Ziemlich zeitgleich sind drei umfangreichere Publikationen erschienen, die auf unterschiedliche Weise eine Beschreibung und auch Beurteilung der Bildung, genauer: des gesamten Bildungswesens sowie (teilweise) auch des Bildungsdiskurses in Deutschland beabsichtigen. Zwei dieser Publikationen sind gewissermaßen aktualisierte Versionen von Vorgängern, die dritte Publikation hat keinen Vorläufer, besteht aber im Wesentlichen aus einer Sammlung von Essays, die bereits in den letzten Jahren erschienen sind. Insofern sind alle drei Bände sehr aktuell, aber nicht aktualistisch.

  1. 1.

    Olaf Köller, Marcus Hasselhorn, Friedrich W. Hesse, Kai Maaz, Josef Schrader, Heike Solga, C. Katharina Spiess & Karin Zimmer (2019): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Stand und Potenziale. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (UTB). 943 Seiten. ISBN 978-3-38252-4785-0. 29,99€.

  2. 2.

    Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2020): Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung in einer digitalisierten Welt. Gütersloh: W. Bertelsmann Verlag (WBV). 338 Seiten. ISBN 978-3-7639-6130-6. 69,00€.

  3. 3.

    Roland Reichenbach (2020): Bildungsferne – Essays und Gespräche zur Kritik der Pädagogik. Herausgegeben von Rolf Bossart. Zürich: Diaphanes. 328 Seiten. ISBN 978-3-0358-0277-1. 25,00.

1 Das Standardwerk – aktualisiert

Unter dem Titel „Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen“ ist dieser Band unter der Ägide des Max Planck Instituts für Bildungsforschung zum ersten Mal 1979 erschienen und dann kontinuierlich in weiteren Neuauflagen bzw. Neuausgaben (z. B. 1994, 2003, zuletzt 2008). Die aktuelle Neuausgabe von 2019 (ausgeliefert November 2019) mit dem Titel „Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale“ ist unter Führung des Leibniz Education Research Network (LERN) erstellt worden. Diesem 2012 gegründeten Forschungsverbund gehören 16 Institute der Leibniz-Gemeinschaft sowie sieben weitere Forschungsinstitute in Deutschland und Luxemburg an. Die Neuausgabe erscheint nicht mehr wie ihre Vorgänger als Taschenbuch (bei Rowohlt), sondern in einem stark erweiterten Umfang bei Klinkhardt in der UTB-Reihe. Die Leitung durch LERN bedeutet keinen konzeptionellen Wechsel, denn die Grundidee und auch die Grundstruktur der früheren Bände wurden im Prinzip beibehalten, aber auch deutlich aktualisiert, erweitert und weiterentwickelt.

950 Seiten über das deutsche Bildungswesen, und zwar zu seinen Rahmenstrukturen sowie zu den verschiedenen Stufen oder Phasen, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich in ihrem Bildungsweg und Lebenslauf durch das Bildungswesen bewegen: Von der Familien- und Früherziehung (Elementarbereich) über die Grundschule (Primarstufe), die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II mit Gymnasialer Oberstufe bzw. beruflichem Bildungssystem, dem Hochschulsystem und dem berufsbegleitend-lebenslangen Weiterbildungssystem bis hin zur Altenbildung. Den Schluss bildet ein Kapitel über die Formen und Folgen der Digitalisierung im Bildungssystem. Ein Glossar, ein Abkürzungsverzeichnis und ein ausführliches Stichwortverzeichnis (56 Seiten!) machen den umfangreichen Band zugänglich und als gezielt zu nutzende Informationsquelle für Leser gut handhabbar.

