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Der Fall Ludwig Tessnow (1872–1939)

Aspekte zur Geschichte der forensischen Psychiatrie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit

The Ludwig Tessnow case (1872–1939)

Aspects of the history of forensic psychiatry from the late nineteenth century to the Nazi period

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Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Tischlergeselle Ludwig Tessnow wurde 1902 wegen 4-fachen Mordes vom Schwurgericht in Greifswald zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde in der Wiederaufnahmeverhandlung 1906 bestätigt, nachträglich erfolgte aber eine Begnadigung zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Nach übereinstimmender Meinung der psychiatrischen Sachverständigen hatte Tessnow die Taten im Zustand fehlender Zurechnungsfähigkeit auf Grundlage eines epileptischen Dämmerzustands begangen, allerdings setzte sich das Geschworenengericht in beiden Entscheidungen darüber hinweg.

Aus historischem Blickwinkel ist der Fall forensisch-psychiatrisch einerseits dadurch interessant, dass sich hier noch deutlich der Kompetenzstreit des 19. Jh.s zwischen Jurisprudenz und medizinischen Sachverständigen bei der Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit widerspiegelt. Andererseits gewährt er einen interessanten Einblick in den Umgang mit psychisch kranken Straftätern am Beginn des 20. Jh.s, bei dem der Druck der öffentlichen Meinung ein – damals und heute – nicht zu unterschätzendes Element der Vorverurteilung darstellte, das durch das System der Laiengerichtsbarkeit (Schwurgerichte) noch verstärkt wurde. Am Fall Tessnow lässt sich zudem beispielhaft die Unterbringungspraxis psychisch kranker Straftäter vom Ende des 19. Jh.s bis in die Zeit des Nationalsozialismus (NS) hinein verfolgen. Mit neuen Befunden kann Tessnows Schicksal dahingehend geklärt werden, dass er nicht, wie oft fälschlich angenommen, durch Vollstreckung des Todesurteils im Greifswalder Gerichtsgefängnis starb, sondern dass er als Patient der Landesheilanstalt Stralsund Opfer der „NS-Euthanasie“ wurde.

Abstract

The journeyman carpenter Ludwig Tessnow was sentenced to death for four murders by the Greifswald jury court in 1902. The death sentence was upheld during the retrial in 1906 but was later commuted to life imprisonment. According to the unanimous opinion of psychiatric experts Tessnow committed the crimes while in a state of mental incompetence caused by epileptic twilight states. The court, however, ignored this mitigating circumstance in its decision-making process. Seen from a historical perspective, the case is of forensic psychiatric interest because this criminal trial clearly shows the conflicts in competence which arose in the nineteenth century between judges and medical experts when mental competence had to be assessed. It also allows some insight into how mentally ill offenders were dealt with at the beginning of the twentieth century when the influence of public opinion was (and still is) a noteworthy element of prejudgement which was additionally consolidated by the established system of jury courts. The Tessnow case reveals by way of example the usual practice of official consignment of mentally disordered offenders to hospitals at the end of the nineteenth century until the Nazi era. New particulars of the Tessnow findings adequately verified that Tessnow had not been executed in the Greifswald prison as mistakenly believed. It could be proved that Ludwig Tessnow was admitted to the LandesheilanstaltStralsund (state mental hospital in Stralsund) where he became a victim of the Nazi euthanasia program.

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Notes

  1. Schweder gab als Datum den 14. März 1904 an, hierbei muss es sich um einen Fehler handeln, denn bei laufender Revision hätte der Staatsanwalt nicht im Oktober 1903 die Vollstreckung des Todesurteils verkünden können.

  2. Auch unter den Krankenblättern der Patienten, die im Städtischen Krankenhaus Stralsund auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert wurden, finden sich keine möglicherweise ergänzenden Unterlagen zu Ludwig Tessnow – die Durchführung einer Sterilisation ist angesichts seines fortgeschrittenen Alters mit mindestens 62 Jahren in Kombination mit der fehlenden Chance auf eine Entlassung auch als wenig wahrscheinlich anzusehen.

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Einhaltung ethischer Richtlinien

Danksagung

Die Autoren danken Dr. Dirk Alvermann vom Universitätsarchiv Greifswald, Dipl.-Med. Ramona Strohm und Margit Braun von der Klinik für Forensische Psychiatrie bzw. für Psychiatrie und Psychotherapie in Ueckermünde und Bert Lingnau für die Unterstützung.

Interessenkonflikt

J. Armbruster und K. Haack geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Armbruster, J., Haack, K. Der Fall Ludwig Tessnow (1872–1939). Forens Psychiatr Psychol Kriminol 8, 254–262 (2014). https://doi.org/10.1007/s11757-014-0292-1

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