Zusammenfassung
Am Beispiel von Gutachten zur Frage einer Hangtäterschaft gemäß § 66 StGB wurde untersucht, inwiefern die juristischen Gutachtenaufträge geeignet sind, die psychowissenschaftlichen Gutachter zu leiten und auf ihre Fachlichkeit zu beschränken. Außerdem wurden Begründungen für die Übernahme der Gutachtenergebnisse durch die Gerichte und sachverständige bzw. juristische Argumentationen zum Vorliegen eine „Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten“ ausgewertet. Die Ergebnisse der Untersuchung machen deutlich, dass sowohl die Auftragserteilung als auch die richterliche Würdigung der Gutachtenergebnisse formelhaft geschieht. Sowohl die gutachterliche als auch die juristische Argumentation zum Hang bezieht sich vorwiegend auf Aspekte der Delinquenzgeschichte. Überlegungen zur Persönlichkeit rezidivierender Straftäter treten demgegenüber in den Hintergrund, obwohl sie bei Begutachtung der Voraussetzungen einer Hangtäterschaft wesentlich zielführender wären. Die Arbeit wird deutlich machen, dass im interdisziplinären Spannungsfeld der Sachverständigenexpertise weiterhin Abstimmungsbedarf zwischen Justiz und Psychowissenschaften besteht.
Abstract
Using the example of psychiatric expert opinions in trials leading to preventive detention, we analysed how far the corresponding orders by the courts were suited to guide the psychiatric experts and restrict them to their area of expertise. Furthermore we concentrated on the question, what reasons were given for preventive detention on both psychiatric and judicial side and how psychiatric arguments were adopted by the judges. Our results show clearly, that placing an order with the psychiatric expert as well as adopting the psychiatric arguments for preventive detention occur mainly in a stereotypic way. Psychiatric and judicial arguments for preventive detention refer both to previous delinquency. Aspects concerning the offenders personality appear to be secondary, although they play a major role in the decision for preventive detention. The article shows the controversy associated with forensic-psychiatric expertise in the courtroom and the need for communication and clarification between psychiatry and law.
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Danksagung
Die Studie wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (AZ: HA 3414/2-1) durchgeführt, konnte letztlich aber nur durch die dankenswerte Kooperation mit den Staatsanwaltschaften und dem Bundeszentralregister realisiert werden. Besonderen Dank an Prof. Dr. J. Kinzig für die kritische Durchsicht und juristische Hilfestellung und an Fr. A. Mittag für die über Jahre hinweg geleistete Unterstützung.
Interessenkonflikt
Es besteht kein Interessenkonflikt.
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Puhlmann, P., Habermeyer, E. Die Sachverständigenexpertise im Spannungsfeld zwischen Justiz und Psychiatrie am Beispiel des Hangbegriffes des § 66 StGB (Sicherungsverwahrung). Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4, 39–47 (2010). https://doi.org/10.1007/s11757-009-0030-2
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