In diesem Übersichtsbericht zum Bildungswesen 20 Jahren nach dem vielzitierten „PISA-Schock“ von 2000 zeigen sich in eindrucksvoller Breite die Entwicklungen im Bildungswesen selbst, vor allem aber auch die Entwicklung der empirischen Bildungsforschung: In dem Band wird das Bildungssystem von seinem gesellschaftlichen Auftrag her gesehen, und dieser Auftrag wird mit den Begriffen der Ermöglichung von Teilhabe, der Förderung von Potenzialen, der Qualifizierung und Modernisierung der Lern- und Bildungsprozesse der Individuen und Gruppen in Abstimmung zu den sich wandelnden Anforderungen für Gegenwart und Zukunft betrachtet. Der Beitrag der Bildungsorganisationen und -prozesse auf allen Stufen zu einer Vorbereitung der Individuen auf weitere Bildung im Bildungs- und Berufssystem und für kompetente Teilhabe an der modernen Gesellschaft ist der leitende Motivkomplex. Auffällig ist, dass spezielle pädagogische Programmatiken und/oder gesellschaftspolitische oder gesellschaftsverändernde Reform- und Änderungsvorstellungen kaum oder nur am Rande oder als Relikte früherer Epochen der Schul- und Bildungsgeschichte behandelt werden. Die einzelnen Beiträge sind dementsprechend gar nicht oder nur sehr knapp historisch ausgerichtet; die Geschichte der Schule und des Bildungsdenkens in Deutschland wird jedoch in einem umfangreichen ersten Kapitel von Heinz-Elmar Tenorth ausführlich, informativ und mit der analytischen Distanz des Historiker-Blicks dargelegt.

Die leitende Vorstellung über die Arbeitsweise des Bildungssystem ist im Wesentlichen von einer in der empirischen Forschung schon recht betagten Grundidee bestimmt: Rahmenbedingungen bestimmen die inneren Prozesse im Bildungswesen, und diese Prozesse führen zu bestimmten Auswirkungen bzw. Folgen. Allgemeiner: Bestimme Voraussetzungen sachlicher, personaler finanzieller und intellektueller Art vor und im Bildungswesen führen zu institutionalisierten und programmgesteuerten Lehr‑, Lern‑, Bildungs- und Sozialisationsprozessen, die bei den Individuen und Gruppen, Kohorten etc. zu kurz und langfristigen Wirkungen führen: Lernergebnisse, Bildungsaspirationen, Übergängen, Berufslaufbahnen, politische Haltungen etc. Die kann man beschreibend zur Kenntnis nehmen. Für die erwünschten Lernergebnisse sind mittlerweile an strategisch wichtigen Stellen im Bildungswesen Standards eingeführt, deren Erreichen kontrolliert und dokumentiert wird.

Gegenüber den früheren Berichten hat sich in dieser Ausgabe die nach PISA vollzogene Orientierung an Qualitätskontrolle durch Überprüfung des tatsächlichen Grades der Erreichung definierter Standards sehr stark durchgesetzt. Pointiert formuliert: Früher wurden von der Bildungsdiskussion und -reform, z. T. von der Bildungsforschung unterfüttert, komplexe weitgespannte Hoffnungsbilder entworfen – und wenig darauf geachtet, ob diese auch tatsächlich umgesetzt wurden (Gab es Mängel in der Umsetzung, spornte dies den Reformgeist an!). Heute dominieren beim Blick auf das Bildungswesen Nüchternheit und der realistische Blick. Es geht um die Frage, inwieweit definierte Standards auch tatsächlich erreicht werden, und es geht um die Frage, welche Folgen mehr oder weniger erfolgreiche Teilhabe an Bildung, Ausbildung und Qualifizierung für den Einzelnen, für bestimme Gruppen und Kohorten haben.

