1 Einleitung

Aus einer strukturfunktionalistischen Perspektive bildet die Integration der Mitglieder einer Gesellschaft die Voraussetzung für den dauerhaften Bestand ihrer Institutionen (Parson 1967). Fend (2006) konkretisiert dieses Theorem, indem er die Integrationsfunktion der Institution Schule in Bezug auf politische Institutionen näher beschreibt. Demnach ermöglicht Schule – der Idee nach – nicht nur ein kognitives Verständnis von gegenwärtiger Politik, sondern leistet auch einen Beitrag zur Zustimmung für die Normen und Werte, die politischen Institutionen zu Grunde liegen, sowie zum Vertrauen in die „reale politische Kultur“ (Fend 2006, S. 47). Da Schulsysteme ursprünglich nationalstaatlich orientiert waren (Osterhammel 2009), bezog sich die Integrationsfunktion auf nationale Gesellschaften. Schon Fend macht jedoch darauf aufmerksam, dass die zunehmende Internationalisierung von Politik es erforderlich macht, Integration auch aus einer internationalen Perspektive zu betrachten (Fend 2006, S. 52). Für Schulsysteme in Europa ist dabei die Europäische Union (EU) in ihrer supranationalen Verfasstheit von besonderer Bedeutung (Lawn und Grek 2012). Dies begründet sich nicht nur daraus, dass europäische Politik durch die Schüler*innen als spätere Wähler*innen künftig mitbeeinflusst werden kann. Weiterhin begründet sich die besondere Bedeutung europäischer Politik aus der europäischen Bürgerschaft und den vielfältigen Regelungen der EU, die den Alltag beeinflussen. Nicht zuletzt ergeben sich durch europäische Förderprogramme zur schulischen und professionellen Mobilität konkrete Handlungsmöglichkeiten für Schüler*innen und Lehrer*innen (PAD 2019). Vor diesem Hintergrund wendet sich der Artikel der Frage zu, inwiefern schulische Erfahrungen und das in Schule vermittelte, konzeptionelle politische Wissen zu einer europäischen politischen Kultur beitragen. Zu diesem Zweck werden Dimensionen politischer Unterstützung konzeptualisiert und die Anwendbarkeit dieser Konstrukte auf die jugendliche Zielgruppe anhand empirischer Analysen auf Grundlage repräsentativer Daten der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) 2016 international vergleichend überprüft. Darauf aufbauend wird die Frage der Bedeutung des schulischen Kontextes differenziert für die unterschiedlichen Dimensionen politischer Unterstützung untersucht.

2 Theorie und Forschungsstand

2.1 Die Bedeutung politischer Unterstützung für die Persistenz politischer Systeme

Der dauerhafte Erhalt eines sozialen Systems bedingt seine Anpassung an sich wandelnde Kontexte und Ansprüche seiner Mitglieder (Parson 1967). Daraus resultiert für die Institution Schule die Herausforderung, sowohl zur Stabilität als auch zur Veränderung beizutragen. Diese soziologische Aussage spiegelt sich im pädagogischen Diskurs in der sogenannten Autonomieantinomie (Helsper 1996), der zufolge Schule durch die doppelte Verpflichtung gekennzeichnet ist, einerseits ein vorgegebenes Regelsystem umzusetzen (Stabilität) und andererseits die Selbstbestimmung der Schüler*innen (mögliche Veränderung) zu fördern. Der Gegensatz lässt sich mithilfe der politischen Kulturforschung weiter ausdifferenzieren (Pickel und Pickel 2006). Diese befasst sich in Theorien zur politischen Unterstützung mit der Frage, in welcher Weise individuelle politische Orientierungen bedeutsam sind für Stabilität und Veränderungen im politischen Prozess (Easton 1975). Fuchs (2002, S. 37) unterscheidet für Demokratien dabei Einstellungen gegenüber den drei Dimensionen Kultur, Struktur und Prozess. In der Kulturdimension beziehen sich demokratische Werte auf die Persistenz des übergeordneten Systems, der Strukturdimension ordnet er Einstellungen gegenüber der institutionalisierten Form der Demokratie zu. Während gegenüber der kulturellen und strukturellen Dimension normative (diffuse) Orientierungen dominieren, die stark durch Sozialisation beeinflusst werden, überwiegen in der Prozessdimension instrumentelle (spezifische) Orientierungen, die als Einstellungen gegenüber dem konkreten Handeln von politischen Akteuren stärker die Performanz der Entscheidungsträger*innen berücksichtigen. Fuchs geht davon aus, dass diese unterschiedlichen Einstellungen interdependent, hinsichtlich ihrer systemischen Konsequenzen aber verschieden sind.

Eine breite und dauerhafte grundlegende Identifizierung mit der politischen Gemeinschaft und Unterstützung von demokratischen Grundwerten ist zentral für die Persistenz des demokratischen Systems (Abb. 1). Eine größere Variabilität der Unterstützung in der Prozessdimension ist dagegen insoweit funktional, wie hierdurch Amtsträger*innen und Institutionen zur Rechenschaft gezogen und Weiterentwicklungen und Reformen angestoßen werden können. Systemische Konsequenzen führen dann zu einer veränderten Situation, der sich politische Orientierungen anpassen können.

Abb. 1
figure 1

Modell politischer Unterstützung in Demokratien nach Fuchs (2002, S. 37)

Vertrauen in Institutionen nimmt in dieser Kategorisierung eine Zwischenposition ein (Fuchs et al. 2002), kann aber am ehesten der Strukturdimension zugeordnet werden. Es entspricht der generalisierten Überzeugung, „that the political system (or some part of it) will produce preferred outcomes even if left untended“ (Easton 1975, S. 447 f.) und speist sich sowohl aus Aspekten der Sozialisation als auch aus generalisierten Erfahrungen mit dem System und den darin handelnden Akteuren. Insofern geben Aussagen zum Vertrauen Auskunft über die Responsivität des politischen Systems.

Norris (1999, 2011) entwickelt hierauf aufbauend die Theorie des „critical citizen“, um zu erklären, wann und wie demokratische Systeme von einer Dynamik des Vertrauens und Misstrauens in politische Institutionen profitieren. Stärker als andere nimmt sie dafür die individuellen Bedingungsfaktoren politischer Unterstützung in den Blick: Allgemeine Bildung und das Verständnis für politische Prozesse sind in ihrer Konzeption Schlüsselfaktoren, weil sie zum einen zu einer stärkeren Unterstützung demokratischer Werte beitragen, zum anderen eine genauere kritischere Bewertungen der politischen Performanz ermöglichen, die die Responsivität von Systemen stärken können (Norris 2011, S. 24 ff.). Die Annahme, dass mit einer Zunahme des Bildungsniveaus politische Prozesse sach- und wertangemessener beurteilt werden können, wird durch Analysen internationaler Surveys gestützt, nach denen Probleme mit Korruption in einem politischen System insbesondere mit einem Entzug des politischen Vertrauens bei Befragten mit hoher Bildung einhergeht (vgl. im Überblick Mayne und Hakhverdian 2017).

