Zusammenfassung
Was passiert mit den erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudiengängen im Zuge der Bologna-Reform? Welche Konsequenzen hat die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge für die institutionelle Organisation der Disziplin in Form ihrer Studiengänge und damit auch für die Stellung der Disziplin im Hochschulsystem? Der Beitrag fragt auf der Basis einer Bestandsaufnahme der aktuell in erziehungswissenschaftlicher Verantwortung angebotenen Hauptfachstudiengänge sowohl nach den Strukturmerkmalen als auch nach der inhaltlichen Ausrichtung dieser neuen Ausbildungsmodelle. Für Letzteres bilden zum einen die verwendeten Fachbezeichnungen sowie die Modulhandbücher die Datengrundlage, die einem Vergleich mit dem von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) vorgeschlagenen „Kerncurriculum Erziehungswissenschaft“ unterzogen werden. Trotz der begrenzten Aussagekraft dieses spezifischen Blickwinkels wird deutlich, dass das Aufeinandertreffen hochschulpolitischer Reorganisationsprozesse mit einer identitätsuchenden Disziplin für die institutionelle Organisation der Erziehungswissenschaft einschneidende Konsequenzen hat. Diese schlagen sich vor allem in einer verstärkten Ausdifferenzierung der Hauptfachstudiengänge nieder, die sich sowohl auf die Stellung der Disziplin im Wissenschaftssystem als auch auf die disziplinäre Selbstreproduktion auswirken kann.
Abstract
What happens to study programs for a major in education science in the wake of the Bologna reform? What are the consequences of the transition to Bachelor and Master degree programs for the institutional organization of the discipline in the form of its study programs and thus for the position of the discipline in the university system? This contribution investigates both the structural characteristics and the subject-related orientation of these new training models on the basis of a survey of the current study programs offered in education science major programs. The technical terms used and the module manuals are compared with the ‘Core Curriculum Education Science’ proposed by the German Society for Education Studies (DGfE). Despite the limited validity of this investigation, it is clear that the clash of political reorganization of higher education processes with an identity-seeking discipline has drastic consequences for the institutional organization of education science. This is reflected in an increased differentiation of the major study programs within education science, which can affect both the position of the discipline in the academic system as well as the disciplinary self-reproduction.
Notes
Seit 2008 liegt ein neuer Entwurf für ein erziehungswissenschaftliches Kerncurriculum vor, der nicht mehr die Semesterwochenstunden, sondern die erforderlichen Leistungspunkte als Bezugsgröße vorsieht. Der vorliegenden Untersuchung wurde jedoch die Empfehlung der DGfE von 2004 zugrunde gelegt, da diese bei der Einrichtung der meisten der hier einbezogenen Studiengänge als Grundlage hätte dienen können, während das Kerncurriculum von 2008 erst später relevant werden konnte. Zudem wird im neuen Entwurf nur noch mit einer Gesamtangabe von Leistungspunkten argumentiert. Dabei soll der gesamte Komplex Erziehungswissenschaft 26 LP umfassen, plus einem Wahlpflichtbereich mit ebenfalls 26 LP. Insgesamt sind also 52 LP allgemein-erziehungswissenschaftliche Anteile im aktuellen Kerncurriculum vorgesehen, 36 für die jeweilige Studienrichtung, und 10 für die BA-Arbeit. Der Rest ist einem Nebenfach, den ASQ sowie dem Praktikum vorbehalten. Ein Vergleich der Angaben in den Modulhandbüchern mit dieser Variante eines Kerncurriculums macht eine Zuordnung von Grundlagen der Erziehungswissenschaft und Forschungsmethoden kaum mehr möglich, da die Bezugsgröße der Leistungspunkte nun nicht mehr nach einzelnen Bereichen differenziert wird.
Setzt man die Gruppierungsgrenze bei 90 Leistungspunkten und damit ähnlich dem früheren Magisterstudiengang, so liegt ein Drittel der Studiengänge unter dieser Marke.
Legt man die Gruppierungsgrenze höher an, dann finden sich an 50 Hochschulstandorten Bachelor- und Masterstudiengänge in einem Umfang von jeweils 90 Leistungspunkten und mehr und an 46 Standorten Bachelor- und Masterstudiengänge in einem Umfang von jeweils 120 Leistungspunkten und mehr.
Auf diese Problematik reagierte auch kürzlich die Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der DGfE: „Um die plurale und ausdifferenzierte Architektur unseres Fachs nach innen und außen zum Ausdruck zu bringen, schlagen wir der DGfE eine Namensänderung vor … in Deutsche Gesellschaft für Bildungs- und Erziehungswissenschaft“ (Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft, Protokoll 2011).
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Grunert, C. Erziehungswissenschaft im Spiegel ihrer Studiengänge. Z Erziehungswiss 15, 573–596 (2012). https://doi.org/10.1007/s11618-012-0282-z
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