Zusammenfassung
Der Beitrag erörtert, aufbauend auf früheren Überlegungen, die Begriffe Vorgestalt und Selbstkorrumpierung im Kontext der psychiatrischen Begutachtung affektiv akzentuierter Delikte. In beiden Fällen handelt es sich um komplexe psychopathologische Phänomene, die auf den Beurteilungsebenen des Querschnitts (Befund zu einem bestimmten Zeitpunkt) und Längsschnitts (Entwicklung über die Zeit bis hin zur Tathandlung) erfasst werden müssen. Vorgestalten meint hier kognitiv mehr oder weniger strukturierte, imaginierte Vorwegnahmen wesentlicher Elemente eines später real eingetretenen, stark affektiv geprägten Tatzusammenhangs. Sie können im Einzelfall für oder gegen die Annahme einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit sprechen. Welche Indikatorfunktion sie haben, hängt vom psychopathologischen Kontext ab. Der nicht wertfreie Begriff Selbstkorrumpierung bezeichnet eine komplexe, nicht leicht erkennbare Alteration des individuellen Wertgefüges im (möglicherweise jahrelangen) Vorfeld der Tat. Auch dieses Phänomen kann für die forensische Beurteilung einer affektiv akzentuierten Straftat hilfreich sein, sofern es kritisch reflektiert verwendet wird. Der psychopathologischen Perspektive kommt in dieser Debatte eine kardinale Bedeutung zu. Dies gilt freilich nur dann, wenn die Psychopathologie sich in ihrem Selbstverständnis klar jenseits der bloßen Symptomerhebung bewegt und dabei die wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Perspektive aktiv einbezieht.
Abstract
This paper addresses imaginative preoccupations (“Vorgestalten”) and mechanism of self-corruption prior to a crime of passion (“Affektdelikt”). Both are complex psychopathological issues which have to be evaluated for cross-sectional and longitudinal dimensions. Imaginative preoccupations indicate cognitive and affective precursors of significant elements of the later aggressive criminal behaviour. Depending on the given psychopathological context, they may be indicative for or against diminished criminal responsibility. Self-corruption is definitely a (negatively) value-laden term and addresses a gradual alteration of the individual value system prior to the actual aggressive behaviour which can, but does not necessarily have to be of forensic relevance. Generally speaking, the psychopathological perspective is of major importance here, if and only if psychopathology clearly reaches beyond mere description of symptoms and systematically includes epistemology and conceptual history of psychiatry.
Notes
Die im Einzelfall strittige Frage, welchem der 4 „Eingangsmerkmale“ der Schuldfähigkeitsparagrafen ein derartiger Zustand allenfalls zuzuordnen wäre, ist hier nicht Gegenstand.
Literatur
American Psychiatric Association (APA) (2000) Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 4th edn, text revision (DSM-IV-TR). American Psychiatric Association, Washington DC; dt: (2003) Hogrefe, Göttingen
Churchland PS (1986) Neurophilosophy: towards a unified theory of the mind-brain. MIT Press, Cambridge
Conrad K (1947) Über den Begriff der Vorgestalt und seine Bedeutung für die Hirnpathologie. Nervenarzt 18:289–293
Conrad K (1958) Die beginnende Schizophrenie: Versuch einer Gestaltsanalyse des Wahns. Thieme, Stuttgart
Conrad K (1960) Die Gestaltanalyse in der psychiatrischen Forschung. Nervenarzt 31:267–273
Foerster K (1984) Sind die Probleme bei der Beurteilung sog. „Affektdelikte“ nun gelöst? Nervenarzt 55:385
Hoff P (1992) Neuere psychiatrische Klassifikationssysteme und ihre Bedeutung für die forensische Psychiatrie. Gesundheitswesen 54:244–250
Hoff P (1993) Vorgestalten. In: Sass H (Hrsg) Affektdelikte. Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin, S 95–113
Hoff P (2006) Leib und Seele, Gehirn und Geist, Gesundheit und Krankheit: Die Psychiatrie als Schnittstelle medizinischer, philosophischer und gesellschaftlicher Kontroversen. In: Hermanni F, Buchheim T (Hrsg) Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht. Fink, München, S 39–67
Hoff P (2010) Psychische Störungen: erklären, verstehen oder beschreiben? Historische und aktuelle Perspektiven einer psychopathologischen Kernfrage. Schweiz Arch Neurol Psychiatr 161:200–208
Janzarik W (Hrsg) (1979) Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft. Enke, Stuttgart
Janzarik W (1993) Steuerung und Entscheidung, deviante Strukturierung und Selbstkorrumpierung im Vorfeld affektiv akzentuierter Delikte. In: Sass H (Hrsg) Affektdelikte. Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin, S 57–76
Janzarik W (1995) Grundlagen der Schuldfähigkeitsprüfung. Enke, Stuttgart
Jaspers K (1946) Allgemeine Psychopathologie, 4. völlig neu bearb. Aufl. Springer, Berlin
Krümpelmann J (1974) Motivation und Handlung im Affekt. In: Stratenwerth G et al (Hrsg) Festschrift für H. Welzel. De Gruyter, Berlin, S 327–341
Krümpelmann J (1993) Die strafrechtliche Beurteilung der sog. Affekttaten. In: Sass H (Hrsg) Affektdelikte. Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin, S 18–42
Rauch HJ (1993) Über die Schuldfähigkeit von Affekttätern. In: Sass H (Hrsg) Affektdelikte. Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin, S 200–212
Sass H (1983) Affektdelikte. Nervenarzt 54:557–572
Sass H (1985) Handelt es sich bei der Beurteilung von Affektdelikten um ein psychopathologisches Problem? Fortschr Neurol Psychiatr 53:55–62
Sass H (1985) Der Beitrag der Psychopathologie zur forensischen Psychiatrie. Vom somatopathologischen Krankheitskonzept zur psychopathologischen Beurteilungsnorm. In: Janzarik W (Hrsg) Psychopathologie und Praxis. Enke, Stuttgart, S 134–143
Sass H (1993) Affekt und Schuldfähigkeit: ein psychopathologischer Lösungsvorschlag. In: Sass H (Hrsg) Affektdelikte. Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin, S 214–231
Stanghellini G (2009) The meanings of psychopathology. Curr Opin Psychiatry 22:559–564
Wellek A (1955) Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie: zehn Abhandlungen zur Psychologie und philosophischen Anthropologie. Francke, Bern
World Health Organisation (WHO) (1991) Tenth revision of the international classification of diseases, chapter V (F): mental and behavioural disorders (including disorders of psychological development). Clinical descriptions and diagnostic guidelines. World Health Organisation, Geneva; dt. (1991): ICD-10. Huber, Bern
Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Hoff, P. Vorgestalten und Selbstkorrumpierung auf dem Weg zum Affektdelikt. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4, 240–247 (2010). https://doi.org/10.1007/s11757-010-0081-4
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11757-010-0081-4