Demgegenüber betonen Theorien zum sozialen Kapital die Bedeutung allgemeinen sozialen Vertrauens, welches durch konkrete soziale Erfahrungen der Kooperation erwächst. Die gewachsene Erwartung kooperativen Verhaltens schafft danach die Basis, um kollektive politische Institutionen als legitime Repräsentation wahrzunehmen, während Menschen mit sozialem Misstrauen dazu tendieren, die Legitimität der Intentionen anderer anzuzweifeln (Dellmuth und Tallberg 2018, S. 3). Generalisiertes Vertrauen erweise sich als grundlegend für die Entwicklung politischen Vertrauens und damit für den Bestand von Demokratie (Flanagan 2013; Putnam 1993).

2.2 Anwendung der Theorie politischer Unterstützung auf die Europäische Union

Die Theorie der politischen Unterstützung wurde für die Analyse der politischen Kultur in demokratischen Nationalstaaten entworfen; deshalb stellt sich die Frage, inwiefern sie auf supranationale Einheiten wie die EU übertragbar ist. Zunächst ist festzuhalten, dass nicht alle Merkmale und Prinzipien von demokratischen Nationalstaaten, wie beispielsweise das der gleichen Wahl, im Kontext der EU Anwendung finden (Neyer 2012). Gleichwohl können sich aus der supranationalen politischen Organisation spezifische Effekte ergeben, die eine instrumentelle Legitimation dieser spezifischen europäischen Regierungsform erlauben (Bach 1993; Neyer 2012). Dazu lässt sich zum einen benennen, dass supranationale politische Koordinierung ermöglicht, transnationale Probleme jenseits der Grenzen des Nationalstaats zu lösen, wie z. B. Probleme der Umweltverschmutzung. Zum anderen wird es möglich, individuelle Rechte auch gegen die Gesetzgebung von Einzelstaaten abzusichern, wie z. B. beim Kündigungsschutz von Richter*innen. Durch die Übertragung politischer Kompetenzen auf die supranationale Ebene kann also ein Mehr an Problemlösefähigkeit, individuellen Rechten und Demokratiepersistenz gewonnen werden. Freilich kann dies auf Dauer nur dann geschehen, wenn auch die Supranationalität politische Unterstützung findet; das heißt konkret, wenn eine europäische politische Kooperation als Wert Zustimmung findet, wenn sich Vertrauen in die Prozesse der europäischen politischen Institutionen bildet und wenn die tatsächlichen Effekte der EU als politischer Akteur positiv bewertet werden.

Aus zwei Gründen erscheint es dabei angemessen, die politische Unterstützung der EU durch ihre Bürger*innen auf der Ebene der Nationalstaaten oder regionaler/lokaler Ebene zu betrachten (Tausendpfund 2013). Erstens ist die politische Öffentlichkeit nach wie vor überwiegend nationalstaatlich organisiert. Zweitens betreffen EU-Politiken die Mitgliedsstaaten und die Menschen in ihnen in unterschiedlicher Weise, etwa in Bezug auf EU-Transferleistungen. Auch empirisch zeigt sich die Bedeutung des nationalen Kontextes für die Ausbildung von Einstellungen gegenüber der EU, sodass eine Analyse auf Ebene der EU-Mitgliedsstaaten angemessen erscheint (vgl. Hobolt und Vries 2016).

Wenn politische Unterstützung auf unterschiedliche politische Ebenen bezogen werden kann, stellt sich die Frage, wie sich politische Unterstützung dieser Ebenen zueinander verhalten und welche Bedeutung sowohl der jeweiligen politischen Performanz und als auch dem individuellen politischen Verständnis zukommt. In Bezug auf die EU sind die bei komparativen Analysen berücksichtigten Indizes für politische Performanz (z. B. Korruptionswahrnehmungsindex) nicht verfügbar; empirische Studien auf Grundlage des Eurobarometers finden schwach positive Zusammenhänge zwischen EU-bezogenem Faktenwissen und allgemeinen positiven Einstellungen gegenüber der EU (Westle und Johann 2010).

Die Kongruenzhypothese geht davon aus, dass die individuelle Bewertung nationaler und supranationaler Institutionen grundsätzlich hoch übereinstimmt. Zum einen wird dies auf Heuristiken zurückführt, die insbesondere in geringen Kenntnissen über die Prozesse der EU selbst begründet sind (limited information mechanism). Geringere Zusammenhänge zwischen nationalem und europäischem Vertrauen bei Befragten mit größerem politischem Wissen oder Bildungsstand stützen diese Annahme (Harteveld et al. 2013; Muñoz 2017). Zum anderen wird politisches Vertrauen allgemein auf soziales Vertrauen zurückgeführt (Dellmuth und Tallberg 2018).

Die Kompensationshypothese geht demgegenüber davon aus, dass die Bewertung des nationalen politischen Systems die Bewertung des supranationales Systems gegenläufig beeinflusst; Befragte in Ländern mit einer geringen Vertrauenswürdigkeit der politischen Systeme vertrauen danach dem europäischen System stärker, während Befragte aus Ländern mit hoher Demokratieperformanz höhere Ansprüche an die EU richten, was zu einer kritischeren Bewertung führe (Muñoz et al. 2011, S. 555).

2.3 Politische Unterstützung als Ziel schulischer Bildung

Fraglich ist, ob Theorien politischer Unterstützung für den schulischen Kontext übertragbar und relevant sind. Diese Frage ist normativ und empirisch zu klären. In der Schultheorie wird normativ diskutiert, wie in der Institution Schule eine „Balance zwischen Bewahren und Verändern“ (Giesecke et al. 1986) oder funktionaler Integration und Autonomie hergestellt werden kann. Die strukturfunktionalistische Sozialisationstheorie sieht in Schule eine Institution der Integration in das politische System (z. B. Fend 2006) und wurde dafür kritisiert, dass sie Fragen der Emanzipation angesichts von politischer Macht und Herrschaft nicht genügend reflektiert. D. h. eine strukturfunktionalistische Theorie begründe Integration eventuell nicht hinreichend gegen Autonomieansprüche der Einzelnen. Honneth (2012) hebt diesen Gegensatz auf, indem er argumentiert, dass ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen die Autonomie der Heranwachsenden zur Sicherung seines Fortbestands legitim einschränken darf und dass – mit der Begründung, die Grundlagen einer verfassten Autonomiegewährung zu schützen – von allen Bürger*innen eine Unterstützung verpflichtender staatlicher Institutionen, wie der Schule, eingefordert werden darf. Die politische Unterstützung der Institution Schule ist daran gebunden, dass sie die Individuen für eine Verteidigung demokratischer Rechte und Institutionen gewinnt und befähigt. Die am Beispiel der Schulpflicht dargestellten Kriterien für die Legitimation und Begrenzung politischer Unterstützung lassen sich auf andere staatliche Institutionen übertragen.

