In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erschien eine größere Zahl gedruckter Unterweisungsschriften, in denen unter Bezugnahme auf die geistigen Möglichkeiten der Lesefähigen v. a. praktische Wissensgebiete für die Laien erschlossen wurden: es entstanden Anleitungen zum Rechnen und Briefeschreiben, Handbücher und Vokabularien zum Fremdsprachenlernen, technische und populärwissenschaftliche Fachprosa, Leitfäden zur Selbstmedikation und v. a. Erstlesedidaktiken in Verbindung mit grammatischen Hinweisen und Übungen. Unter letzteren sind etwa das 1530 in Basel erschienene Enchiridion: das ist Handbüchlin tütscher Orthographie des protestantischen Predigers und Schulmeisters Johannes Kolroß, des Mainzer Druckers und Buchhändlers Peter Jordan Schrift Leyenschul. Wie man Künstlich vnd behend/schreyben vnnd lesen soll lernen, eine systematisierende Lautlehre von 1533, oder auch des Augsburger Schulmeister Jacob Grueßbeutels Eyn besonder fast nützlich stymmen büchlein mitfiguren von 1534 zu nennen. Die beiden wichtigsten Publikationen auf dem Gebiet des Lesenlernens mit Hilfe von gedruckten Anleitungen waren jedoch unzweifelhaft Valentin Ickelsamer Rechte weis, aufs kurtzist lesen zu lernen von 1527 und seine wenige Jahre danach entstandene Teütsche Grammatica.Footnote 1

Eine Besonderheit dieser Unterweisungsschriften ist es, dass sie fast alle von aktiven Schulmeistern, d. h. meist von Betreibern sogenannter privater Lese- und Schreibschulen verfasst wurden, sich andererseits jedoch an alle lesewilligen Laien richteten und das „selbst lernen“, häufig schon im Titel betonten. So wünscht Kolroß im Schlusswort, dass sein Buch von „den einfalltigen vnd iungen leerkinden (…) on wytere erklaerung durch sich selbs/(…) moegen ergryffen“ und verstanden werde (Kolroß 1530, S. 87); und der Untertitel der Teütschen Grammatica Ickelsamers lautet: „daraus einer von jm selbs mag lesen lernen (…)“. In anderen Wissensbereichen war der Hinweis auf das ‚selber lernen‘ ebenso gegeben, aber weniger problematisch: so heißt es im Titel von Jacob Köbels 1532 in Frankfurt erschienenem Rechenbuch: Rechnen vnd Visieren/so verstendtlich vnndt leicht fürgeben/das eim ieden hieraus von sich selb wol zulernen. Sein seit 1514 in zahlreichen Auflagen erschienenes Büchlein sei, so Köbel im Vorwort, „von vilen menschen begert“, und deshalb schon dem Raubdruck verfallen. Daher liege es jetzt hier verbessert und erweitert vor, zusammen mit einem Visierbüchlein (Köbel 1532, Bl. Ai v.).

Wer rechnen lernen wollte, konnte dies tatsächlich mit Hilfe von Köbels Schrift auf eigene Faust versuchen, die Voraussetzung war lediglich, dass er das Buch auch lesen konnte. Doch wie steht es mit denjenigen Schriften, die das Lesen selbst zum Thema hatten? Wie konnte hier die Belehrung ohne Schulmeister überhaupt funktionieren? Daran schließen sich weitere Fragen an: Was ist der pragmatische Zweck dieser Schriften? Wenn sie eventuell für den Gebrauch in privaten ‚Winkelschulen‘ vorgesehen waren, was hat es dann mit dem ‚Selbstlernen‘ auf sich? Oder wer sonst konnte Lesewilligen das Lesen lehren? Falls die Schriften ganz oder in Teilen als Schulbücher benutzt worden sind, gilt es zu klären, wie ihre besondere Gestalt und ihr gewissermaßen unsicherer pragmatischer Status zu beschreiben wären – und weiter, welche Rolle sie eigentlich im Literalisierungs-prozess des frühen typographischen Zeitalters gespielt haben.

Diese Fragen zu beantworten ist nicht ganz einfach, auch deshalb nicht, weil wir sehr wenige Hinweise auf den Gebrauch der Schriften und ihre tatsächlichen Rezipienten haben. In den Texten selbst finden wir dazu teils widersprüchliche Aussagen, auf die ich im Folgenden eingehen werde. Ich denke, dass es sich lohnt, anhand der beiden genannten Schriften Valentin Ickelsamers, welche von der Forschung bislang v. a. im Hinblick auf ihre Sprachlehrmethodik und ihre Stellung in der Geschichte der Grammatik untersucht worden sind (Siegfried 2004), nach dem eigentlichen Gebrauch solcher Drucke zu fragen, nach ihrer didaktischen Programmatik im Zusammenhang mit ihren Rezipienten und somit nach ihrem ‚Sitz im Leben‘.

Ich gehe daher zunächst von den kulturhistorischen Rahmenbedingungen des Phänomens aus, dem Buchdruck und der Reformation, ohne die das Aufkommen dieser Schriften nicht denkbar ist. Im Anschluss daran versuche ich zu zeigen, welche biographischen Indizien zu Valentin Ickelsamer als Schulmeister die Frage nach der programmatischen Ausrichtung seiner beiden Schriften beantworten helfen können. Im Hauptteil gehe ich auf seine spezifische Methodik ein, und wie man sie mit dem Unterricht in einer Leseschule verknüpfen könnte.