Hinsichtlich der Konsequenz (oder Starrheit?), mit der diesem Blick auf das Bildungswesen in den einzelnen Beiträgen gefolgt wird, gibt es durchaus Unterschiede: Mal hängt man noch sehr am Bedingungen → Prozesse → Wirkungen-Modell; mal wendet man sich von einer solchen betriebswirtschaftlich-produktionistischen Orientierung ab und geht über zur (immer noch ökonomischen) Metaphorik von Angebot an Bildung auf der einen Seite und den (selbstbestimmten) Nutzungen durch die Lernsubjekte auf der anderen Seite, die dann zu feststellbaren und bewertbaren Wirkungen führt. Einfache Machbarkeitsvorstellungen werden zunehmend ersetzt durch komplexere Modelle, die nicht nur Wahrscheinlichkeiten, sondern eben auch Unwägbarkeiten der Abläufe, Eigendynamiken der beteiligten Institutionen sowie Eigenwilligkeiten der handelnden Menschen in Rechnung stellen. Auf Basis solcher Modelle wird die Analyse-Arbeit nicht leichter, und die Ergebnisse werden immer weniger plakativ, sondern differenzierter. Das ist sicher ein Gewinn.

Auffällig ist, dass an praktisch keiner Stelle das eigene Paradigma der empirisch-quantitativen Bildungsforschung in seinen Grundlagen und Grenzen erörtert wird. Lediglich in dem Beitrag über die Qualitätsentwicklung (von Juliane Grünkorn, Eckhard Klieme und Petra Stanat) wird auf forschungsmethodologische Konfliktlagen und bildungspolitische Kontroversen eingegangen – auf eineinhalb Seiten (286/287). Spätestens jetzt muss auch erwähnt werden, dass die Herausgeber den gesamten intellektuellen Komplex der inhaltlichen Programmatik des Bildungswesens in Deutschland, die Bedeutung des Bildungsprinzips in Vergangenheit und Gegenwart etc. gewissermaßen an den entsprechend breit angelegten, bereits erwähnten Beitrag von Tenorth delegiert haben. Hier kommt das Allgemeine, das Programmatische dessen, was in deutschen Landen Bildung und v. a. schulische Bildung war und ist, in genauer analytischer Perspektive und – eben weil es analytisch-beobachtend gehalten ist – in eindrucksvoller Weise zum Vorschein und zum Tragen, um dann aber auf den folgenden 800 Seiten eher nicht mehr vorzukommen.

Sehr positiv und beeindruckend ist das Ausmaß an Datensättigung, das in allen Beiträgen von der ersten bis zur letzten Seite durchschlägt, natürlich als Konsequenz der eingangs beschriebenen empirisch-quantitativen Gesamtorientierung, 20 Jahre nach PISA. Die Differenziertheiten des Weiterbildungssystems, die Verzwicktheiten der länderspezifischen, sich manchmal jährlich ändernden Oberstufen- und Abiturreglements: sie werden erschreckend deutlich, und ihre geplanten und ungeplanten Effekte werden wo immer möglich datengestützt aufgezeigt. Hinsichtlich der Datenbasiertheit und Differenziertheit sind sehr positive Weiterentwicklungen gegenüber früheren Ausgaben festzustellen. Beispielhaft wird dies etwa in dem Beitrag zur Lehrerbildung (von Sigrid Blömeke) sowie auch in dem Beitrag bzw. Abschnitt über Lehrerfortbildung (von Josef Schrader, Yvonne Anders und Dirk Richter, konsequenterweise im Teil über Weiterbildung platziert) deutlich: In damaligen ersten Beitrag zur Lehrerbildung (im Band von 2003) konnte nur über äußerst wenig empirische Forschung zu Verlauf und Auswirkungen von Erstausbildung in Universität und Referendariat berichtet werden, geschweige denn über Formen und Wirkungen von Fortbildung. Das sieht heute ganz anders aus! Dank der stürmischen Entwicklung der Lehrer(bildungs)forschung in den letzten Jahrzehnten kann heute sehr differenziert, erfahrungs- und datengestützt und auch international vergleichend auf Lern- und Entwicklungsprozesse während und nach der Lehrerbildung verwiesen werden: Auf solche, die gemäß dem Auftrag der Lehrerbildung zustande kommen, aber auch auf solche, die eben trotz mancher Reformanstrengungen eben nicht oder nur in Ansätzen zustande kommen …