Konkretisiert auf politikbezogene Lernprozesse finden diese Kriterien ihre Entsprechung in den Grundsätzen des Beutelsbacher Konsenses, nach denen politischer Bildung die Aufgabe zukommt, Schüler*innen unter Berücksichtigung von Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot zur Analyse der politischen Situation und ihrer politischen Interessen sowie zur politischen Einflussnahme zu befähigen (vgl. Wehling 1977), die aber gleichzeitig einen immanenten Wertbezug anerkennen, der auf die Akzeptanz von Demokratie und Rechtstaatlichkeit im Rahmen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist (KMK 2018; GPJE, DVPB, & DVPW-Sektion Politikwissenschaft und Politische Bildung 2018). Dies impliziert, Einstellungen und die ihnen zu Grunde liegenden Werte zugänglich zu machen, ohne damit spezifische Positionen zu politischen Fragen vorzugeben (Detjen et al. 2012, S. 110).

Im Kontext der Europäischen Union wird explizit der Bedarf thematisiert, positive Einstellungen zur eigenen supranationalen Verfasstheit durch politische Bildung zu fördern. So benennt jüngst ein Expertenbericht der EU (European Commission 2019, S. 65) die Entfremdung von politischen Institutionen als große Herausforderung für die EU und eine Empfehlung des Rats der EU (European Council 2018) fordert die europäische Dimension im Unterricht zu fördern, unter anderem indem das Entstehen, die Werte und die Funktionsweise der Europäischen Union thematisiert werden. Die von politischen Institutionen auf europäischer und nationaler Ebene eingebrachte Bildungsprogrammatik ist von verschiedener Seite als affirmativ kritisiert worden (vgl. die Übersicht bei Ziemes et al. 2019). Insbesondere wird die Förderung eines unpolitischen sowie unkritischen Verständnisses europäischer Bürgerschaft (Biesta 2009; Eis 2010) und die Gefahr einer einseitig positiven Vermittlung EU-bezogener Fragestellungen problematisiert und die Notwendigkeit einer kritischen Reflektion von politischen Prozessen und Strukturen auf europäischer Ebene im Unterricht betont (Richter 2004; Schöne und Immerfall 2015). Differenzierend argumentieren Oberle und Leunig (2018, S. 215), dass „die im Grundgesetz verankerte Europaoffenheit (Art. 23 GG) eine grundsätzlich positive Bewertung der europäischen Integrationsbestrebungen und auch der Europäischen Union im Politikunterricht deutscher Schulen fordert“, jedoch gleichzeitig eine performanzbezogene Skepsis durchaus den Zielen der politischen EU-Bildung entspräche. In der Zusammenschau ergibt sich damit ungeachtet der unterschiedlichen Fragestellungen und Wissenschaftsperspektiven eine direkte theoretische Anknüpfung schultheoretischer und politikdidaktischer Ansätze an die Theorien politischer Unterstützung.

2.4 Bedeutung schulischer Lerngelegenheiten für die politische Unterstützung

Inwieweit Schulen in der Praxis systematisch zur Entwicklung politischer Unterstützung beitragen, ist umstritten. Auf der Grundlage von empirischen Analysen, in denen sich schwache und teilweise nicht interpretierbare Zusammenhänge zwischen politischem Wissen, Interesse und Vertrauen zeigen, bezweifeln Weißeno und Landwehr (2020, S. 130) die Übertragbarkeit von Modellen der politischen Kulturforschung auf den schulischen Kontext sowie deren Relevanz für den Politikunterricht. Sie vermuten, dass Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe I altersbedingt noch keine differenzierten Einstellungen etwa hinsichtlich eines institutionellen Vertrauens ausgebildet haben könnten. Dagegen folgert Torney-Purta (2004) aus ihren Analysen, nach denen die Einstellungen, wie institutionelles Vertrauen, bei Jugendlichen oft den Einstellungen von Erwachsenen sehr ähnlich sind, dass „by the age of 14, many young people are already members of the political culture they share with adults“ (S. 472). Auch konnten Einstellungskonstrukte unterschiedlicher Dimensionen politischer Orientierung bereits in dieser Altersgruppe empirisch differenziert werden (Hahn-Laudenberg 2017, S. 243 ff.). Vergleiche unterschiedlicher Alterskohorten erweisen für jüngere Schüler*innen eine Tendenz, verallgemeinertes Vertrauen mehr oder weniger allein auf der Grundlage der Qualität der von ihnen erlebten Beziehungen zu schenken. Jedoch nimmt die Relevanz sozialer Beziehungen für die Verleihung von Vertrauen mit zunehmendem Alter und zunehmenden sozio-kognitiven Fähigkeiten ab, ohne vollständig zu verschwinden (Flanagan 2013, S. 173 f.). Andere Analysen weisen auf eine verstärkte Bedeutung schulischer Sozialbeziehungen für das institutionelle Vertrauen bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund hin (Ziemes et al. 2020). In Analysen zum Vertrauen in staatliche Institutionen variiert der Zusammenhang zwischen Vertrauen in Institutionen und Wissen systematisch mit Kennwerten des politischen Systems wie der Human Development Index oder der Korruptionswahrnehmungsindex (Lauglo 2013). Schüler*innen mit größerem politischem Wissen zeigen demzufolge nicht grundsätzlichen ein höheres politisches Vertrauen, sondern können ihr Vertrauen stärker an eine Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit eines Systems rückbinden. In der Debatte um den richtigen Zeitpunkt einer schulischen Thematisierung politischer Konzepte warnt Csapó (2001, S. 136) davor, die Einflussmöglichkeiten von Schule nicht dadurch zu gefährden, dass politische Konzepte zu spät eingeführt werden, nachdem sich bei den Heranwachsenden bereits Fehlkonzepte verfestigt haben. Weil sich politische Einstellungen mit zunehmendem Alter verfestigen, sei es für die politische Bildung wichtig, empirisch zu analysieren, wie schulische Kontexte in einer konkreten Altersstufe politische Einstellungen bei Schüler*innen bedingen (Flanagan 2013; Meeus 2011). Im Sinne der oben aufgeführten Erklärungsansätze kann Schule als Bildungs- und Sozialisationsinstanz dabei sowohl durch curriculare Angebote und den damit verbundenen Kompetenzaufbau als auch durch die Entwicklung einer Schulkultur Relevanz entfalten (vgl. Mayne und Hakhverdian 2017).

