Zusammenfassung
Die Erzeugung, Begründung und Durchsetzung von Leistungsbeurteilungen in der Schule stellt für Lehrkräfte in verschiedenen Hinsichten ein Problem dar. Einerseits sind die Grenzen des Konzepts der Schulleistung strittig, andererseits gilt es, ungeachtet der defizitären wissenschaftlichen Rationalisierung der Praxis der schulischen Leistungsbeurteilung vertretbare Selektionsentscheidungen zu produzieren sowie zwischen den vielfach als widersprüchlich empfundenen Zielsetzungen der Förderung und der Selektion abzuwägen. Der Beitrag geht der Frage nach, wie Lehrkräfte an öffentlichen Schulen mit diesen und ähnlichen Problemen umgehen. Er berichtet über Teilergebnisse eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts über „Selektionsentscheidungen als Problembereich professionellen Lehrerhandelns“ (Terhart/Langkau/Lüders 1999). Insbesondere werden Befunde einer Dilemma-Studie vorgestellt, in deren Rahmen Lehrkräfte mit problematischen Zensierungs-und Selektionsentscheidungen konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten worden sind. Dabei stehen keineswegs erneut die vielfach konstatierten Schwächen des Lehrerurteils im Zentrum der Betrachtung. Ziel des Beitrages ist es vielmehr, die erhobenen Stellungnahmen der Lehrkräfte als Ausdruck bestimmter Rahmenbedingungen schulischen Bewertungshandelns zu interpretieren, damit einen vertieften Einblick in die Praxis der Leistungsbeurteilung als Praxis einer in Organisationen tätigen Profession zu geben und Hypothesen für die weitere Forschung zu generieren.
Summary
Problems Concerning the Judgement of Pupils’ Performance
The generation, justification and assertion of judgements concerning pupils’ performance present teachers with a variety of problems. On the one hand, the boundaries of the concept of pupil performance are controversial whilst, on the other, in spite of the deficiency of scientific rationalization of this practice, adequate selective decisions must be generated and the balance between support and selection must be weighed up. This paper considers the way teachers in public schools cope with these and other similar problems. It reports on some of the results from a DFG-supported research project entitled “Selective decisions as a problem area in professional teaching practice” (Terhart/Langkau/Lüders 1999). In particular, responses from a dilemma study are presented, in which teachers were confronted with problematic selective decisions and asked for their professional opinion. The focal point of this study is not the regularly proclaimed weakness of teachers’ judgements. The objective of this paper is instead to interpret the professional judgement of teachers as an expression of particular conditions of school assessment practice; through this, to offer a deeper insight into the practice of performance assessment conceived of as the practice of a profession which works in organizations, and to generate hypotheses for further research in this field of study.
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Lüders, M. Probleme von Lehrerinnen und Lehrern mit der Beurteilung von Schülerleistungen. ZfE 4, 457–474 (2001). https://doi.org/10.1007/s11618-001-0047-6
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