1 Buchdruck und Wissensvermittlung

Schulbücher gab es nicht erst seit der Erfindung des Buchdrucks. Die Annahme, dass sich der Unterricht an mittelalterlichen Latein- und Stadtschulen völlig ohne schriftgestützte Medien abgespielt habe, hat sich als nicht zutreffend erwiesen. Michael Baldzuhn hat erst kürzlich an einer Fülle von Handschriften die wichtige Rolle von Schulbüchern und Schriftträgern im lateinischen Schulunterricht vorgeführt. Das Unterrichtsgeschehen und hier v. a. die lectio ist freilich von Beginn an als Kommunikation unter Anwesenden mit starker oral-gestischer Prägung durch den Lehrer strukturiert, doch können Verschriftlichungsschübe im 9., 12., und 14. Jahrhunderts bemerkt werden, in welchen die Schrift als fundamentaler Wissensspeicher neben dem Gedächtnis an Bedeutung gewinnt. Es lässt sich von einem „Ineinander schriftlicher und mündlicher Kommunikation mittelalterlichen Schulunterrichts“ (Baldzuhn 2009, S. 7) sprechen, welcher mit der Ausweitung handschriftlicher Texte im 14. Jh. einen Höhepunkt erreichte. Dabei ist nach Baldzuhn eine „Entlastung des Unterrichts durch zunehmende Auslagerung der Textversorgung an unterrichtsexterne Instanzen“ zu beobachten (Baldzuhn 2009, S. 421).

Somit ist Michael Gieseckes These, erst der Buchdruck habe für eine allgemeine Verfügbarkeit von Schulbüchern im Unterricht gesorgt und weitreichende Folgen für die Lehrer-Schüler-Kommunikation gehabt (Giesecke 1991), zumindest die Lateinschulen betreffend nicht haltbar. Nimmt man allerdings die seit dem 14. Jahrhundert in den Städten belegten privaten Lese- und Schreibschulen des Deutschen, auch Beischulen oder Winkelschulen genannt, zum Vergleich, so ist Gieseckes Annahme sicherlich richtig. Denn für diese Schulen, welche teils von Stadtschreibern, teils von wandernden Schulmeistern betrieben wurden, ist der Gebrauch von schriftgestützten Materialien der Schüler kaum belegt (Müller 1882/1969; Endres 1983); vereinzelt haben sich Syllabierbücher und Fibeln erhalten, die meist auf die Buchstabiermethode zurückgehen (etwa Hubers Modus legendi von 1477; Kiepe 1983). Handschriftliche Schulbücher, selbst durch Diktat erstellt, wie in Lateinschulen üblich, dürften hier ebenso wenig verbreitet gewesen sein, denn dafür waren die Kosten zu hoch und der gesellschaftliche Status dieser Schulen zu gering (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Aushängeschild für die private Leseschule des Oswald Myconius in Basel. (Quelle: s. Hans Holbein 1516)

Rücken diese Schulen stärker ins Blickfeld der Betrachtung, kann demnach von einschneidenden Veränderungen durch den Buchdruck gesprochen werden. Was das typographische Produktions- und Distributionssystem hier in erster Linie verändert, sind die Formen des Lernens und des Unterrichts sowie das Selbstverständnis von Lehrern und Lernern, also den Anbietern und den Anwendern von Wissen, welches nun in Buchform prinzipiell jedem, der lesen konnte, zur Verfügung stand. Die Attraktivität der Lesefähigkeit, welche schon in den städtischen Schreibschulen aufgrund ihrer Funktion im ökonomisch-pragmatischen Leben der Städte immer wichtiger geworden war (Hanschmidt 2005), wurde durch den Buchdruck noch einmal signifikant erhöht (Giesecke 1992). Lesefähigkeit galt nun als Schlüssel zum Wissen, zum neuen und zum alten, und sie war Voraussetzung für die Teilnahme am politischen und religiösen Gespräch, das sich über Schriftmedien wie Flugblätter und Flugschriften konstituierte. Beide Punkte sind auch in Ickelsamers Schriften zu finden: in der 2. Auflage der Rechten weis ist über den Nutzen des Lesenkönnens zu erfahren: „Da zu kan itzo nichts kund = wirdigs inn der gantzen welt geschehen/Es kumbt schrifftlich durch den Truck zu lesen“ (Ickelsamer 1534/1972, Bl. Aij r.). Hier wird deutlich, wie genau Ickelsamer erkannt hatte, dass gedruckte Bücher den Zugang zum Wissen darstellten:

dann was will man doch einer solichen kunst vergleichen/durch welche man alles in der welt erfaren/wissen/vnd ewig mercken vnd behalten/auch andern/wie fern die von vns sein/one personliche beywesung vnd mündtliche anzeygung/zůwissen thůn kan? (Ickelsamer 1532?/1972 Bl. A iiij r. u. v.)

Diese formale Beschreibung einer „zerdehnten Kommunikationssituation“ (Ehlich 1994, VIII) bewahrt die Idee der Partizipation am universellen Wissen und seiner Verbreitung auf. Ickelsamer hat als einer der ersten erkannt, dass das Lesen im Zeitalter des Buchdrucks einen individuellen und autonomen Zugang zu vielfältigen Informationen öffnete: Die unmittelbare Kontrolle des Zugangs zu neuen Informationen verliert an Bedeutung. Daher steht nach Giesecke Erstlesedidaktik in direktem Zusammenhang mit der typographischen Kommunikation: „Die materiellen Voraussetzungen für diesen Umschwung haben sicherlich die Einführung der typographischen Medien und der marktwirtschaftlichen Vernetzungsformen gelegt.“ (Giesecke 1992, S. 126) Die Anleitungsliteratur macht diese Voraussetzungen für das „selber lernen“ als gesellschaftliches Phänomen evident: die autodidaktische Praxis, ohne Lehrer aus Büchern zu lernen, wäre ohne den revolutionären Wandel vom skriptographischen zum typographischen Medium wohl nicht möglich gewesen (Velten 2002). Der Buchdruck generierte nicht nur die Erwachsenenbildung, sondern macht die druckschriftliche zerdehnte Kommunikationssituation, die den einzelnen Leser ins Zentrum stellt, zur Norm. Dadurch wird ein ganz neues, autonomes Verhältnis zu Bildungsinhalten und zum Lernen selbst geschaffen; das ‚selber lernen‘ bezieht sich hier sowohl auf eine belegbare Praxis, als auch und in erster Linie eine Haltung, eine Entscheidung der autonomen Persönlichkeit (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Titelblatt der Teütschen Grammatica. (Quelle: s. Marburg 1534)

