Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

zum publizistischen Ende des turbulenten Jahres 2021 hin möchten wir Ihnen einen schulterchirurgischen Leckerbissen zum nach wie vor kontrovers diskutierten Thema Massenruptur der Rotatorenmanschette zukommen lassen. Mit Hilfe einer Reihe von international renommierten Kolleginnen und Kollegen aus nah und fern möchten wir ihnen aufzeigen, dass die „Reversomanie“ einer individuellen Betrachtung des Einzelfalls mit einem Schulterchirurgie-à-la-carte-Ansatz gewichen ist. Von der Rekonstruktion mit und ohne Augmentation über verschiedene Sehnentransfers hin zum inversen Gelenksersatz spielen verschiedene patientenspezifische Triagefaktoren eine Rolle bei der Wahl des therapeutischen Vorgehens.

An der Universitätsklinik Balgrist haben wir in den letzten Jahren unter fortlaufender Berücksichtigung der einschlägigen Literatur ein strukturfokussiertes „Menü à la carte“ zur gelenkerhaltenden Versorgung irreparabler Rotatorenmanschettenrupturen implementiert. Dieses findet naturgemäß v. a. bei jüngeren Patientinnen und Patienten Anwendung, wobei auch hier gilt: keine Regel ohne Ausnahme. Als Basis für unsere Vorgehensweise dient die Collin-Klassifikation der Rotatorenmanschettenläsionen. Von anterior nach posterior bedeutet dies: Bei irreparablen isolierten Subscapularisläsionen hat in den letzten Jahren der anteriore Latissimus-dorsi-Transfer den Pectoralis-major-Transfer abgelöst. Die seltene isolierte, irreparable Supraspinatussehnenruptur mit suffizienter anteriorer und posteriorer Rotatorenmanschette stellt für uns eine Indikation für eine „superior capsular reconstruction“ (SCR) dar. Eine posterosuperiore Insuffizienz wird mittels Latissimus-dorsi-Transfer behandelt, wobei hierfür ein intakter Teres minor und eine intakte oder rekonstruierbare Subscapularissehne als Voraussetzung gilt. Eine chronische posteriore Läsion, welche den Infraspinatus und den Teres minor betrifft, wird seit einigen Jahren mittles Lower-Trapezius-Transfer behandelt. Bei allen Augmentationen und Transfers wird zudem versucht, reparable Anteile der Restmanschette so gut wie möglich zu rekonstruieren. In speziellen (Revisions‑)Fällen finden auch Patch-Augmentationen und kombinierte Anwendungen Einzug in das therapeutische Regime. Die Zukunft und die damit verbundene wissenschaftliche Evaluation unseres Algorithmus wird zeigen, wie gut und v. a. nachhaltig unsere Patientinnen und Patienten von dieser Herangehensweise profitieren.

Strukturfokussiertes „Menü à la carte“ zur gelenkerhaltenden Versorgung irreparabler Rotatorenmanschettenrupturen

Nun möchten wir aber die Sicht unserer Leser nicht länger mit unseren eigenen Gedanken obstruieren, sondern unsere hochkarätigen Autoren mit ihren das ganze Spektrum der Rotatorenmanschettenmassenrupturen von der Diagnose bis zur Therapie umfassenden Original- und Reviewartikeln zu Wort kommen lassen.

Der erste Beitrag von Roland Camenzind und Thibaut Lafosse beleuchtet die strukturellen und biomechanischen Unterschiede sowie die vieldiskutierte therapeutische Implikation von Pseudoparesen und Pseudoparalysen im Rahmen von Massenrupturen der Rotatorenmanschette. Danach erläutern Florian Grubhofer und Jon J.P. Warner die Behandlungsoptionen von irreparablen posterosuperioren Rupturen, wie sie in Harvard am Boston Shoulder Institute sowie an der Universitätsklinik Balgrist zum Einsatz kommen.

Da die aktuell weltweit in absoluten Zahlen wohl häufigste chirurgische Therapie der irreparablen Rotatorenmanschettenruptur die inverse Schultertotalprothese darstellt, möchten wir natürlich auch neue Erkenntnisse in diesem Bereich nicht außen vor lassen: In einem weiteren spannenden Reviewartikel geben uns J.D. Werthel und Philippe Valenti ein Update über den aktuellen Stand der Forschung der Inversen Schulterprothetik und gehen hier nicht nur auf biomechanische sondern auch klinische Implikationen ein.

Die inverse Schulterprothetik ist dann auch Thema der ersten zwei Originalarbeiten: Zunächst stellen Phillip Kriechling et al. vor, wie man eine qualitativ hochwertige und für die wissenschaftliche Analyse funktionelle Datenbank für inverse Prothesen aufbaut und welche Aspekte dabei besondere Beachtung finden. Danach präsentiert uns Alexandra Grob in ihrer Arbeit, welchen Einfluss die Außenrotation auf das glenoidale Notching nach inversen Prothesen hat.

In einer weiteren Originalarbeit nehmen die Kollegen um Stefan Braun und Stefan Greiner das Thema der Pseudoparalyse wieder auf und beleuchten den Einfluss der Rupturmorphologie auf die aktive Schulterbeweglichkeit.

Zuguterletzt warten uns Bassem Elhassan et al. mit ihrer Technical Note und Erstbeschreibung der „parachute technique“ für kombinierte irreparable Subscapularis- und posterosuperioren Läsionen einen besonderen schulterchirurgischen „Leckerbissen“ auf.

Wir hoffen, Ihnen mit dieser Ausgabe der Obere Extremität einmal mehr ein interessantes und abwechslungsreiches Lesevergnügen sowie neuste wissenschaftliche „Insights“ zu ermöglichen.

In tiefem Dank an die grandiosen Autoren, das Editorial-Team von OBEX und an Sie, die treuen Leser.

Karl Wieser & Samy Bouaicha