Behandlung ist ein weiter Begriff. Der Strafvollzug ist schon kraft gesetzlichen Auftrags „Behandlungsvollzug“. Alles, was staatliche und subsidiäre Institutionen mit ihnen zugewiesenen Menschen machen, ist Behandlung. Die Kinder eines Kindergartens und auch die Insassen eines Altersheims erfahren eine gewisse Behandlung. In der strafrechtlichen Begriffsverwendung ist hingegen „Therapie“ eine ganz besondere Form von Behandlung, die Anwendung medizinischer oder psychologischer, nicht zuletzt somatotherapeutischer und anerkannter psychotherapeutischer Methoden. Letztere wiederum enthalten in der praktischen Umsetzung durch die Behandlungsteams häufig starke erzieherische Elemente oder sind gar pure (Retro‑)Pädagogik in einem Straf- und Belohnungssystem; die lebhafte Anwendung eines Stufensystems ist ein guter Indikator dafür.

Eine freundliche Behandlung wie im Altersheim, eine pädagogische Behandlung wie in der Schule, eine medizinische Behandlung wie in der Geburtshilfe oder eine psychotherapeutische Behandlung wie in der Rehaklinik geht nur mit geringen Freiheitseinbußen des Behandelten einher. Weil es quasi stationär/kollektiv ist, muss er sich einem gewissen Regelwerk unterwerfen, das vor allem der effizienten Bewältigung der anfallenden Arbeit dient. Am freiesten ist der Klient einer ambulanten Psychotherapie: Wenn er merkt, dass sein Therapeut anhaltend Unsinn redet, ihn nicht versteht, ihn gar nicht recht wahrnimmt, kann er aufstehen, gehen und nie wiederkommen. Und die Deutungen und Erklärungen, die der Therapeut ihm liefert, sind nur gültig, wenn er selbst sie sich in kritischer Prüfung zu eigen machen kann. (Das gilt natürlich schon nicht mehr für Kandidaten der Psychoanalyse, die ihre lange teure Ausbildung erfolgreich bestehen müssen.)

Grundsätzlich gilt hier als idealtypische Konstellation: Selbstbestimmung und Autonomie des Patienten werden als primäre Werte vorausgesetzt und allemal respektiert. Es zwingt dieses relative Machtgleichgewicht den Psychotherapeuten zu einem umsichtigen Umgang mit Widerständen, Skepsis und Unverständnis, zu einer ständigen Selbstprüfung im Bewusstsein eigener möglicher Fehler und Irrtümer; es verwehrt ihm, Widerstände zu überrennen und den Behandelten mit nichtargumentativen Mitteln zu Anerkennung der therapeutischen Deutungen und Behandlungsziele zu zwingen.

Bei abgeurteilten Straffälligen in stationären Settings bekommt Behandlung schlagartig einen deutlich anderen Charakter: Es ist stets die Behandlung eines Unterworfenen durch die Macht, hier durch die Entscheidungspersonen des Gefängnisses, der Sicherungsverwahrung, oder der Klinik des Maßregelvollzugs. Aus einem idealerweise horizontalen, sozial ebenbürtigen Verhältnis zwischen Behandler und Behandeltem, das der Behandelte bei Nichtgefallen jederzeit beenden kann, wird ein vertikales Verhältnis. Der Verurteilte befindet sich in einer totalen Institution, in der seine Verhaltensspielräume von vorneherein von Anderen festgelegt sind, und die er nicht aufgrund eigener Entscheidung verlassen kann.

Solange das Gefängnis den Behandlungsvollzug darauf beschränkt, prosoziales Verhalten zu belohnen und antisoziale Regelverstöße nach festgelegten Regeln zu ahnden, ist dies ein verstehbares und lebbares Setting der – zumeist zeitlich begrenzten – Freiheitsentziehung zum Zwecke der Strafe. Die Tür ist zu, aber die Gedanken sind frei.