2 Reformation und Laienbildung

Ein zweiter kultureller Rahmen ist zu nennen, ohne den die Ickelsamerschen Schriften nicht entstanden wären und der die Lesefähigkeit während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. noch bedeutsamer macht: die Reformation mit ihrem Anspruch, selbst die Bibel zu lesen und sich an den religiösen Debatten zu beteiligen. Ickelsamer formuliert es in seiner Rechten weis folgendermaßen:

dweyls seer ein yeder darvmb lernet/das er Gottes wort vnd etlicher Gotgelerte(n) menner außlegung/darueber selbs lesen vnd desto bas daryn vrteilen moege. (Ickelsamer 1532?/1972, Bl. Aij r.)

Die Beteiligung an den religiösen Auseinandersetzungen setzt, wenn man „selbs vrteilen“ will, Lesefähigkeit voraus. Nicht allein die Bibel und ihre „außlegung“ sollen gelesen werden, sondern auch die gedruckten Flugschriften der sich gerade konstituierten überregionalen medialen Öffentlichkeit, in welcher sich der reformatorische Diskurs entfaltet. Dass sich daran grundsätzlich alle Laien beteiligen konnten und viele dies auch wollten, unterstreicht auch Kolroß im Enchiridion: Da sich Gottes Wort in der Schrift auch an den „einfaltigen leyen zů heyl vnnd trost“ richtet, möchte er

ja ettlich der elltern selbs/ouch handtwercks gsellen/vnnd jungkfrowen (…) tüdtsch schryben vnd läßen zelernen/sich bemüyend/die zyt vsserthalb jrer arbeit/in erlustigung heyliger gschrifft nützlich zůuer = tryben. Es ist aber niemand der nit begär sölichs vff das aller bäldest zeer = lernen. Derhalben ist dises handtbüchlin gemacht (…). (Kolroß 1530/1969, Bl. A ija S. 65)

Eine solche Konzentration auf die Bildung des Laien aus religiösem Geist ist auch der Programmatik Ickelsamers zu entnehmen. Indem er sein Universitätsstudium in Wittenberg beendete und auf eine Karriere innerhalb der lutherischen Kirchenorganisation verzichtete, entschied er sich bewusst für die Gründung einer deutschen Schule; er hatte sich, angeregt von Karlstadt, die Alphabetisierung der Laien auf die Fahnen geschrieben. So sagt er in der Teütschen Grammatica:

Mich hat aber hie zů/sonderlich waz die kürtze vnd subtiligkeyt des lesen lernens betrifft/nit allein lust vnd kurtzweil getriben/sonder das solches auch ein feine gabe Gottes ist/die man zů seiner ehre vilfältigklich brauchen kan vnd soll/mit lesen/singen/vnd schreiben/vnd ich wölt mir dise meine arbeyt nit bas belonet schetzen/dann so etwa gotfürchtige vnd frume menschen/dise kunst also lerneten/vnd darnach zů Gottes ehre brauchten. (Ickelsamer 1532?/1972, Bl. A iiij r.)

Der Leseunterricht wird hier in einen religionsdidaktischen Rahmen gestellt: mit der Befähigung zum Lesen spricht Ickelsamer – in Anlehnung an Luthers Schreiben an die Ratsherren von 1524 (Müller 1882/1969) – in erster Linie „gotfürchtige vnd frume menschen“ an, welche ihre Kenntnisse dann zur Ehre Gottes einsetzen. Er will damit dem „gemeinen man“ und seinen Kindern „in dem Wort Gottes unterweisen, bis Gott in etlichen mit seinem Geist merklich und reichlich zu wirken und sie selbst zu lehren angefangen“, wie er selbst in seinem Ernstlichen Gespräch schreibt. Hier eröffnet sich ein Zusammenhang zwischen der Unterweisung durch ihn, den Schulmeister, und der Wirkung des Heiligen Geistes, damit die Schüler bzw. Leser sich selber zu lehren anfangen. Ich werde weiter unten noch genauer auf diesen Gedanken zurückkommen.

3 „Ein Outsider der Reformationsgeschichte“ – Valentin Ickelsamer zwischen Ideologie und Praxis

Valentin Ickelsamer wurde um 1500 in oder bei Rothenburg ob der Tauber geboren. Nach dem Besuch der städtischen Lateinschule immatrikulierte er sich 1518 an der Universität in Erfurt und schloss dort zwei Jahre später mit dem Grad des Baccalaureus ab. Wie viele seiner Altersgenossen wurde er von der lutherischen Reformation angezogen und ging nach Wittenberg, um weiter zu studieren. Es war die Zeit, in welcher Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt versuchte, in der Wittenberger Gemeinde eine radikale Reform durchzusetzen, da Luther auf der Wartburg bleiben musste. In dieser Zeit heftiger theologischer Kontroversen wurde Ickelsamer zum Anhänger Karlstadts. Jener hatte bereits eine kritische Haltung zu universitären Karrieren entwickelt und vertrat wenig später programmatisch die Position, dass der Prediger und Lehrer seine Tätigkeit nicht auf eine akademische Laufbahn und Ämterpfründe gründen sollte, sondern auf innere Erweckung und göttliche Berufung. Diese Überzeugung hatte auf Ickelsamers weiteren Lebensweg entscheidenden Einfluss: er verzichtete auf die Magister- oder Doktorpromotion, gar auf eine mögliche geistliche oder wissenschaftliche Karriere (Weigand 1882/1972). Nachdem sein Vorbild Karlstadt als Prediger und radikaler Reformer nach Orlamünde gezogen war, verließ Ickelsamer im Frühjahr 1524 ebenfalls Wittenberg, um in seiner Heimatstadt Rothenburg eine eigene Schule zu gründen:

Ich hab nu ein kleine zeit/vss dem beruf vnd beuelch Gottes die kinder hye zu Rottenburg teütsch geleert vnnd in dem wort gottes vnterwissenn, (…) byss got in etlichen mit seinem geyst mercklich vnd reichlich zu wirken vnnd sy selbs zu leeren angefangen

Schreibt er in seinem Ernstlichen vnd wunderlichen gesprech zwayer kinder mit einander (Ickelsamer 1525/1894, S. 14). In der ebenfalls 1525 erschienenen Clag etlicher Brüder (eine an Luther gerichtete, kritische Schrift, mit der er zwischen diesem und dem radikaleren Karlstadt in der Frage der Zwei-Reiche-Lehre vermitteln wollte) berichtet er über die Einstellung eines Schulgesellen, um die wachsenden Aufgaben zu bewältigen (Ickelsamer 1525). Anscheinend gab es in Rothenburg neben der Lateinschule und der Stadtschule Jos Deutschers großen Bedarf an einer deutschen Leseschule. Jedenfalls waren die vier Jahre in Rothenburg eine sehr ertragreiche Zeit für Ickelsamer: nicht nur brachte die Schule ökonomischen Erfolg und sozialen Aufstieg – er heiratete und erwarb das Bürgerrecht – sondern er engagierte sich auch weiterhin an der Seite Karlstadts für die Reformation.

Als Rothenburg sich im Bauernkrieg entscheiden musste und schließlich die Seite der Bauern wählte, verfolgte er diese Entwicklung eher skeptisch. Er schwankte zwischen dem Aktionismus der Bauern im Verbund mit der karlstädtischen Bewegung und dem gemäßigten Luthertum (Weigand 1882/1972). Dennoch musste er 1525, nach der Niederlage der Bauern, aus Rothenburg fliehen und wurde in Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt. Er wandte sich nach Erfurt, wo er sich durch Vermittlung von Stephan Menius wieder mit Luther versöhnte. Auch dort gründete er wieder eine deutsche Schule und begann die Arbeit an einer programmatischen didaktischen Schrift zum Lesenlernen, der Rechten weis, die 1527 erstmals in Erfurt bei Johannes Loersfeld erschien. Zu Beginn dieser Schrift vermerkt er, dass er im Anhang „auch ein gesprech der kind aus dem Wort Gottes“ mit abdrucke, „wie das inn meiner schule mit den kindern der brauch ist“ (Ickelsamer 1534/1972, Bl. Aiij v.). Doch der Schulmeister ist der Obrigkeit in Sachsen, obwohl keinerlei reformatorische Aktivitäten über ihn bekannt sind, suspekt, er ist inzwischen auch mit dem Schwärmer Caspar Schwenckfeld in Kontakt gekommen und daher nun eindeutig zum unerwünschten Außenseiter geworden. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Arnstadt, wo er ein Jahr blieb und ebenfalls eine Schule gründete, musste er 1530 Sachsen verlassen und nach Straßburg zu Wolfgang Capito flüchten. Dort traf er auf Schwenckfeld und andere Exilanten der sogenannten radikalen Bewegung und dort entstand auch der Entwurf für die Teütsche Grammatica. Wohl um das Jahr 1532 musste er nach Augsburg gezogen sein, wo er als Schulmeister einer eigenen Schule 1533 das Bürgerrecht erwarb. In den fünf letzten Lebensjahren – Ickelsamer stirbt 1537 – erscheinen insgesamt vier Auflagen der Teütschen Grammatica und eine weitere der Rechten weis (Abb.3). Politisch tut sich Ickelsamer nicht mehr hervor, doch veröffentlicht er einen Trostbrief und ein Lied seines Freundes Schwenckfeld (Weigand 1882/1972).

Abb. 3
figure 3

Titelblatt der Rechten weis. (Quelle: s. Erfurt 1527)

Ickelsamer ist kein typischer Vertreter des Reformationszeitalters, er ist dennoch ein Neuerer und insofern auch ein bedingungsloser Intellektueller: „Seine Ideologie bricht mit den herkömmlichen Traditionen; er ist, wie Sebastian Franck und andere (ein) Outsider der Reformationsgeschichte“, so Otto Clemen in seiner Studie zu Ickelsamer (Clemen 1927, S. 246). Doch war die Reformation nicht sein Hauptanliegen, sondern die Befähigung der Menschen zum Lesen und die Pflege der deutschen Sprache. Dazu fühlte er sich von Gott berufen. Aus denselben religiösen Überzeugungen sah er sich außerstande, dieses Ziel innerhalb der etablierten gelehrten Institutionen zu erreichen. ‚Bildung‘ verstand er in erster Linie als eine Entfaltung der inneren Anlagen, nicht als Aneignung fremder Muster (Giesecke 1992). Konsequenterweise sah er deshalb die Hauptfunktion des Lehrers in der Förderung von Reflexion und kritischer Urteilskraft, in der Hilfe zur Selbsthilfe und zur Erkenntnis Gottes. Ickelsamer ist heute jedoch v. a. als erster deutscher Grammatiker, als innovativer Didaktiker und als der vermutlich bedeutendste Theoretiker des Erstleseunterrichts im 16. Jahrhundert bekannt. Und das hängt v. a. mit seiner revolutionären Lesemethodik zusammen, auf die ich nun eingehen will.

4 Die Methode Ickelsamers

Ickelsamers Methode in beiden Schriften zeichnet sich gleich durch mehrere Brüche mit den herkömmlichen Vorgehensweisen im Schulunterricht und bei der Alphabetisierung aus. Ich zähle diese Neuerungen nur kursorisch auf:

  1. 1.