Drei weniger überzeugende Elemente in diesem Band möchte ich benennen, zwei inhaltliche und ein eher äußeres, aber folgenreiches: Einige der statistischen Zusammenstellungen und empirischen Forschungsergebnisse reichen gerade mal bis maximal 2015 oder 2016; die ganz große Mehrheit endet in früheren Jahren. Angesichts der raschen Entwicklungen gerade in den letzten Jahren ist das z. T. etwas misslich (In der Einleitung heißt es, dass einige Beiträge bereits 2016 abgeschlossen wurden). Ebenso muss erwähnt werden, dass in praktisch allen Beiträgen kaum auf historische Entwicklungen, Phasen, Entstehungsprozesse zurückgegriffen oder hingewiesen wird. Man hat manchmal den Eindruck, als ob für mache AutorInnen die Bildungsforschung (das Bildungswesen?) erst etwa um 2000 gestartet sind … Zu einem kritikwürdigen äußeren Merkmal: Das Tabellenmaterial und die Graphiken sind für den Band inhaltlich tragend, zugleich sind sie sehr klein gesetzt. Viele Graphiken, Diagramme etc. müssen bei hellstem Licht und mit der Lupe in der Hand entziffert werden, auch deshalb, weil sehr oft bei den verschiedenen Säulen, Tortenstücken etc. drei bis vier nur schwach abgestufte Grautöne zu unterscheiden sind. Das hätte man besser machen können, machen müssen! Allerdings ist dies auch eine Kostenfrage, und hier ist wiederum positiv hervorzuheben, dass der knapp tausendseitige Band für 30 € wirklich sehr günstig ist.

Fazit

Dieser Band ist ein informationsreicher Band für Studierendende, Lehrende und sonstige Experten in den Bildungswissenschaften, in den Bildungsbürokratien und für sonstige am Bildungswesen interessierten Personen, die sich über den aktuellen Stand der empirisch-quantitativen Bildungsforschung zum Bildungssystem in Deutschland informieren wollen. Es ist ein interdisziplinärer Band. Eine mono-disziplinäre Gruppe von Soziologen oder Ökonomen oder Psychologen oder Erziehungswissenschaftlern alleine würde selbstverständlich ähnliche Themen behandeln – es gibt nur ein Bildungswesen in Deutschland –, aber andere Akzente setzen, andere Methodiken der Analyse verwenden und auch (andere) Horizonte der Bewertung eröffnen. Das bedeutet: Man kann natürlich auch wissenschaftlich seriös in anderer Perspektive, in anderer Weise eine solche Übersicht über Bildung in Deutschland herstellen; zum Glück liegen auch solche Arbeiten in hoher Qualität vor.

2 Der aktualisierte Standard-Bericht: Bildung in Deutschland 2020

Der Bildungsbericht der „Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung“ erscheint (seit dem Start im Jahre 2008) zum achten Mal; diese kontinuierliche Berichtlegung ist ein Element im insgesamt breiter angelegten System des Bildungsmonitorings, das von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesbildungsministerium gemeinsam verantwortet wird.Footnote 1 Von seiner grundlegenden Anlage und seiner wissenschaftlichen Methodik her ist er genau wie der zuerst besprochene Band der empirischen Bildungsforschung zuzurechnen; vier Autorinnen und Autoren sind in beiden Bänden vertreten (Olaf Köller, Kai Maaz, Hans-Günther Rossbach, Josef Schrader). Wie seine Vorgänger, so liefert auch dieser Bericht die aktuellsten Daten und Indikatoren zum gesamten Bildungssystem, wobei wie in den vergangenen Jahren auch diesmal ein besonderer thematischer Schwerpunkt gesetzt wurde. Es wundert nicht, dass auch hier dieser aktuelle Schwerpunkt das Thema Digitalisierung ist. Der aktuelle Bildungsbericht folgt im Wesentlichen der Struktur früherer Berichte: Veränderte Rahmenbedingungen und Grundinformationen, Frühe Bildung, Allgemeinbildende Schulen, Berufliche Bildung, Hochschulen, Weiterbildung, Bildung in der digitalisierten Welt (neu!), Erträge von Bildung. Auch hier also die Orientierung an der Bildungsbiographie von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, größtenteils institutionalisierte Bildung, aber auch, wenngleich schmaler, non-formale Lernwelten.