Für den Bereich der EU gibt es zudem empirische Hinweise dafür, dass Lernangebote zur EU und zum politischen Wissen über die EU zu einer stärkeren Identifikation und zu mehr politischer Unterstützung beitragen. Oberle und Forstmann (2015) untersuchen in einer quasi-experimentellen Studie den Effekt von politischem Fachunterricht zur EU auf EU-bezogenes Wissen und Einstellungen. Die Studie weist einen substantiellen Effekt des Fachunterrichts auf EU-bezogenes Wissen auf, jedoch keine direkten Effekte der Intervention auf die Einstellungen der Schüler*innen gegenüber der EU. Die Ergebnisse zeigen (bei jeweils kleinen Effektstärken), dass ein konzeptuelles Wissen über die EU signifikant positiv mit generellen Einstellungen zur EU und etwas schwächer mit Vertrauen in EU-Institutionen zusammenhängt, während gleichzeitig Schüler*innen mit mehr EU-Wissen die EU-Performanz negativer bewerten (Oberle und Forstmann 2015, S. 95). Ähnlich zeigen sich schwache positive Zusammenhänge zwischen EU-bezogenem Wissen und Einstellungen bei Weißeno und Landwehr (2020, S. 130); unter Kontrolle von politischem Interesse und politischem Informationsverhalten bleibt dieser nur in Bezug auf das Politikervertrauen (und nicht in Bezug auf institutionelles Vertrauen) signifikant. Weitere Studien bestätigen in komparativen Analysen eine direkte sowie vermittelte Bedeutung von politischer Bildung für die Ausbildung EU-bezogener Einstellungen (Wallace et al. 2005).

2.5 Forschungsfragen und Hypothesen

Unter Berücksichtigung der dargelegten Vorbehalte gegenüber der Nutzung von Konstrukten der politischen Kulturforschung für die Erforschung schultheoretischer und fachdidaktischer Fragestellungen ist eine solche Übertragung in einem ersten Schritt kritisch zu prüfen. Dafür wird im internationalen Vergleich untersucht, ob 14-Jährige differenzierbare Einstellungsstrukturen gegenüber nationalen und überstaatlichen politischen Institutionen entwickelt haben, die in einem systematischen und theoretisch rückführbaren Verhältnis untereinander und zum politischem Wissen stehen. Fokussiert wird dabei das institutionelle Vertrauen betrachtet, weil hierfür zum einen in ICCS Items für die nationale und überstaatliche Ebene verfügbar sind und zum anderen bereits vergleichbare Untersuchungen bei Erwachsenen vorliegen. Dies führt zu der Fragestellung: Wie differenziert ist bei Schüler*innen das Vertrauen in staatliche und überstaatliche Institutionen im Verhältnis zum politischen Wissen entwickelt? HA1 konkretisiert für die Studie die Kongruenzhypothese sowie die Annahme, dass politisches Wissen Schüler*innen ermöglicht, die Vertrauenswürdigkeit von Institutionen differenzierend zu bewerten (limited information mechanism). HA2 prüft die Kompensationshypothese, wobei die Komponente des politischen Wissens hierbei ergänzt werden kann:

HA1

Über alle Länder besteht ein deutlich positiver Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in nationale und überstaatliche Institutionen. Schüler*innen mit größerem politischem Wissen differenzieren stärker zwischen Vertrauen in nationale politische Institutionen und Vertrauen in überstaatliche politische Institutionen.

HA2

In Staaten mit einer geringeren Vertrauenswürdigkeit der politischen Systeme (gemessen am Korruptionswahrnehmungsindex) zeigen sich relativ stärkere Unterschiede in Bezug auf das Vertrauen in nationale und überstaatliche Institutionen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Schüler*innen mit größerem politischem Wissen.

Wenn gezeigt werden kann, dass 14-jährige Schüler*innen in ihren politischen Orientierungen zwischen der nationalen und der überstaatlichen Ebene differenzieren können, kann in einem zweiten Schritt die Fragestellung untersucht werden: Inwiefern sind schulisch gestaltbare Kontexte relevant für die Erklärung von Unterschieden in der politischen Unterstützung der EU bei Schüler*innen? HB1 knüpft dabei an Theorien zum sozialen Kapital an. In auf diese bezugnehmenden empirischen Studien ist die Generalisierung von interpersonalem Vertrauen auf breitere soziale Zusammenhänge bereits gut belegt.

HB1

Eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung hat einen positiven Effekt auf die politische Unterstützung der EU. Dabei ist die stärkste Relevanz für das institutionelle Vertrauen zu erwarten.

Die nachfolgenden Hypothesen operationalisieren die diskutierten Aspekte schulischer Bildung in Bezug auf politische Unterstützung und knüpfen an die Annahmen der politischen Kulturforschung und empirischen Befunde zur differenzierten Bedeutung von Lerngelegenheiten und Wissen für die verschiedenen Dimensionen politischer Unterstützung an. Die grundsätzliche Zustimmung zu internationaler Kooperation und zur EU als einem supranationalen politischen Akteur ist curricular als Bildungsziel verankert, wohingegen Unterricht nicht curricular auf Vertrauensbildung oder eine positive Bewertung der Performanz konkreter europäischer Regierungstätigkeit ausgerichtet ist. Hier gelten die Prinzipien einer multiperspektivischen Darstellung.

HB2

Lerngelegenheiten zu Europa im Unterricht haben einen positiven Effekt auf die politische Unterstützung der EU. Dabei ist der stärkste Effekt für positive Einstellungen zum Wert der Supranationalität zu erwarten.

HB3–HB5 konkretisieren insbesondere die Annahmen zum „critical citizen“ nach Norris (2011), nach denen politisches Wissen zu einer stärkeren Unterstützung demokratischer Werte beiträgt, gleichzeitig eine auf diesen Werten basierende kritischere Reflexion politischen Performanz ermöglicht. Durch Bildungsprozesse angestoßene Veränderungen in der Performanzbewertung sollten demzufolge vornehmlich auf veränderte Orientierungen in Bezug auf die Kultur- und Strukturdimension zurückzuführen sein. Die Hypothesen lassen sich ebenfalls den Interdependenzannahmen im Model von Fuchs (2002) zuordnen.

HB3

Allgemeines politisches Wissen hat den stärksten positiven Effekt auf Einstellungen zur Supranationalität.

HB4

Schulische Bedingungen und allgemeines politisches Wissen haben keine oder relativ geringe direkte Effekte auf die Bewertung der Performanz der Europäischen Union.

HB5

Im Kontext anerkannt guter Regierungsführung auf EU-Ebene trägt die Unterstützung zentraler Werte und das Vertrauen in politische Institutionen zu einer spezifischen politischen Unterstützung der Performanz politischer Akteure bei.