Fatal wird es, wenn die Institution nicht nur meinen Bewegungs- und Handlungsspielraum stark eingrenzt, sondern auch die Herrschaft über mein Seelenleben erreichen will. Das geschieht überall dort, wo der Strafvollzug therapeutisch gewendet wird, in der Sozialtherapie, der Vorbereitung und im Vollzug der Sicherungsverwahrung, und im psychiatrischen Maßregelvollzug gemäß §§ 63 und 64 StGB. Es sollen Therapieverfahren appliziert und von den Abgeurteilten angenommen werden, und zum Zwecke einer „vertrauensvollen therapeutischen Beziehung“ erwarten viele Institutionen, dass der Insasse alle seelischen Regungen, von der Masturbationsfrequenz und den Gedanken dabei bis hin zur ersten Verliebtheit, stets sofort den Therapeuten, bei Nichterreichbarkeit notfalls dem Aushilfspflegehelfer meldet, und wenn er dies nicht tut, gilt es als schlimmer Vertrauensbruch (Kröber 2013); gewünscht ist maximale Transparenz – ausschließlich aufseiten des Patienten.

In Wahrheit gibt es das umgekehrte Vertrauensproblem: Wie soll ein Gefangener Vertrauen aufbauen zu jemandem, der entscheidende Machtbefugnisse über ihn hat, dessen Votum – ohne gerichtliche Überprüfung – eine Verlängerung der Freiheitsentziehung um Jahre bewirken kann: Wie viel kann man dem über sich verraten, über eigene problematische Anteile, Wünsche oder Handlungen, und wie ungeschönt? Es bedarf einer ständigen, bewussten Anstrengung seitens der Institution, in dem enormen vertikalen Machtgefüge dieser Einrichtungen so etwas wie horizontale Plattformen zu schaffen, auf denen eine respektvolle, wertschätzende Begegnung stattfinden kann (Kröber 2016). Dabei kann und soll jede Seite Geheimnisse haben dürfen; auf völlige Preisgabe kommt es bei einer anständigen Psychotherapie gar nicht an. Nur eine solche auf das Wohlergeben und die Entwicklung prosozialer Fähigkeiten ausgerichtete, bereichernde Behandlung kann psychotherapeutisch wirkungsvoll werden; eine reine kriminaltherapeutische Dressur, die nicht das Wohl des Straffälligen selbst im Auge hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wenig nachhaltig sein. Die Konsequenz sollte sein, möglichst viel an vertrauensbildenden Maßnahmen ins Werk zu setzen, aus denen hervorgeht, dass die Haftanstalt und die Maßregelklinik respektvoll mit dem Verurteilten umgehen, ihn nicht demütigen und nicht gängeln wollen, ihm alle vertretbare Entscheidungsfreiheit lassen und sein Verantwortungsbewusstsein trainieren wollen.

Das ist nicht leicht, weil man glaubt, dem stünden zahllose Sicherheitsnotwendigkeiten entgegen. Deswegen haben wir uns zu diesem Schwerpunktheft entschlossen, um den problematischen Widerspruch zwischen Zwang und Therapie (Kröber 2018), ja schon zwischen Zwang und Erziehung zu beleuchten. Wir wollten bewusst in die Nachbargebiete schauen, in die Allgemeinpsychiatrie, in den normalen Strafvollzug, in die alten Erziehungsheime, um zu sehen, wie wenig Veränderung des Einzelnen durch Zwang zu erreichen ist, und um zu sehen, welche Versuche es gibt, Zwangsmaßnahmen gegen gefährliche psychisch Kranke, psychisch Auffällige, ja selbst gegen psychisch stabile Straftäter aus wohlerwogenen Gründen, soweit es eben geht, zu vermindern.

So ist dies Heft etwas ungewöhnlich geworden, eine Mischung aus juristisch-ethischer Problembeschreibung und einer ganzen Reihe von Werkstattberichten, keine strenge hypothesenprüfende und Signifikanzen berechnende Wissenschaft, sondern Erfahrungsberichte über Vorgehensweisen, welche die Ängste der Verantwortlichen überwinden mussten.

