Zusammenfassung
Wer vom Leben eines Menschen erzählt, ist mit Kontingenz konfrontiert. Alles, was wir erlebt haben, können wir so erzählen, als sei, was geschehen ist, gar nicht miteinander verbunden. Wer aber will solche Geschichten hören? Man spricht über sich selbst wie über das Leben anderer Menschen nicht im Modus der Beliebigkeit oder Zufälligkeit. Wir wollen Sinnvolles hören und lesen und machen uns einen Reim auf das Leben. Erzählungen sind Sinngebungen des Sinnlosen. Zwar erzeugen sie Kontingenz, weil sie Verschiedenheit und Zufälligkeit thematisieren. Aber sie bewältigen sie auch, weil die Geschichten uns vertraut sind und plausibel erscheinen. Erzählungen nehmen dem Zufälligen den Status eines Vorfalls und reihen ihn in eine verstehbare Geschichte ein. Durch die Einreihung des Geschehens in eine Erzählung, die durch Ursache, Zweck, Ziel und Intention strukturiert ist, wird aus der ungeordneten eine geregelte Kontingenz. Die Erzählung von Lebensgeschichten ist also ein kreativer Akt, der uns dazu bringt, Erfahrungs- und Erwartungsstrukturen umzuorganisieren. Erzählungen stiften Einsicht, indem sie Wirklichkeit als begriffene Wirklichkeit rationalisieren und Menschen einen verstehbaren Platz in ihr anweisen. Sinnstiftende Lebensgeschichten sind gut begründete Fälschungen der Wirklichkeit.
Abstract
Whoever recounts the life of a person is confronted by contingency. We can recount everything that we have experienced as if what has happened was not affiliated to each other; however, who would want to hear such stories? One does not speak about oneself or about the life of other persons in a mode of arbitrariness or coincidence. We want to hear and read something meaningful and make sense of life. Narratives make sense out of the senseless. They generate contingency because they address diversity and coincidence; however, they also overcome them because the stories are familiar to us and appear plausible. Narratives take the status of an event from something random and line it up into a comprehensible story. By enqueuing the incident in a narrative, which is structured by the reason, purpose, target and intention, the disorganized becomes a regulated contingency. The narration of biographies is therefore a creative act that brings us to reorganize structures of experiences and expectations. Narratives create insight in that they rationalize reality as perceived reality and assign people a comprehensible place in it. Meaningful biographies are well-founded falsifications of reality.
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Baberowski, J. Was lehrt die Lebensgeschichte – und was lehrt sie nicht?. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 12, 4–10 (2018). https://doi.org/10.1007/s11757-017-0454-z
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