3 Methoden

3.1 Studiendesign und -durchführung

Die International Civic and Citizenship Education Study ist eine international vergleichende Large-Scale-Studie im Querschnittsdesign. Sie untersucht, inwieweit 14-Jährige auf ihre Rolle als Bürger*innen in einer Demokratie vorbereitet sind (Abs und Hahn-Laudenberg 2017; Schulz et al. 2018a). In ICCS 2016 wurden in weltweit 24 Bildungssystemen insgesamt etwa 94.000 Schüler*innen befragt, darunter 46.500 Schüler*innen im Bereich von 14 Mitgliedsstaaten der EU. In Nordrhein-Westfalen (NRW) nahmen zwischen Februar und Juli 2016 N = 1451 Schüler*innen (durchschnittliches Alter = 14,29; 52 % Mädchen, 40 % mit Migrationshintergrund) an 59 Schulen an ICCS teil, wobei pro Schule eine Klasse der achten Jahrgangsstufe erhoben wurde. Die Stichprobenziehung erfolgte in jedem teilnehmenden Bildungssystem mit einer mehrstufigen Zufallsauswahl. Da in NRW die Teilnahme freiwillig war und nur 35 % der avisierten Schulklassen erhoben werden konnten, sind die Ergebnisse für dieses Schulsystem auch bei ausgefeilten Gewichtungsverfahren nur eingeschränkt als repräsentativ für die 14-jährigen Schüler*innen an Regelschulen zu betrachten (Ziemes et al. 2017).

3.2 Instrumente

In ICCS 2016 wurden zur Datenerhebung der Schüler*innen neben einem Test zum konzeptuellen politischen Wissen Fragebögen eingesetzt, die den außerschulischen und schulischen Kontext, Erfahrungen und Einstellungen der 14-Jährigen erfassen. Für europäische Bildungssysteme wurde die Befragung durch ein regionales Modul ergänzt, welches eine spezifische auf Europa bezogene Erfassung von schulischen Lerngelegenheiten und Einstellungen der Schüler*innen ermöglicht. Deskriptive Statistiken (Tab. 1) sowie Angaben zur internen Konsistenz (Cronbachs ɑ) sind bei international bereitgestellten Skalen dem europäischen (Losito et al. 2018) und internationalen Bericht (Schulz et al. 2018a) entnommen. Dort finden sich auch eine umfassende Übersicht der deskriptiven Ergebnisse der Skalen und Einzelitems für alle Teilnahmestaaten. Bei allen international bereitgestellten Skalen basieren die Skalenwerte auf in Partial-Credit-Modellen berechneten Weighted-Likelihood-Estimates WLE, die auf einen internationalen (bzw. europäischen) Mittelwert von 50 (SD = 10) standardisiert werden (Losito et al. 2018; Schulz et al. 2018b).

Tab. 1 Deskriptive Verteilung der Skalen

3.2.1 Beschreibung der abhängigen Variablen: Einstellungsskalen

Für die Analyse der Einstellungen von Schüler*innen zur EU werden drei Skalen aus dem europäischen Fragebogen verwendet.

Die Skala Einstellungen zur Performanz der EU (E_EURATT) wird in ICCS 2016 mit fünf Aussagen (ɑnrw = 0,79) erfasst. Schüler*innen konnten auf einer vierstufigen Likertskala von „stimme sehr zu“ bis „stimme gar nicht zu“ Aussagen zu verschiedenen Aufgaben der EU bewerten. Von der Durchsetzung der Menschenrechte über Sicherheit bis zu wirtschaftliche Entwicklung beurteilen Schüler*innen die Performanz der EU mehrheitlich positiv, etwa stimmen in der europäischen Vergleichsgruppe (in der die europäischen Bildungssysteme ausgenommen NRW berücksichtigt sind) 77 % der Schüler*innen der Aussage eher oder sehr zu: „Die EU kümmert sich um den Umweltschutz“. Schüler*innen in NRW sind hier mit 64 % Zustimmung kritischer in der Bewertung. Im Modell von Fuchs ist das Einstellungskonstrukt der Prozessdimension zuzuordnen.

Die Skala Einstellungen zur Supranationalität (E_CCOOP) wird mit acht Aussagen (ɑnrw = 0,81) im gleichen Antwortformat erfasst. Die Items stellen dabei den Wert der Kooperation zwischen europäischen Staaten für unterschiedliche Politikbereiche zur Disposition. Insgesamt zeigt sich eine breite Befürwortung zur supranationalen Zusammenarbeit (zwischen 81–96 % innerhalb der europäischen Bildungssysteme), etwa stimmen im Mittel 89 % (in NRW = 94 %) der Aussage zu „Europäische Länder sollten zusammenarbeiten, um Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, eine sichere Zuflucht in Europa zu geben“. Im Modell von Fuchs ist das Einstellungskonstrukt der Kulturdimension zuzuordnen.

Vertrauen in Institutionen wird über eine Fragebatterie mit 12 Items erfasst, in der Schüler*innen jeweils einzuschätzen sollten, ob sie verschiedenen gesellschaftlichen oder staatlichen Institutionen „sehr“, „etwas“, „wenig“ oder „gar nicht“ vertrauen. Sechs der Items (ɑint = 0,85; ɑnrw = 0,86) werden zu einer internationalen Skala Vertrauen in staatliche Institutionen (S_INTRUST) zusammengefasst (z. B. „dem Bundestag“, „der Bundesregierung“ und „der Polizei“).

Für die vorliegenden Analysen wird darüber hinaus die Skala Vertrauen in überstaatliche Institutionen selbst berechnet, die auf ein generalisiertes Vertrauen in staatliche Zusammenschlüsse zielt. Sie basiert auf den drei Items „die Europäische Kommission“, „das Europäische Parlament“ und „die Vereinten Nationen (UN)“. Die Skala (ɑeu = 0,93; ɑnrw = 0,85) wird ebenfalls auf einen europäischen Mittelwert von 50 (SD = 10) standardisiert angegeben und für Schüler*innen berichtet, bei denen mindestens zwei von drei Itemwerte vorliegen. Im Modell von Fuchs ist das Einstellungskonstrukt der Strukturdimension zuzuordnen.

3.2.2 Beschreibung der unabhängigen Variablen

Zur Erfassung der auf Europa bezogenen Lerngelegenheiten (E_EULRN) wird eine Skala aus vier Items (ɑnrw = 0,77) gebildet. Schüler*innen wurden dabei aufgefordert einzuschätzen, wie viele Gelegenheiten sie in der Schule zum Lernen bestimmter Inhalte wie „Politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen europäischen Ländern“ hatten (vierstufig von „keine Gelegenheiten“ bis „viele Gelegenheiten“). Als zentraler Aspekt des Schulklimas wird zudem die Qualität der Beziehung zwischen Schüler*innen und Lehrkräften (S_STUTREL) durch eine Skala mit fünf Items (ɑnrw = 0,80) erfasst (z. B. „Die meisten Lehrkräfte behandeln mich fair.“).