Im Vergleich zu dem Standardwerk von Köller u. a. ist dieser Band aktueller und (noch) stärker datenbasiert, d. h. er präsentiert Daten und Analysen bis in das Jahr 2018 hinein, er ist in manchem noch einmal differenzierter, zum Beispiel beim Blick aus sozialräumliche Unterschiede, und er ist von seiner Aufmachung her sehr viel besser zu lesen: die Tabellen und Graphiken sind leserfreundlich bunt – und nicht leicht dunkelgrau-mittelgrau-leicht hellgrau … Das ist kein unwichtiges, bloß äußerliches Merkmal, denn auf den ca. 330 Seiten finden sich wohl hunderte von Tabellen und Graphiken. Im Text wird auf weitere zahllose Tabellen etc. verwiesen, die über QR-Codes im Netz abgerufen werden können, so dass eine wirklich erstaunliche Tiefenschärfe in der Datengrundlage entsteht. Diese aufwändige Gestaltung bleibt nicht ohne Folgen: Die Papierversion des Berichts kostet immerhin 69,00 €; er steht jedoch zugleich offen im Netz.

Der Band beinhaltet die Zusammenstellung aktuellster empirischer Daten zum Bildungssystem von der frühen Bildung bis zur beruflichen Weiterbildung. Dabei wird vom allgemeinsten ausgegangen (Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur, Bildungsausgaben, Bildungsregionen) bis hin zu kleinsten, z. T. mikroskopischen Detail-Statistiken in einzelnen Feldern bzw. Problemzonen. Auf einer allgemeinen Ebene werden einige große Trends gekennzeichnet:

  1. 1.

    Die Expansion höherer Bildung hat aktuell nicht weiter zugenommen; der Anteil der Abgänger ohne Schulabschluss ist jedoch wieder gestiegen.

  2. 2.

    Die Unterschiede zwischen den Regionen (Stadt/Land) werden wieder größer.

  3. 3.

    Kontinuierliches Weiterlernen im Beruf ist in allen Sparten und auf allen Berufsebenen von weiterhin wachsender Bedeutung.

  4. 4.

    Insgesamt ist die Digitalisierung im Bildungssystem noch nicht hinreichend auf- und ausgebaut.

  5. 5.

    Bildung und Weiterbildung haben positive Auswirkungen auf die Möglichkeiten der individuellen, selbstbestimmten und produktiven Lebensgestaltung im weitesten Sinne.

Insgesamt ist es erstaunlich, mit wie viel aktuellen statistisch untermauerten Wissen heute die Bildungsforschung bzw. die dahinterstehenden Wissenschaften präsentieren können. Möglicherweise hat dieser immer genauere, immer detailliertere Blick allererst deutlich werden lassen, dass die regionalen Unterschiede wieder wachsen und auch die sozialen Disparitäten nicht verschwinden, sondern sich in Verbindung mit den räumlich-regionalen Unterschieden sogar noch verstärken. Dieses, verglichen mit früheren Jahrzehnten, sehr stark angewachsene Wissen über den Zustand des Bildungssystems in einer bislang so nicht erreichten Tiefenschärfe und Längsschnittlichkeit ist überzeugend und beindruckend. Das ist sicher auch ein Effekt der politisch gewollten Etablierung und der intensiven finanziellen Förderung der entsprechenden Forschung bzw. Forschungsinstitutionen innerhalb und außerhalb der Universitäten.

