Ältere Menschen

Kriminologische wie forensisch-psychiatrische Forschung hat sich bevorzugt mit jungen Menschen beschäftigt. Kriminalität ist eine Domäne des zweiten und dritten Lebensjahrzehnts. Zudem erscheinen strafrechtliche Interventionen insbesondere dann präventiv wirksam, wenn sie in einem frühen Lebensalter erfolgen. Den speziellen Aspekten der Jugenddelinquenz galt daher auch das Schwerpunktthema einer Ausgabe dieser Zeitschrift im Jahre 2008. Dieses Heft wendet sich nun den kriminologischen und forensisch-psychiatrischen bzw. psychologischen Aspekten älterer Menschen zu. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt in den Industrieländern seit Jahrzehnten kontinuierlich an, bei gleichzeitig sinkender Geburtenziffer. Der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen stieg in Deutschland von ca. 10% im Jahre 1950 auf ca. 20% im Jahre 2006Footnote 1. Neben diesem demografischen Wandel ist eine immer größer werdende Mobilität und Aktivität von Senioren bis ins hohe Alter festzustellen. Zugenommen hat aber auch die Diskussion über die problematischen Seiten dieser Entwicklung: Wie lange müssen und dürfen lebenserhaltende medizinische Maßnahmen erfolgen? Wie kann der Betroffene selbst entsprechende Vorsorge treffen, damit später auch tatsächlich in seinem Sinne entschieden wird? Die Diskussion hierüber dürfte trotz der am 18.06.2009 erfolgten Entscheidung des Bundestages über das Gesetz zur Verbindlichkeit von „Patientenverfügungen“ sicher nicht zu Ende sein.

Nicht nur die Zeit der Jugend birgt spezifische Probleme, auch das Seniorenalter kann uns vor besondere Schwierigkeiten stellen. Während aber beim Versuch, sich in die Problematik eines Jugendlichen oder jungen Erwachsenen einzufühlen, auch eigene Erfahrungen mit dieser Lebensphase hilfreich sein können, bleibt dies bei der Beurteilung eines alten Menschen im Allgemeinen verwehrt. Kann ein 40-jähriger Gutachter die Problematik eines 85-Jährigen nachvollziehen, der nach dem Tode seiner Frau sein mühsam erworbenes Eigenheim dem Nachbarn überschrieb, welcher sich zur künftigen Betreuung verpflichtete, dies aber im Kleingedruckten für den Fall der Pflegebedürftigkeit ausschloss? Fehlerhafte Entscheidungen im jungen und mittleren Lebensalter sind zumeist kompensierbar, im höheren Lebensalter ist dagegen ein Neuanfang oft nicht mehr möglich. Auch eine Beschränkung auf die Feststellung krankheitsbedingter Störungen stößt bei der Begutachtung älterer Menschen auf Grenzen. Sind kognitive Beeinträchtigungen und affektive Veränderungen, die bei Menschen im höheren Lebensalter gehäuft auftreten, „altersentsprechend“ oder sind sie als Zeichen einer cerebralen Erkrankung zu werten?

Bereits in der Sachverständigenkommission zur Psychiatrie-Enquete 1975 wurde die Frage der Notwendigkeit eines „Altersstrafrechtes“ diskutiert, dies letztlich aber nicht für sinnvoll erachtetFootnote 2. Im Gegensatz zum Jugendstrafrecht ließe sich ein Altersstrafrecht kaum sinnvoll abgrenzen, zudem bestünde die Gefahr der Diskriminierung älterer Menschen. Auch steht nicht jede im höheren Lebensalter begangene Tat in einem ursächlichen Zusammenhang mit diesem Lebensalter, wie das Beispiel sexueller Missbrauchshandlungen an Kindern zeigt. Dennoch ist darüber zu diskutieren (und zu forschen), ob die Kriterien zur Beurteilung der Schuldfähigkeit und der weiteren Gefährlichkeit, die bei Menschen jungen und mittleren Lebensalters entwickelt und untersucht wurden, in gleicher Weise auf Straftäter übertragen werden können, die sich im Seniorenalter befinden.

Im Bereich des Zivil- und Betreuungsrechtes besteht ebenfalls ein enger Grad zwischen dem Schutz älterer Mensch vor überzogenen Anforderungen an ihre Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit und einer Stigmatisierung des Alters. Auch ein älterer Mensch hat das Recht auf „unvernünftige“ Entscheidungen, etwa bei der Regelung seines Nachlasses. In welchen Situationen und in welchem Ausmaße sind staatliche Fürsorge- und Betreuungsmaßnahmen tatsächlich erforderlich? Innerhalb der letzten 10 Jahre hat sich die Zahl der unter Betreuung stehenden Menschen nahezu verdoppelt; dabei sind 43% der Betreuten über 65 Jahre und 70% der betreuten Älteren befinden sich in stationärer VersorgungFootnote 3. Diese Zahlen lassen sich auch durch den demografischen Wandel kaum erklären. Der zu erwartende weitere Altersanstieg der Bevölkerung wird es immer dringlicher machen, noch vorhandene Ressourcen der Betroffenen und ihres Umfeldes zu fördern, um die mit dem zunehmenden Alter verbundenen Probleme auch ohne staatliche Rechtsfürsorge zu bewältigen.

Norbert Leygraf, Essen