    Mit dem Primat des Lautierens anstelle des traditionellen Buchstabierens geht Ickelsamer völlig neue Wege in der Erstlesedidaktik. Seine Lehrbücher sind die ersten Quellen, die nach der Methode der Lautanalyse der gesprochenen Sprache durch den Schüler verfahren, und zwar nach dem Schema: auditive Analyse – sprechmotorische Analyse – Zuordnung von Laut und Zeichen (Topsch 2003). In der seit dem Altertum und im Mittelalter vorherrschenden Buchstabiermethode war es nicht der Laut (potestas), sondern das graphische Zeichen (figura) und seine Benennung, der Buchstabe (nomen), welcher zuerst gelernt wurde und Ausgangs- und Endpunkt des Leseunterrichts waren; der Laut spielte eine untergeordnete Rolle (Giesecke 1992). Diese Methode verfolgten auch die volkssprachigen Fibeln, welche häufig die Buchstaben im Anlaut mit Bildern versahen. Ickelsamer knüpft stattdessen an die oralen (muttersprachlichen) Erfahrungen der Schüler an und leitet über den methodisch und didaktisch zentralen Zwischenschritt einer ‚idealen‘ Sprache erst in der letzten Phase zur Schriftsprache über. Ihm waren die tiefgreifenden Unterschiede zwischen seinem Herangehen und dem Buchstabieren der gelehrten Tradition bewuss, deren mangelhafte Ergebnisse im Unterricht er scharf kritisierte. Hier ein kurzes Beispiel für seine Vorgehensweise der Bewusstmachung der phonetischen Artikulation, Voraussetzung für die Ableitung der Grapheme aus den Phonemen:

Das d mit seinem gleichen t dringt die zungen oben an den gomen/das sye gleich daran klebt auch mit eim verfangen angezognem odem/das t ist herter. […] Das h wie man mit einem starcken odder scharpffen odem in die hende haucht. (Ickelsamer 1534/1972, Bl. A vi v.–A vii r.).

  1. 2.

    Im 15. und 16. Jahrhunderts. wurde nicht nur der lateinische Grammatikunterricht nach der Buchstabiermethode aufgebaut, sondern auch die meisten Fibeln des Elementarunterrichts in der Muttersprache folgten dieser Tradition. Eine Augsburger Schulhandschrift von 1486 zeigt genau, wie sehr sich auch volkssprachliche Lehrbücher an die lateinischen Vorbilder angelehnt hatten (Kiepe 1983). Die Mängel dieser Methode wurden von Ickelsamer und Jordan in dessen Leyenschul (1533/1972) erkannt und herausgestellt.

  2. 3.

    Ickelsamer erachtete für die deutsche Sprache die Erarbeitung einer Grammatik als notwendig, die eben keine Übersetzung oder Übertragung der lateinischen Grammatik sei (er selbst wandte sich gegen die Donat-Übersetzungen des 15. Jahrhunderts). Allerdings übernahm auch er – wohl aus methodischen Gründen – das Kategoriensystem aus der lateinischen Grammatik (Rössing-Hager 1984). Grundsätzlich zweifelte er – wie übrigens auch Martin Luther – die universale Geltung des Lateinischen an und plädiert für eine Differenzierung in der grammatischen Beschreibung.

  3. 4.

    Die grammatischen Kapitel seiner Teütschen Grammatica stehen in enger thematischer Beziehung zur Didaktik des Lesen- und Schreibenlernens (Ludwig 2000). Ickelsamer verbindet die Grammatik in Form der Benennung und phonetischen Beschreibung der Laute des Deutschen, der Hinweise auf Mängel in der Korrelation zwischen Lauten und Schriftzeichen, der Hinweise zur Silbentrennung, zur Aussprache der Diphthonge, zur Orthographie, Etymologie und Interpunktion mit dem Lesen- und Schreibenlernen (Rössing-Hager 1984). Er liefert somit einen „ganzheitlichen Ansatz“, in welchem die Lese- und Schreibübungen in ein allgemeines grammatisches Verständnis eingebunden sind, welches Sprachanalyse und Sprachbeschreibung zur Voraussetzung des Lesenlernens machte. Auch dies war eine absolute Neuerung:

Man solt denn erst aus dem teütschen schůler ainen Grammaticum machen/vnd jn leren alles was zů ainer teütschen Orthographia/Etymologia vnnd Sintaxi dienet/vnd das wer ser nutz/sonderlich denen die etwa gemaine schreiber solten werden/oder in den andern sprachen hernach wolten studieren/darzů sy gar leichtlich mœchten kummen/wa sy zůuor jren verstand in ainer sollichen teütschen Grammatic geyebt hetten (…). (Ickelsamer 1537, Bl. D7 r. u. v)

  1. 5.

    Ickelsamers Methode bleibt somit nicht bei der Vermittlung von Lesen und Schreiben als „Kulturtechnik“ stehen. Sie umfasst durch die sprachliche Bewusstseinsbildung auch die Schulung von kognitiven Fähigkeiten: die Übung der genauen Wahrnehmung von Lauten und ihrer Bestimmung, Analysefähigkeit, Selbstbeobachtung, die Förderung der Eigeninitiative, das Lernen durch das Spiel, über welches auch sprachliche Einsichten vermittelt werden sollten. In der Teütschen Grammatica geht er sogar so weit, den gesamten Grammatikunterricht unter dem formal-bildenden Aspekt der Verstandesausbildung zu sehen, was weit über eine bloße „Kulturtechnik“, wie Endres noch angenommen hatte, hinausgeht (Endres 1983). Der Sprachunterricht ist hier als integraler Bestandteil eines ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungskonzeptes zu sehen. Sprachpflege ist zugleich Bewusstseinsbildung (Siegfried 2004) und bewusster Sprachgebrauch ist wiederum Voraussetzung für ein gottesfürchtiges Leben.

  2. 6.