Über institutionalisierte Bildung (Bedingungen und Ergebnisse des Lernens, Abschlüsse, Übergänge, Auswirkungen im Lebenslauf etc.) weiß man nun wirklich mehr, und das zuverlässiger, detaillierter, prozessbezogener. Doch: Je detaillierter und genauer das Bild wird, desto mehr neue und noch nicht hinreichend erforschte, offene Fragen tauchen auf. Das ist die altbekannte Tatsache: Mehr Forschung erzeugt sofort den Ruf nach noch mehr Forschung. Das ist normal und folgt allgemeinen innerwissenschaftlichen Erkenntnisimperativen. Ob man auf der Basis des verbesserten Wissens auch bessere politische Entscheidungen treffen und umsetzen kann, ist jedoch durchaus fraglich. Aber das ist ein anderes Thema.

Fazit

Verglichen mit dem aktualisierten Standardwerk von Köller u. a. ist der Band „Bildung in Deutschland 2020“ gezielter auf die aktuelle Situation bezogen, also (noch) weniger historisch, er ist in der Datenbreite und -tiefe differenzierter, und er ist stärker an sozialräumlichen Unterschieden orientiert. Er ist zudem (noch) weniger an den Mikroprozessen des Lehrens und Lernens auf der Interaktions- und Erfahrungsebene der Akteure ausgerichtet, sondern eher an Struktur- und Prozessdaten auf höherer Aggregationsebene.

3 Der kritische Blick oder: Wer ist hier eigentlich bildungsfern?

Beide bisher besprochenen Bände folgen dem Paradigma der empirischen Bildungsforschung und betrachten institutionalisierte und zunehmend auch nicht-institutionalisierte Bildung im Lebenslauf unter dem Gesichtspunkt der tatsächlich eintretenden, genauer: der durch die Datenerhebungs‑, Mess- und Analyseinstrumente der empirischen Bildungsforschung gegenwärtig erkennbaren Wirkungen im Lebenslauf von Individuen, Gruppen, Kohorten. „Bildung“ als Begriff deckt gewissermaßen den qua Forschung erfassten Prozess der Inkludierung nachwachsender und erwachsener Generationen in ein sich änderndes nationalstaatliches und zunehmend weltgesellschaftliches Kultur- und Anforderungsgefüge ab. Wer jedoch warum welche Anforderungen an das Bildungswesen, an individuelle Bildung stellt, wer legitime von problematischen Anforderungen unterscheidet, wer definiert, was eigentlich eine gelungene Form von Bildung auf individueller und kollektiver Ebene ist oder sein kann, das wird in den Bänden nicht erörtert. Stehen solche Fragen im Raum, wird pauschal auf weltgesellschaftliche Wandlungsprozesse und politische oder zivilgesellschaftliche Entscheidungsträger verwiesen. Natürlich wird mit diesem Fragenspektrum ein gesellschafts- und bildungspolitisches, ein philosophisches, ein offenes Gelände betreten, dass jedoch von den Vertreterinnen und Vertretern der empirischen Bildungsforschung im Forschungsalltag gerne dem vereinfachenden Warnruf „Achtung: Normativ!“ gekennzeichnet – und ängstlich gemieden wird.