Es beginnt mit der engagierten Darstellung von Thomas Pollmächer über die ethischen und berufsrechtlichen Probleme, wenn Ärzte und Psychologen Menschen nicht aus deren eigenem Interesse und zu deren eigenem Wohl behandeln, sondern ausschließlich im Interesse Dritter, der Terminus technicus ist „fremdnützig“. In unserem Falle wären es die Maßregelpatienten, bei denen es nach einem Glaubenssatz mancher „Kriminaltherapeuten“ ausschließlich darum geht, dass sie danach nicht mehr fremdschädlich sind; dass es ihnen selbst damit auch besser geht, soll dabei nicht ausgeschlossen werden, ist aber nicht von Belang. Somatische Therapieverfahren, die das erreichen könnten, wie „Betonspritzen“ beim impulsiven Gewalttäter oder Kastration des Sexualstraftäters, sind ohne Einwilligung des Insassen verboten; was aber ist, wenn man dem Vergewaltiger droht, ihm den Freigang zu streichen und damit auch das freie Arbeitsverhältnis, wenn er nicht in eine Antiandrogenbehandlung zur chemischen Kastration einwilligt? Folgt man Pollmächer, wären psychologische Trainingsmaßnahmen ohne psychiatrischen Nutzen für den so behandelten Straftäter selbst in Einrichtungen des Strafvollzugs zu verlegen. Der Einrichtungsleiter mag dann Psychologe sein, aber seine Funktion ist halt Vollzugsleiter und nicht Psychotherapeut. Unzulässig wären dann auch Verlegungen aus der Sicherungsverwahrung in den psychiatrischen Maßregelvollzug aus Gründen einer dort besseren Psychotherapie. Ob die ethischen Probleme gelöst werden, indem man die Ärzte aus der Front nimmt, wäre allerdings zu diskutieren. Ebenso wäre zu prüfen, ob das, was heutzutage als Therapie angewandt wird, wirklich Therapie ist – man denke an das in Europa und Nordamerika weit verbreitete, jetzt in England wegen Unwirksamkeit wieder abgeschaffte „Sex Offender Treatment Program (SOTP)“ (Völlm 2018).

Es beginnen die Werkstattberichte, zunächst aus der Allgemeinpsychiatrie mit sektorisierter Pflichtversorgung für nun auch schwierige Regionen Hamburgs (früher war nur Eppendorf im Sektor) durch die Psychiatrische Klinik des UKE. Daniel Schöttle und Jürgen Gallinat verdeutlichen die Probleme, die Zwangsmaßnahmen gerade bei akut psychotischen, aber auch manch anderen psychiatrischen Patienten eher verstärken, und die Vielzahl von Maßnahmen, die dazu beitragen können, Zwang zu vermindern und Zwang niemals als Mittel der Arbeitsvermeidung oder Bestrafung für Widersetzlichkeit anzuwenden. Deutlich wird, wie groß inzwischen der Bereich der Entlastung durch (recht aufwendige, aber gleichwohl effizientere) poststationäre Maßnahmen ist: Auch da kann der Maßregelvollzug immer noch dazulernen.

Aus der Psychiatrischen Klinik der Charité in Berlin-Mitte berichten Dorothea von Haebler und Christiane Montag über die stationäre Akutbehandlung mit offener Tür und möglichst wenig Zwangsmaßnahmen. Sehr anschaulich wird, welche konstruktiven Anforderungen an das Team damit verbunden sind, welche ermutigenden Erfolge und welche Begrenzungen.

Julia Sauter et al. berichten über die Umsetzung der Neuregelungen über den Vollzug der Sicherungsverwahrung anhand der JVA Tegel. Die Neuregelung wollte erreichen, dass Sicherungsverwahrte „so normal wie eben möglich“ hinter Gittern leben können sollen, in Apartments statt in Zellen, mit wenigen Einschränkungen außer hinsichtlich der Freizügigkeit – allerdings mit einer massiven Therapeutisierung ihrer Beziehung zu den Behandlern, die angenommen und bewältigt werden muss, will man noch einmal in Freiheit kommen. Zu fragen wäre natürlich, wenn diese Rücknahme von Zwangsmaßnahmen bei hochgefährlichen Gewohnheitsverbrechern funktioniert: Lässt sich dann das meiste nicht auch für den Normalvollzug übernehmen?