    Lernen ohne Lehrmeister: der vielleicht radikalste Bruch mit der konventionellen Lesedidaktik ist die Suggestion, wenn nötig auch ohne Lehrmeister lesen lernen zu können: „Wer von jm selbs/oder auch sunst von einem lermeyster bald vnd leichtlich will le = sen lernen/(…)“. (Ickelsamer 1534/1972, Bl. Biiij r.). Voraussetzung dafür ist die Annahme von

  3. 7.

    variablen Rezipientengruppen: Ickelsamers Schriften zielen nicht ausschließlich auf den schulischen Unterricht, sondern auch auf erweiterte Bildungskontexte. Doch diese funktionieren eben nicht völlig autonom: Es ist klar, dass das Lesenlernen mit Hilfe eines ‚Lehrers‘ von statten gehen muss, oder zumindest mit jemandem, der das Lehrbuch bereits lesen kann, etwa die Eltern:

Mit solcher feiner subtiligkeit/solten auch die schůlmeister jre schůler üben/vnd sie also lesen leren/dann das geb jrem verstand hernach zů vilen andern dingen geschickligkeyt/Die eltern auch die jre kind selbs daheym wolten leren lesen/solten sie ein weil mit di = ser kunst spilen lassen/das eins dem andern ein wort auffgeb/vnd es fraget/wieuil es bůchstaben het/vnd wie ein yeder solcher bůchstab vndterschidlich allein genennet/auch wie er/oder mit wellichem gerüst im mund gemacht würdt/ja solliches solte ein kurtzweil sein aller der/die nit lesen künden/vnd es etwas lernen wölten (…). (Ickelsamer 1534/1972, Bl. Bv v.-Bvj r.)

Und in der zweiten Ausgabe der Teutschen Grammatica heißt es:

(…) das mancher vater seine kinder dahaymen dadurch leret, das sy nit/wie oft geschicht/in gemainen öffenlichen schulen vnder den bösen kindern (wie yetzt gemainglich seind) verderbt wurden/Mancher gesell kündts seinen mitgesellen bey jm in der werckstatt eylendts leren (…). (Ickelsamer 1537, Bl. A v r.)

Hieraus erhellt, dass mit Hilfe der Didaktiken auch Eltern, Berufskollegen, Freunde und andere, die bereits lesen können, die Funktion des Schulmeisters einnehmen sollten. Dieser erweiterte Kontext wird mit dem Pathos des Selber-Lernens, und insofern des Lernens ohne schulischen Unterricht belegt:

Wer nun das lesen von im selbs so weit lernet/biß auff die erkenntnuß der gestalt oder form der Bůchstaben/der ist dieses rhůmes vnd preises wol werdt/das er mit warheyt sagen darff/er habs lesen frey von ihm selbs gelernet. (Ickelsamer 1534/1972, Bl. Bvj r.)

Es wird deutlich, dass die Teütsche Grammatica, aber auch die Rechte weis schon für mehrere Rezipienten geschrieben wurden: erstens die Sprachlerner, die eine tiefere Kenntnis der Sprache in Laut und Schrift erhalten sollen, ob im Unterricht oder außerhalb dessen, zweitens die Lehrenden – also v. a. Schulmeister, aber auch alle anderen, die mit Hilfe des Buches jemanden unterrichten wollten, und schließlich – v. a. in der Grammatica – die Didaktiker, die hier mit neuen Ansätzen konfrontiert werden und die Ickelsamer auffordert, diese weiterzuentwickeln.

5 Selbstlernen und Schulunterricht

Ich komme auf meine Ausgangsfragen zurück: in Ickelsamers Schriften hat das „selber lernen“, das sich an Laien, Erwachsene wie Kinder, einschließlich solcher bislang wenig alphabetisierter Gruppen wie die Gesellen und die ‚Jungfrauen‘ richtet, große Anziehungskraft: es ist Theorie, Praxis, Inspiration und Verheißung zugleich. In der Theorie bezieht es sich auf die einzigartige vierstufige Methode Ickelsamers, tatsächlich auch ohne Schulmeister und insofern ohne geregelten mündlichen Unterricht, nur mit Hilfe eines gedruckten Buches, lesen und schreiben zu lernen; und dies verbunden mit Lautanalyse, Etymologie, Orthographie, Silbentrennung und Interpunktion, sodass nicht nur das Lesen, sondern die ganze Sprache in all ihren lautlichen und schriftlichen Dimensionen gelernt wird. Freilich sind dazu – und das wird in beiden Werken erwähnt – andere Helfer beim Lernen nötig, die sich etwa im Familienkreis (Eltern, Geschwister, Kostgänger), im Rahmen der beruflichen Tätigkeit (Kollegen), unter korporativen Gemeinschaften oder im Freundeskreis verorten lassen.

In der Praxis richtet sich das Selber-Lernen auf die Anwendung der einzelnen Lernstufen: erst durch eigenes Erkennen und Separieren der Laute, Silben und Wörter, also eine Analysearbeit, die vom Schüler, nicht vom Lehrer geleistet werden muss, dann durch die Übertragung der Laute auf die zugehörigen Grapheme kann sich der Lernerfolg einstellen. Doch Ickelsamer bleibt hier nicht stehen: er stellt diese Lernpraxis in einen übergeordneten theologischen Rahmen der Vermittlung von sapientia durch göttlich geoffenbarte Gnade bzw. Inspiration. Diese pathetische Chiffre eines ‚theodidaktischen‘ Anspruchs bezieht sich auf Jesus als von sich selbst Gelehrten im Tempel und auf die daran anschließende, noch im Mittelalter sehr gut bekannte augustinische Unterscheidung zwischen Buchgelehrsamkeit und göttlicher Verleihung von Erkenntnis durch den heiligen Geist (im Sinne der Erkenntnis von sensus durch simplicitas).Footnote 2 Während die litterati stolze Weltweisen und Toren vor Gott genannt werden, kommen die Unwissenden durch Gott zum Wissen wie der inspirierte Adam aus den volkssprachlichen Genesiserzählungen. Diese v. a. in der deutschen Mystik weiter tradierte Auffassung führt bei Ickelsamer zu einer kritischen Haltung den Institutionen der Gelehrsamkeit gegenüber und zur Ablehnung der gelehrten Methoden und der Geheimhaltung des Wissens.