Mit den gesammelten Essays und Interviews des Züricher Erziehungswissenschaftlers Roland Reichenbach liegt eine Publikation vor, die sehr gut und kurzweilig in genau dieses von der empirischen Bildungsforschung gemiedene Gelände hineinführt – ohne dass man am Ende jedoch zu einem definierten Punkt geführt wird. In Reichenbachs Essays werden die empirische Bildungsforschung und deren Wachstumskurve auf ihre unabgegoltenen, unexplizierten, verschatteten Seiten und Folgewirkungen hin befragt. Dabei wird von Reichenbach und Bossart (Lehrbeauftragter an der PH St. Gallen) ein breites Spektrum an bildungs-, sozial- und allgemein-philosophischen Themen behandelt, berührt, gestreift: Bildungsanstrengung und -verweigerung, Schmalz, Schwulst … und Bildung, Fehler und Scheitern in Bildung und Bildungsforschung, Menschen als dilettantische Subjekte, Theorielosigkeit in Teilen der Erziehungswissenschaft, Authentizität und (notwendige) Künstlichkeit im Unterricht, Kompetenz- und Inkompetenztheorien, träges und schnelles Wissen, und immer wieder: politische Bildung und demokratisches Selbst. Wahrlich ein breites Spektrum! Der Begriff der „Bildungsferne“ verliert seine Skandalträchtigkeit, sondern erscheint umgekehrt als eine Art positiv gewendete Chiffre für Unfertiges, Unperfektes, Unvollständiges, Unerreichbares, Unabgegoltenes, … Und das genau ist interessant! Zumindest wird man als Leserin und Leser zu einer gelassenen Abkehr von denjenigen Hochglanz- und Perfektionsvokabeln ermuntert wird, die spiegelbildlich hinter diesen und ähnlichen Un-Worten stehen.

Empirische Bildungsforschung beschreibt die Situation der sogenannten „bildungsfernen“ Milieus sowie die Folgen von Bildungsferne im Lebenslauf sicherlich immer präziser. Das war schon immer eine ihrer Aufgaben, eine ihrer Stärken; Bildungsungleichheit sowie auch und vor allem deren Folgen, die „Bildungsarmut“ bestimmter Milieus, ist nicht nur extrem hartnäckig, sie wird mittlerweile auch immer genauer beschrieben und analysiert.Footnote 2 Reichenbachs Pointe ist jedoch eine andere, sie ist allgemeiner und schärfer: Bildungsforschung bleibe aufgrund ihrer selbstgewählten Theorie- und Methodenimperative selbst bildungsfern, fern von Bildung im eigentlichen Sinne. Sie schaue systematisch an den wichtigsten, spannendsten und ‚eigentlichen‘ Aspekten von Bildung vorbei.

Reichenbach legt ein gebrochenes Verständnis von Bildung zugrunde, dass sich eher auf Lücken, Zwischenräume, Unerreichbarkeiten, Nicht-Perfektes bezieht. Insofern bleibt für ihn Bildung immer irgendwie ‚das ganz Andere‘, und es stellt sich die Frage ob wir alle nicht am Ende und unausweichlich in dieser oder jener Hinsicht zu „Bildungsferne“ verdammt sind. Reichenbach kritisiert pädagogische, erziehungswissenschaftliche sowie bildungsforscherische Denkkontexte, in denen diese Uneinholbarkeit verkürzt, unterschlagen, umgangen, begradigt, vereinfacht, trivialisiert und verkitsch wird. Es ist eher eine Kritik der eingespielten Denkverhältnisse und Rhetoriken, die über den tatsächlichen Bildungsverhältnissen in Schulen, Universitäten etc. schweben, sie verklären, verzeichnen, verpassen, verkürzen, verdunkeln.

Man muss allerdings auch sagen: Die Wirklichkeit in den Bildungsinstitutionen kommt in den Essays nur eher punktuell und allenfalls in einigen erhellenden oder untermauernden Beispielen, Fällen etc. vor. Eher ist das Reden und Theoretisieren über Bildung der Gegenstand der Essays und Gespräche. Gleichwohl ist das Ganze anregend, transparent und vielfach überzeugend. Allerdings: Reichenbach entwickelt keine Gesamtsystematik – der Anspruch allein käme ihm vermutlich vermessen und irgendwie perfektionistisch (und also problematisch) vor. Seine Arbeitsweise ist eher assoziativ; manchmal würde man sich wünschen, er wäre länger und ausführlicher bei einem besonders spannenden Gedanken bzw. Thema geblieben. Auf seine Weise ist der Text bildungsfern und bildungsnah zugleich. Am Ende ist dies nicht zu entscheiden, denn wenn man Reichenbach konsequent zu Ende denkt, richtet ich jede Person oder Institution, die Bildung thematisierte oder mit ihr zu tun hat, in ihrer je spezifischen Form von Bildungsferne ein.

