern.

Klaus-Peter Dahle hat mit seinem Team sehr aufwendig alle therapeutisch aktiven Institutionen des Berliner Straf- und Maßregelvollzugs erfasst, um die Wirksamkeit der Therapie von Sexualstraftätern zu klären; er berichtet die vorläufigen Ergebnisse der Behandlung von 105 Klienten der SothA im Vergleich mit drei weiteren Gruppen, z. B. einer Wartegruppe. Die Ergebnisse der intramuralen Entwicklung lassen Hoffnung aufkommen, dass die Gefangenen, denen deutliche Fortschritte attestiert wurden, auch in Freiheit erfolgreich sind. Auch hier hat man den Eindruck, dass es vielleicht besonders die intramural trainierte Beziehungsfähigkeit ist, welche die Einzelnen voranbringt.

Dann geht es zu einem anderen Strang der Therapie. Daniel Turner und Peer Briken beschreiben die Wirkweise und den Wirkungsbereich der heutigen antiandrogenen Behandlung; es bestehen nach wie vor in zahlreichen Einrichtungen des Straf- und Maßregelvollzugs, die mit dieser Behandlungsoption konfrontiert sind, erhebliche Wissenslücken und Fehlinformationen. Die Verfasser diskutieren eingehend auch die ethischen und rechtlichen Aspekte einer solchen, stets freiwilligen Behandlung innerhalb einer markanten Machtkonstellation (die z. B. nicht ganz selten von einer Anstalt zur Lockerungsvoraussetzung gemacht wird).

Das Thema wird fortgeführt von Julia Sauter und Kolleginnen über die sehr interessanten Erfahrungen mit den körperlichen, psychischen, sozialen Folgen von Auslass- bzw. Absetzversuchen der antiandrogenen Medikation in der Berliner Forensisch-Therapeutischen Ambulanz (FTA).

Tatjana Voß und Kolleginnen der FTA berichten dann über die mühsame Arbeit der sozialen Reintegration entlassener Sexualstraftäter, die überwiegend erfolgreich verlaufen ist, bei der aber gerade die Überprüfung der Ursachen von delinquenter Rückfälligkeit lehrreich ist, um zu erkennen, wo Fehler gemacht wurden oder Fehleinschätzungen erfolgten, nicht minder aber auch, wo die Grenzen unserer Einflussmöglichkeiten liegen. Dass an jedem Rückfall eines Sexualstraftäters jemand anderer schuld sein muss, wovon z. B. beim Missbrauchsfall Staufen alle überzeugt waren, ist ein Glaube an die Allmacht von Sozialmanagement.

Danach verlassen wir, wenn auch nicht völlig, das Schwerpunktthema. Der Arbeitskreis forensischer Ambulanzen des Strafvollzugs hat Qualitätskriterien der eigenen Arbeit formuliert; sie werden hier hinsichtlich Struktur‑, Prozess- und Ergebnisqualität von Claudia Schwarze et al. vorgestellt.

Darauf folgt ein sehr klarer und präziser Beitrag von Andreas Mosbacher, den wir gebeten hatten, uns zu helfen, die neue Strafrechtspraxis nach der Reform des § 63 StGB zu verstehen und uns in unserer Arbeit darauf einzurichten.

Es erscheint im Heft wie gewohnt der Journal Club mit dem psychologischen Beitrag von Lisa Francke über sexuellen Kindesmissbrauch und die Nutzung von Missbrauchsabbildungen, verglichen werden Internettäter mit „Hands-on“-Tätern. Dass auch andere Formen von Delinquenz für die Geschädigten schlimme Auswirkungen haben, verdeutlicht Angelika Treibel im kriminologischen Beitrag über existenzielle Dimensionen des Diebstahls, zumal in Entwicklungsländern.

Das Blitzlicht befasst sich, passend zum Schwerpunktthema, mit einem teuflischen Geisterwesen, verwandt dem Incubus, der die Männer, und dem Succubus, der die Frauen befällt, einem Dämon namens Paraphilie, dem man zumindest gehörig auf die Finger schauen sollte, bevor man ihm Einlass in die eigene Argumentation gewährt.