Das politische Wissen (knowing) und Argumentieren (reasoning and applying) wird mit offenen und geschlossenen Items erhoben, die auf das konzeptuelle politische Verständnis insbesondere in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zielen (z. B. Was kann in einer Demokratie getan werden, um Politiker*innen an einem Machtmissbrauch zu hindern?). Zur Schätzung des politischen Wissens werden in allen Analysen für jede*n Schüler*in auf Basis von Rasch-Analysen fünf Plausible Values berücksichtigt. Diese berechnen sich auf Grundlage von 88 Testitems, die im Booklet-Design mit acht Testheften (in acht Clustern mit je drei Testheften) eingesetzt wurden. Der Wissenstest ist auf Basis von ICCS 2009 auf einen internationalen Mittelwert von 500 und einer Standardabweichung von 100 standardisiert (für weitere Erläuterungen vgl. Hahn-Laudenberg und Abs 2017; Schulz et al. 2018b).

Zur Kontrolle des individuellen Hintergrunds werden das Geschlecht (m/w), der Migrationshintergrund und der sozioökonomische Status der Schüler*innen berücksichtigt. Migrationshintergrund wird angenommen, wenn eine Person angibt, dass sie und/oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Der Index zum sozioökonomischen Status (S_NISB) setzt sich zusammen aus der geschätzten Anzahl der Bücher zu Hause, dem höchsten Bildungsniveau eines Elternteils sowie dessen beruflicher Status nach ISCO-08.

3.3 Auswertungsverfahren

Für die erste Fragestellung wird das Ausmaß politischen Vertrauens in nationalstaatliche und überstaatliche politische Institutionen auf Ebene der beteiligten Bildungssysteme betrachtet. Ebenfalls wird der Zusammenhang zwischen politischem Wissen und Vertrauen auf beiden Ebenen analysiert. Die Ergebnisse werden mit dem Korruptionswahrnehmungsindex (Transparency International 2017) als externen Maßstab der politischen Performanz in Beziehung gesetztFootnote 1. Für die Prüfung von Kongruenz- und Kompensationshypothese werden die Berechnungen von Muñoz (2017) bei Erwachsenen repliziert und hinsichtlich der Berücksichtigung politischen Wissens erweitert. Die Berechnungen von Mittelwerten und Korrelationen erfolgen über den IDB-Analyzer, der Makros für SPSS unter Berücksichtigung von Populationsgewichten und für die stratifizierte Stichprobe korrigierten Standardfehlern (Jackknife) bereitstellt.

Für die zweite Fragestellung zur Bedeutung schulischer Bedingungen werden vertiefend für NRW die Effekte von schulischen Lerngelegenheiten, schulischen Sozialbeziehungen und politischem Wissen auf Einstellungen zur Supranationalität und Vertrauen in überstaatliche Institutionen sowie deren direkte und indirekte Effekte auf Einstellungen zur Performanz der EU in einem Pfadmodell untersucht. Für alle Konstrukten werden die manifesten Skalenwerte berücksichtigt. Die Pfadanalysen werden in MPlus 8.3 (Muthén und Muthén 2017) modellbasiert berechnet. In Rubustheitschecks werden zudem die Modellergebnisse über populationsbasierte Berechnungen mit Jackknife-Korrektur geprüft, für die jedoch keine Fitwerte ausgegeben werden. NRW wird als Bildungssystem ausgewählt, da vergleichende Studien Deutschland einen hohen Stellenwert von Europabildung zuordnen (Eurydice 2017; Faas 2007, S. 162), wenn auch Schüler*innen in NRW nicht häufiger als im europäischen Vergleich angeben, Gelegenheiten zu haben, etwas über Europa zu lernen (vgl. Tab. 1). Gleichzeitig wird im deutschsprachigen Raum der wissenschaftliche Diskurs über die Problematik einer einseitig affirmativ ausgerichteten Europabildung besonders breit geführt (vgl. Oberle 2020). Die Hypothese (HB4), nach der schulische Bedingungen keine direkten Effekte auf konkrete Einstellungen zur EU-Performanz entfaltet, weist hierzu eine hohe Passung auf.

4 Ergebnisse

4.1 Institutionelles Vertrauen bei 14-Jährigen im Verhältnis zum politischen Wissen

Die erste Fragestellung bezieht sich auf die Übertragbarkeit von Konstrukten der politischen Kulturforschung auf Bildungskontexte. Konkretisiert für das Vertrauen in politische Institutionen prüfen wir, inwieweit höheres Wissen bei Schüler*innen bei einem insgesamt stark positiven Zusammenhang mit einer stärker differenzierten Zurechnung von Vertrauen in nationale und supranationale politische Institutionen einhergeht (HA1) und inwiefern die Gewährung von nationalem und supranationalem institutionellem Vertrauen mit landesspezifischen Merkmalen der politischen Performanz verbunden sind (HA2).

Als erste deskriptive Beobachtung ist mit Blick auf Tab. 2 festzuhalten, dass in 11 von 14 Bildungssystemen Schüler*innen signifikant häufiger angeben, dem europäischen Parlament zu vertrauen als dem nationalen Parlament. Allein in Schweden ist es umgekehrt, dort ist das Vertrauen ins nationale Parlament international am stärksten und demgegenüber das Vertrauen ins europäische Parlament auf hohem Niveau signifikant geringer ausgeprägt. Berechnungen zur Prüfung der Kongruenzhypothese (HA1) bestätigen, dass das Ausmaß des Vertrauens in nationale und europäische Parlamente bei Schüler*innen über alle Länder hinweg deutlich positiv korreliert (r = 0,63; über alle Bildungssysteme). In Übereinstimmung der auf Grundlage des limited information mechanism formulierten Erwartung ist der Zusammenhang des Vertrauens in beide Einstellungsobjekte bei Schüler*innen mit mehr politischem Wissen (<478 Skalenpunkte, mindestens Kompetenzstufe 2) signifikant etwas geringer (r = 0,61) als in der Gruppe mit geringerem politischem Wissen (r = 0,68).