Einen plastischen und regelrecht vergnüglich zu lesenden Bericht über die innere Reform eines Gefängnisses mit Bordmitteln gibt Gerd Koop, als studierter Pädagoge langjähriger Direktor der JVA Oldenburg und zudem Redakteur der gemeinnützigen Zeitschrift Forum Strafvollzug. Was mit hartgesottenen Strafgefangenen und mit routinierten Vollzugsdienstlern gelungen und stabil geblieben ist, könnte doch auch andernorts zur Reduktion von Kontrollitis und anderen Demütigungen ermutigen.

Die beiden nachfolgenden, vor allem auf Zeugenaussagen gestützten Berichte über das Heimwesen in West und Ost sind hingegen ausgesprochen bedrückend, und das einzig Gute ist, dass diese Zustände wohl wirklich weitestgehend abgeschafft sind, und dass es in heutigen Kinder- und Jugendheimen wesentlich anders zugehen soll. Ulrike Winkler beschreibt, dass die diakonischen Einrichtungen für „Schwererziehbare“ in Westdeutschland 1945–1975 in der „Fürsorgeerziehung“ pädagogischen, ja christlichen Idealen zu folgen glaubten, dass diese aber im Rahmen einer totalen Institution und völliger, oft gewalttätiger Unterwerfung zu fürchterlichen Resultaten führen musste. Der Beitrag von Angelika Benz über die Heime in der DDR lässt erkennen, dass es zwar gewisse Unterschiede in der pädagogischen Ideologie gab, aber kaum in der Praxis. Es wäre zu wünschen, dass diese massenweise jahrelange körperliche und seelische Misshandlung von Tausenden von Kindern zumindest einen Bruchteil der Aufmerksamkeit und von Forschungsmitteln erführe, welche die Missbrauchstaten von Klerikern hervorgerufen haben. Ehemalige Insassen von Freistatt oder Torgau gibt es in vielen deutschen Strafanstalten – Resultate „fremdnütziger“ Zwangserziehung, welche die Autonomie der Jugendlichen brechen wollte, im Auftrag der „Allgemeinheit“.

Nach dem Schwerpunkt folgt mit drei Beiträgen ein Minischwerpunkt über zwei etablierte kriminalprognostische Risiko-Erfassungsinstrumente. Es beginnt mit der Darstellung von Henning Hachtel et al. der überarbeiteten Neufassung des Basler Kriterienkatalogs zur Beurteilung der Legalprognose, der einstigen „Dittmann-Liste“. Es setzt sich fort mit der erhellend und lehrreich kontroversen Diskussion zwischen Johann Endres und Florian Schwanengel einerseits sowie Andreas Mokros et al. andererseits über die deutschsprachige Adaptation der Psychopathy-Checklist – revised version (PCL-R). Wer die Argumente genau nachvollziehen will, sollte schon mal den Taschenrechner bereitlegen; alle anderen gehen mit einem deutlich verbesserten Verständnis der Items aus dem Gefecht.

Es erscheint im Heft wie gewohnt der Journal Club mit dem kriminologischen Beitrag von Angelika Treibel über eine internetgestützte Form des Liebesbetrugs, eine moderne Form des Heiratsschwindlers; erforscht wurden vor allem die auf diese Weise geschädigten Frauen. Der psychiatrische Beitrag von Alexander Voulgaris referiert eine große Studie über die sozialen und psychiatrischen Merkmale von Patienten mit überlangen stationären Unterbringungsdauern (mehr als 10 bzw. 15 Jahre) in forensisch-psychiatrischen Kliniken in England. Ähnlichkeiten mit der deutschen Situation sind gut erkennbar.

Das Blitzlicht befasst sich mit einem essenziellen Aspekt der Therapie mit Straffälligen, nämlich dem Gespräch darüber, welches die Gründe für eine Straftat gewesen sind, im institutionellen Jargon: die „tiefergehenden Hintergründe“. Es ist dies keine historische Rekonstruktion gesicherter Tatsachen, sondern eine Deutung in Form einer Delinquenzhypothese. Wer die Macht hat, dessen Deutung gilt. Auch die Unterwerfung eines Gefangenen unter eine Deutung, die er nicht nachvollziehen kann, ist eine Zwangsmaßnahme.