Fazit

Nach der Betrachtung zahllosen Ergebnisse der aktuellen empirischen Bildungsforschung, die eine immer differenzierteres Bild einer am Ende sehr unübersichtlichen Bildungslandschaft zeichnet, sollte man kontrapunktisch immer mal wieder in Reichenbachs Band lesen, auch deshalb, um Distanz zu den Datengebirgen zu gewinnen und ein breiteres Panoramabild aufzubauen.

4 Blick zurück

Insgesamt kommen in den zwei Bänden zur empirischen Bildungsforschung die Perspektive der Schüler und Lehrer recht wenig zum Zuge. Der Bildungsforschung geht es um das Gesamt an Bildungsangeboten und deren Folgen für Individuen und Gesellschaft. „Bildung“ ist in diesen Bänden eher fokussiert auf Lernen, Kompetenzen, auf Weiterlernen, auf das Erreichen oder Verfehlen von definierten Standards, auf die Frage nach den Wirkungen gelingenden bzw. misslingenden Lernens und sich Qualifizierens im Lebenslauf. Außerschulische Jugendkulturen, eigen-willige Selbstbildung, abweichende Sozialisation im weitesten Sine, auch misslingende Sozialisation u. Ä. kommen im Grunde nicht vor. Bildungsforschung ist nicht Sozialisationsforschung. Ebenso ist anzumerken, dass die Ebene des Unterrichts, die direkte Interaktion zwischen den Teilnehmenden, die individuelle und sozial geteilte Auseinandersetzung mit den vermittelten und anzueignenden Inhalten und Erfahrungen nicht zum Zuge kommt. Bildungsforschung ist nicht Unterrichtsforschung.

Gegenüber der Perspektive der empirischen Bildungsforschung wird von Reihenbach eine auf Bildung und Erziehung gerichtete, pädagogische Sichtweise nach vorne gebracht – und zugleich und sofort in ihren Möglichkeiten realistisch-skeptisch-gebrochen (nicht: zynisch!) eingeschätzt. Für analytisch-empirische Bildungsforschung ist Bildung ein dauerndes Optimierungsproblem, für den skeptischen Bildungsphilosophen bleibt immer die strukturelle Kluft zwischen erzieherischer Absicht und eintretenden Wirkungen bestehen; sie muss bestehen bleiben, soll das Ganze als pädagogisch angesehen werden können. Erziehung und Bildung realisieren sich immer gebrochen; am Ideal aber soll festgehalten werden. Vergeblichkeitserfahrung ist diesem gelehrten pädagogischen Denken nicht fremd und wohl inhärent; sie deckt sich übrigens mit Erfahrungen von Eltern, Erziehern, Lehrern, Bildungspolitikern. Reichenbach zufolge sollte man diese Erfahrung nicht als Belastung oder Defizit sehen; sie sei konstitutiv für pädagogische Kontexte.

Für den Arbeitsalltag von Bildungsexpertinnen und -experten empfehle ich, sich den Band „Das Bildungswesen in Deutschland“ als Übersichtswerk direkt auf den Schreibtisch zu stellen. Daneben platziere man als eine Art Tabellenwerk den Band der AG Bildungsberichterstattung (oder lade ihn sich auf den PC). Zusammen ist das viel Stoff. Guter Stoff. Man braucht ein Gegengift. Das liefert passgenau der Band von Reichenbach. Deshalb sollte er gleich zu den beiden anderen Bänden gestellt werden.