Tab. 2 Vertrauen in staatliche und üerstaatliche politische Institutionen und Zusammenhänge zum politischen Wissen im internationalen Vergleich

Die Korrelationen zwischen politischem Wissen und Vertrauen in überstaatliche Institutionen ist für alle Länder meist schwach, aber durchgehend positiv. Die Stärke des Zusammenhangs schwankt zwischen r = 0,05 in Bulgarien und r = 0,25 in Dänemark und Estland. Im Vergleich dazu ist die Korrelation von politischem Wissen und Vertrauen in (national)staatliche Institutionen in wiederum 11 der 14 Bildungssysteme signifikant schwächer bzw. in drei Bildungssystemen negativ. Sie variiert zwischen r = −0,22 in Bulgarien und r = 0,15 in Dänemark und NRW. Der Kompensationshypothese (Muñoz 2017) entsprechend unterscheiden sich das Ausmaß an Vertrauen sowie die beiden Zusammenhangsmaße systematisch zwischen den Ländern je nach ihrer politischen Performanz. Die Korrelation der Diskrepanz zwischen dem Vertrauen in das nationale und EU-Parlament mit dem Korruptionswahrnehmungsindex CPI (Transparency International 2017), bei dem hohe Zahlen niedrige Korruptionswerte ausdrücken, ist erwartungskonform deutlich negativ (−0,64), ebenso korreliert die Diskrepanz zwischen den Korrelationen zum politischen Wissen mit dem CPI erwartungskonform negativ (−0,80). Letzteres bedeutet zum Beispiel, dass in Ländern mit einem CPI unter 50, also mit Problemen in der politischen Performanz, Schüler*innen mit größerem politischem Wissen im Vergleich zu den anderen Schüler*innen ein geringeres Vertrauen in nationale staatliche Institutionen haben, aber im Vergleich zu diesen kein geringeres oder sogar ein größeres Vertrauen in überstaatliche Institutionen. Währenddessen sind diese Unterschiede in Ländern mit höherem CPI deutlich geringer (HA2).

4.2 Die Relevanz schulisch gestaltbarer Kontexte für die politische Unterstützung der EU

Nachdem im internationalen Vergleich und unter Einbezug externer Variablen gezeigt werden konnte, dass Schüler*innen dieses Alters bereits differenzierte Einstellungen in Bezug auf überstaatliche Institutionen aufgebaut haben, kann die zweite, zentrale Fragestellung in den Blick genommen werden, die auf die empirische Bedeutung schulischer Lerngelegenheiten, Sozialbeziehungen und politischem Wissen für EU-bezogenen Einstellungen abzielt. Wie dargelegt entspricht eine positive Beziehung zwischen einerseits schulischen Erfahrungen und politischem Wissen und andererseits politischen Einstellungen zur Supranationalität und zum Vertrauen in überstaatliche Institutionen der funktionalen Aufgabe von Schule. Dies gilt jedoch nicht für einen starken direkten Einfluss des schulischen Kontexts auf performanzbezogene Einstellungen. Das nachfolgend dargestellte Pfadmodell (Abb. 2) prüft empirisch für NRW, inwieweit die empirischen Zusammenhänge den in den Hypothesen formulierten konzeptuellen Überlegungen entsprechen.

Abb. 2
figure 2

Pfadmodell zur Beziehung zwischen schulischen Lerngelegenheiten, Wissen und EU-bezogenen Einstellungen (Modellbasierte Berechnungen (MMC); xy-standardisierte Lösung; PV = Plausible Values (5); χ2 / df = 3,47/3; CFI = 0,99; RMSEA = 0,011; SRMR = 0,009 (bis auf Hintergrundvariablen saturiertes Modell), Supranationalität R2 = 0,131; Vertrauen R2 = 0,151; Performanz R2 = 0,235; Supranationalität und Vertrauen kontrolliert für Gender, SES und MGH)

Das skizzierte Pfadmodell zeigt, dass schulische Bedingungen und politisches Wissen in einer differenzierten Weise mit den berücksichtigten EU-bezogenen Einstellungen verbunden sind. Die individuell wahrgenommene Qualität der Schüler-Lehrer-Beziehungen ist für alle EU-bezogenen Einstellungskonstrukte prädiktiv. Die besondere Relevanz für die Erklärung überstaatlichen Vertrauens (HB1) bestätigt sich empirisch durch das vergleichsweise stärkere Regressionsgewicht (0,224***). Schüler*innen, die angeben, in der Schule mehr Gelegenheit gehabt zu haben, etwas über Europa zu lernen, äußern ebenfalls in allen Dimensionen signifikant positivere Einstellungen zur EU. Wie postuliert (HB2), ist der stärkste Effekt in Bezug auf die Einstellungen zur Supranationalität, also in der Wertedimension, zu verzeichnen. Die Unterschiede der Regressionsgewichte sind allerdings nicht besonders stark.

Politisches Wissen hat wie erwartet die stärksten differentiellen Effekte auf die unterschiedlichen Einstellungskonstrukte. Schüler*innen mit größerem politischem Wissen befürworten stärker eine supranationale Zusammenarbeit (HB3). Wie im Anschluss an die Analysen zur ersten Fragestellung zu erwarten, zeigt sich für Schüler*innen in NRW ein signifikant positiver, aber lediglich schwacher Effekt von Wissen auf das Vertrauen in überstaatliche Institutionen. Unter Kontrolle der Effekte auf Einstellungen zur Supranationalität und Vertrauen in überstaatliche Institutionen wird ein direkter Effekt des politischen Wissens auf Einstellungen zur EU-Performanz nicht mehr signifikant (HB4), (indirekt 0,073***; totaler Effekt: 0,093*).

Dass schulische Bedingungen generell keinen direkten Effekt auf konkrete Einstellungen in Bezug auf die Performanz der EU entfalten, kann dabei nicht bestätigt werden (HB4). Einstellungen zur EU-Performanz werden nicht besonders stark, aber signifikant nicht nur indirekt, sondern auch direkt über eine positive Wahrnehmung des Schüler-Lehrer-Verhältnisses (direkt 0,111***; indirekt 0,077**) und wahrgenommenen Lerngelegenheiten zu Europa (direkt 0,153***; indirekt 0,092***) erklärt. Schließlich kann gezeigt werden, dass sich die Dimensionen der politischen Unterstützung erwartungskonform beeinflussen. Sowohl die Zustimmung zur Supranationalität als auch institutionelles Vertrauen tragen deutlich zur Aufklärung der EU-Performanzbewertung bei (HB5).

Für die im Pfadmodell kontrollierten Hintergrundfaktoren sind nur wenige Effekte zu berichten: Schüler*innen mit Migrationshintergrund befürworten (−0,053*) etwas seltener supranationale Zusammenarbeit und haben auch ein geringeres Vertrauen in überstaatliche Institutionen (−0,117***), letzteres trifft tendenziell auch für Mädchen zu (−0,045*).

In komplexeren Modellierungen (hier nicht dargestellt) zu NRW wird erkennbar, dass das Vertrauen in (national)staatliche Institutionen einen Großteil der Effekte von schulischen Sozialbeziehungen auf das Vertrauen in supranationale Institutionen mediiert (direkt 0,043*; indirekt 0,202***). Dies entspricht erläuterten Annahmen zur Generalisierung sozialen Vertrauens und war insbesondere in Ländern mit geringen Kompensationseffekten (vgl. HA2) erwartbar.