Damit steht auch die vierte semantische Achse, die Verheißung, indirekt in Zusammenhang: in kürzester Zeit selbst lesen und schreiben zu lernen ist ein Anspruch, den zu erfüllen die Lesewilligen höchste Opfer und Bereitschaft zur Askese, sicherlich aber Eigeninitiative und Motivation mitbringen werden: denn es wird eine Fähigkeit verheißen, die die Tür zum Glauben (Bibelkenntnis) und zum Weltwissen ganz weit aufstößt.

Diese Aspekte machen eine harte Differenzierung zwischen geregeltem Schulunterricht mit einem Schulmeister und autodidaktischem Lernen überflüssig. In allen Fällen ist das Selbstlernen auf den Unterricht beziehbar, das Lehrbuch kann sehr gut während des mündlichen Schulunterrichts, als Hausaufgabenbuch oder als zusätzliche Selbstlernmaßnahme gebraucht werden. Es mag sich aber auch auf andere Lern- und Bildungskontexte beziehen. Dazu musste es der Autonomie des Textes und des Lesers Rechnung tragen, denn wenn es auf dem Buchmarkt Erfolg haben wollte, war es notwendig, sich den neuen Kommunikationsregeln anzupassen. Bei Ickelsamer wird dies v. a. in seiner effizienten Beschreibungssprache ersichtlich, welche sich auf eine öffentliche Kommunikationssituation in der Standardsprache eingerichtet hat (Giesecke 1992).

Die beiden Schriften Ickelsamers waren somit einerseits auf die neuen autodidaktischen Bewegungen, die auf dem typographischen System basierten, bezogen und konnten Unterricht und Schulmeister ersetzen, andererseits waren sie aber auch echte Schulbücher für einen modernen Leseunterricht. Dies erreichen sie mit Hilfe einer flexiblen Rezipientenausrichtung und einer hybriden Gattungsform: sie waren gleichzeitig a) Anleitungsbücher (für Lehrer u. a.), also didaktische Texte; b) Lehrbücher (für den Schulunterricht) oder Selbstlernbücher (für den Selbstunterricht), womit der pragmatische Kontext, die tatsächliche Verwendung von Schulbüchern im Unterricht erfasst wäre; und sie waren c) grammatische und sprachtheoretische Schriften (hier muss man zwischen der Rechten weis und der Teütschen Grammatica noch unterscheiden), die sich zwar auch an die Lerner wenden, jedoch ebenso an zeitgenössische und spätere Sprachwissenschaftler, also Verfasser von Grammatiken und grammatikographischen Texten. Dass Ickelsamer hier erfolgreich war, zeigt die enthusiastische Rezeption vom Zeitgenossen Fuchssperger über Schottelius bis ins 19. Jahrhundert hinein (Müller 1888/1969).

6 Institutionelle und nicht-institutionelle Bildung

Abschließen möchte ich mit einigen methodischen Überlegungen, die angesichts der Polyfunktionalität von Ickelsamers Lesedidaktiken über den Rahmen des schulischen Unterrichts und der Schulbücher hinausgehen und gewissermaßen auf die spezifische Bildungssituation der Frühen Neuzeit abzielen. An Ickelsamers Schriften wird offenkundig, dass er das Lesen- und Schreibenlernen nicht nur als eine Vermittlung von ‚Kulturtechniken‘Footnote 3 angesehen hat, sondern als ‚Bildung‘ in einem viel umfassenderen Sinn: durch Alphabetisierung wird der Mensch befähigt, Sprache, Kultur und Religion besser zu ‚verstehen‘. Ickelsamers Bücher überschreiten somit den institutionellen schulischen Lernkontext auf verschiedene Weise; sie befähigen einerseits zum eigenen Urteil und somit zu größerer Autonomie gegenüber der Vormundschaft traditioneller Eliten (eine Forderung Luthers, aber später v. a. der radikalen Reformation), sie überschreiten diesen Rahmen auch räumlich, indem das Buch als einziges Lehrmittel beweglich und transportabel ist, und sie öffnen die Schulsituation als Rollenspiel in familiären und beruflichen Kontexten. Dieses gewaltige Potential einer Ausweitung von Bildungsmöglichkeiten, v. a. für die bisher vom Wissen und von der Bildung ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen, ist nicht allein dem Buchdruck zu verdanken (wie Giesecke meint), sondern auch – im Falle Ickelsamers – den durch die Reformation ausgelösten Erziehungsgedanken sowie den ökonomischen Bedingungen des typographischen Systems und sogar den politisch-konfessionellen Zuständen in Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