5 Diskussion

Der Beitrag beleuchtet das Verhältnis von schulischen Bedingungen und politischem Wissen zu Einstellungen gegenüber Supranationalität, überstaatlichem Institutionenvertrauen und zur Performanz der Europäischen Union bei Schüler*innen. Er wendet dabei Konzepte der politischen Kulturforschung, insbesondere Theorien der politischen Unterstützung, auf das Forschungsfeld der empirischen Bildungsforschung an. Die Replizierbarkeit der auf Kongruenz- und Kompensationshypothesen (HA1–A2) basierenden international vergleichenden Berechnungen lassen darauf schließen, dass bereits 14-Jährige hinsichtlich überstaatlichen Institutionen empirisch differenzierbare Einstellungen entwickelt haben, in denen eine differenzierte Betrachtung im Unterschied zur nationalen Ebene zur Geltung kommt. Dies liefert empirische Evidenz dafür, dass sich im Kontext der politischen Kulturforschung entwickelten Konstrukte und Erklärungsansätze sinnvoll reflektiert in pädagogische und politikdidaktische Fragestellungen integrieren lassen. Die Einbeziehung von studienexternen Indikatoren (hier Korruptionsindex) trägt dabei zur Validität der Ergebnisse bei. Weiterhin wird deutlich, dass die Europäische Union als eigenständiger Gegenstand politischer Bildung in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedliche Herausforderungen für Bildungsprozesse bereithält: Es besteht die Gefahr, dass sich supranationale politische Unterstützung vorrangig in Kongruenz oder Komplementarität zur nationalen politischen Unterstützung entwickelt. Bildungsprozesse sollten dazu beitragen, diesen Zusammenhang zu entkoppeln und die eigenständigen Merkmale einer „europäischen Staatlichkeit“ (Bieling und Große Hüttmann 2016) in der EU betonen.

Gerade weil die politische Kulturforschung schulische Bildungskontexte nicht differenziert in den Blick nimmt, ist es wichtig, zu analysieren, inwiefern sich Indikatoren der politischen Unterstützung auf der europäischen Ebene nicht nur aus dem nationalen politischen Kontext und politischem Wissen bei Erwachsenen voraussagen lassen, sondern auch aus schulischen Kontexten bei 14-Jährigen. Die im Pfadmodell visualisierten Analysen konnten die auf die Bedeutung des schulischen Kontexts fokussierenden Hypothesen zu B mehrheitlich bestätigt. Insbesondere zeigt sich erwartungsgemäß die unterschiedliche Bedeutung verschiedener schulischer Bedingungen. In Übereinstimmung mit Theorien zum sozialen Kapital zeigen Sozialbeziehungen ihren stärksten Effekt in Bezug auf überstaatliches institutionelles Vertrauen (HB1). Limitierend ist dabei zu berücksichtigen, dass andere Vertrauensdimensionen wie das nationale institutionelle Vertrauen nicht im Modell integriert wurden.

Lerngelegenheiten zu Europa und politisches Wissen zeigen ihren stärksten Effekt jeweils in Bezug auf Einstellungen zum Wert Supranationalität (HB2–B3). Teilweise erwartungswidrig sind jedoch auch direkte Effekte von Lerngelegenheiten zu Europa und Sozialbeziehungen auf eine positive Bewertung der EU-Performanz durch die Schüler*innen signifikant (HB4). Diese positiven Effekte können nicht ausschließlich als Ergebnis der Interdependenz der Dimensionen politischer Unterstützung interpretiert werden, da im Modell für den Effekt der weniger spezifischen Formen politischer Unterstützung kontrolliert wurde. Lediglich das politische Wissen geht – wie im Anschluss an Norris (2011) postuliert – über die Bedeutung für die politische Unterstützung in der Kultur- sowie der Strukturdimension hinaus nicht mit einer positiveren Bewertung der Performanz in der Prozessdimension einher. Die aufgezeigte differentielle Relevanz politischen Wissens für unterschiedliche Dimensionen politischer Unterstützung steht in Übereinstimmung zu den Ergebnissen anderer Studien über die Verbindung von EU-bezogenem Wissen und Einstellungen im schulischen Kontext (z. B. Oberle und Forstmann 2015). Im Unterschied zur vorliegenden Analyse zeigte sich dort unter Kontrolle des EU-Wissens kein direkter Effekt der Behandlung der EU im Unterricht auf Einstellungen gegenüber der EU. Neben den Unterschieden im Studiendesign ist für einen Vergleich der Ergebnisse jedoch zu beachten, dass zum einen vorliegend das allgemeine konzeptuelle politische Wissen berücksichtigt wurde und zum anderen zur Operationalisierung der Dimensionen politischer Unterstützung andere Konstrukte Anwendung fanden.

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist über die aufgeführten Begrenzungen der Stichprobe einschränkend zu berücksichtigen, dass pfadanalytische Betrachtungen auf Querschnittstudien theoretisch begründete Beziehungen auf Passung mit den vorliegenden Datenstrukturen prüfen können, sich jedoch daraus keine kausalen Schlussfolgerungen ableiten lassen. Ferner wurden die in den Analysen verwendeten Messinstrumente der abhängigen Variablen nicht theoriegeleitet auf Grundlage der Dimensionen politischer Unterstützung entwickelt, sondern diesen nachträglich zugeordnet. Auch sollte das Ergebnis angesichts der relativ geringen Effektstärken vorsichtig interpretiert werden.

Die Ergebnisse unterstreichen insbesondere die grundsätzliche Bedeutung politischen Wissens für eine reflektierte und ggf. kritische Ausbildung politischer Einstellungen. Die Ergebnisse zeigen aber auch die Relevanz schulischer Sozialbeziehungen im Hinblick auf die Bewertung der EU-Performanz. Möglicherweise werden Lehrende doch in vielfältigerer Hinsicht als Repräsentanten übergeordneter Institutionen wahrgenommen, so dass sich hier ein übergreifender Zusammenhang zur Bewertung dieser Institutionen etablieren kann. Weiterhin zeigen die Ergebnisse Relevanz der schulischen Auseinandersetzung mit Europa und der EU. Der Befund, dass Schüler*innen, die bessere Sozialbeziehungen und mehr Lerngelegenheiten zu Europa berichten, nicht nur grundsätzlich supranationaler Zusammenarbeit positiver gegenüberstehen und überstaatlichen Institutionen häufiger vertrauen, sondern auch die Performanz der EU positiver bewerten, aktualisiert Fragen in Bezug auf affirmativ ausgerichtete Lernumgebungen. Die Förderung von Einstellungen in der schulischen Praxis bleibt „grundsätzlich eine Gratwanderung“ (Oberle und Leunig 2018, S. 215), die im Unterricht beispielsweise durch die exemplarische Erarbeitung kontroverser Fragestellungen gelingen kann.