In den letzten beiden Jahrzehnten betonen immer mehr Arbeiten zur europäischen Bildungsforschung in der Frühen Neuzeit die differenzierte Bildungssituation des 16. und 17. Jahrhunderts: Die in früheren Studien zur Alphabetisierung häufig gemachte Korrelation von Schulbesuch und Lesenlernen (z. B. bei Engelsing 1973) wird nun, etwa unter Verweis auf das schwedische Modell des Hausunterrichts (home instruction system), Grundlage einer erfolgreichen Alphabetisierungskampagne, die ohne Schulen ausgekommen ist, stärker angezweifelt; Robert Houston definiert in seinem Buch Literacy in Early Modern Europe Bildung für die Epoche der Frühen Neuzeit als unorganisiert, unüberschaubar, als ein Gewirr verschiedener Praktiken und Maßnahmen, wobei das ‚Haus‘, lokale Gemeinschaften und individuelle Bildungsanstrengungen eine größere Rolle spielten als bisher angenommen (Houston 1988). Vor allem dem Phänomen des wandernden Schulmeisters – wie Ickelsamer auch bezeichnet werden kann – ist in Deutschland nur wenig Beachtung geschenkt worden, obwohl wandernde Schulmeister zur Alphabetisierung und Bildung außerhalb der Institutionen maßgeblich beigetragen haben. So unterstreicht Helen Jewell mit Blick auf die englische Situation: „Wandering pedagogues have no roles to play in the institutional history of schools, but they may have contributed a great deal to the education of medieval and early modern children“ (Jewell 1982, S. 3). Jewell macht auf die differenzierte Bildungssituation aufmerksam: es gab eine große Menge weniger formaler Unterrichtssituationen, v. a. auf dem Land, wo Kleriker kleine Gruppen von Schülern meist in ihrem Haus gegen geringes Entgelt oder kostenlos unterrichteten, oder wo illegale Schulmeister (pirate schoolmasters), vergleichbar den Winkelschullehrern in Deutschland, eigenen Unterricht anboten. Diese informellen Bildungsformen seien eine „unknown but possibly large quantity“ (Jewell 1982, S. 4).

Auch Geoffrey Parker zweifelt in seiner Studie zur Alphabetisierung häufig vorgenommene Korrelationen zwischen Schulbesuch und Lesenlernen an. Auch er macht auf die schwedischen vorindustriellen Leselernkampagnen aufmerksam, die ohne den Einsatz von Schulen einen beispiellosen Erfolg hatten. Er stützt sich dabei auf den Bericht der Universität Umeå zur schwedischen Bildungsgeschichte von 1977, welcher eine Rate von 90 % Alphabetisierung ohne Schulen für die frühe Neuzeit belegt.Footnote 4 In Schweden ordnete eine kirchliche Ordinanz in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts an, dass jedermann im Land lesen lernen solle. Der Pastor und die Gemeindeältesten befragten und prüften jährlich alle Gemeindemitglieder über fünf Jahre auf ihren Stand bei Lesefähigkeit, Kenntnis des Katechismus und der Heiligen Schrift. Die Resultate dieser Befragungen wurden in einem Register festgehalten und benotet. Jahr für Jahr konnte man daran die Reife der Schüler ablesen. Um 1700 berichteten viele Gemeinden in Schweden volle oder neunzigprozentige Lesefähigkeit ihrer Mitglieder, Männer und Frauen (Parker 1980).

Diese Daten sind für Europa ganz außer- und ungewöhnlich. Doch die Register wurden so akkurat geführt, dass ein das Ganze in Frage stellender Irrtum ausgeschlossen ist (Parker 1980, S. 217). Vor allem ist hier bemerkenswert, dass dieser Erfolg fast völlig ohne Schulen erreicht wurde. Meist lehrten die Eltern ihre Kinder, die religiöse Erziehung übernahm, wenn die Kinder 14 jährig waren, der Pastor oder die Gemeindeälteren. In fast allen Gemeinden war Lesefähigkeit Voraussetzung dafür, die Konfirmation zu empfangen, zu heiraten, vor Gericht auszusagen usw.

Der Lese- und Schreibunterricht war in der Frühen Neuzeit nicht an Institutionen, professionelle Lehrer oder an bestimmte Gebäude gebunden, er war in viel stärkerem Maß von einem formalen Klassenzimmer und einem zyklischen Schulbesuch unabhängig, als dies heute der Fall ist. Unterricht und Lernen waren autonome Variablen, die in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen erfahren konnten. Im 16. Jahrhundert waren die Vorläufer der heutigen Schulen zwar schon existent, doch ihre Distribution war minimal, nur ein Bruchteil der Kinder konnte sie besuchen. Außerhalb dieser Schulen gab es andere Formen von Unterricht und Lernen, die sehr wahrscheinlich mehr Menschen erreichten als in den Schulen selbst.

Von der Warte der individuellen und informellen Gruppen-Bildung aus gesehen plädiere ich für einen Bildungsbegriff, der in pluralistischer Weise alle nicht-institutionellen Bildungsaktivitäten mit einschließt. Er kommt den Individualitätsbestrebungen des Zeitalters entgegen und umfasst Vor- und Teilformen heutiger Einrichtungen und Praktiken. Ich bezweifle die Belastbarkeit eines Bildungsbegriffs, der vom Institutionellen ausgeht, für historische Untersuchungen, weil damit die Vielzahl von Eigen- und Gruppenaktivitäten, eine ganze Bandbreite alternativer Bildungsrealitäten, wie sie in Ickelsamers Schriften auch deutlich werden, aus dem Blick geraten. Zum Beispiel ist die Bildung von Frauen anhand einer Bildungskonzeption, die etwa häusliche und Gruppenbildung beinhaltet, sehr viel gewinnbringender zu untersuchen, da Frauen sehr lange von den öffentlichen Bildungseinrichtungen ferngehalten wurden.

Ein entinstitutionalisierter, pluralistischer Bildungsbegriff hat den Vorteil, gerade die Institutionalisierung der Bildung in der Frühen Neuzeit besser zu verfolgen und zu differenzieren. Wie wir an Ickelsamer gesehen haben, sollten Anspruch und Praxis der außerinstitutionellen Bildung nicht losgelöst von den allgemeinen pädagogischen und religiösen Bildungskonzepten der frühen Neuzeit betrachtet werden, und noch nicht einmal von den schulischen Lernkontexten. Denn die Überlappungen zwischen den Lernbereichen sind groß, oft haben wir es mit Mischformen von schulischem und außerschulischem Lernen zu tun. Dass das eine das andere nicht ausschließt, zeigen die multifunktionalen Lehrbücher Valentin Ickelsamers, die im Schulunterricht genauso wie zu Hause und im Beruf gebraucht werden konnten.