Der Ruf nach Medienkompetenz gehört zu den Standardreflexen, wenn es um problematisches Medienverhalten geht oder wenn wir am Ende unserer Fachvorträge und Diskussionen ratlos sind. Die Fähigkeit, Kommunikation und Medien unter ethischen Gesichtspunkten zu reflektieren, Verantwortung zu übernehmen und dafür gute Gründe anführen zu können, stellt zweifellos einen wesentlichen Grundstein von Medienkompetenz dar. Dabei geht es nicht mehr um journalistische Professionsethik oder ein neues Schulfach, sondern im Sinne einer Publikumsethik um Bildung für alle User. Die Frage ist nur: Wie erlernt und vermittelt man diese zentrale Fähigkeit, wie bildet man sich kommunikations- und medienethisch?

Susanna Endres, mittlerweile FH-Professorin in München, setzt mit ihrer gewichtigen (und vom Quasi-Monopol-Verlag prohibitiv bepreisten) Dissertationsschrift hier an: Es geht nicht um eine weitere praktisch-philosophische Begründung medienethischer Normen, sondern um eine philosophisch begründete Praxis ethischer Medienbildung. Endres versteht ihre Rolle als Medienethikerin nicht als Richterin, die praktisches Medienhandeln an idealen Normen misst, und auch nicht als positivistische Beobachterin, die aus dem medienpraktischen Sein (Fehl‑)Schlüsse auf das normative Sollen zieht. Stattdessen möchte sie als Scout im Dialog mit der Praxis medienethische Bildungsangebote entwickeln, die sich praktisch bewähren (zumindest: evaluieren und optimieren lassen). Sie hat das Konzept Design-based Research genutzt, um auf der Grundlage des medienethischen Forschungsstands (Kap. 3. und 4) einen Onlinekurs („Anstand im Netz“) im Rahmen der Virtuellen Hochschule Bayern (VHB) zu entwickeln, zu erproben und unter Einbezug praktischer Erfahrungen mit anderen medienethischen Bildungsangeboten (Kap. 7) sowie den Ergebnissen der Kursbewertungen (Kap. 9) zu evaluieren. Der praktische Beitrag ist Dreh- und Angelpunkt des Vorhabens, was aber nicht bedeutet, dass es kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse gäbe. Endres möchte zur Klärung der Frage beitragen, „was medienethische Bildung ausmacht“ und „wie medienethische Kompetenzen gefördert“ (S. 32) werden können.

Die in Kap. 3 und 4 referierten Überlegungen beanspruchen keine Originalität und aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht mag man sich an manchen Stellen eine stärkere Fundierung im Theorie- und Forschungsstand wünschen. Im Kontext der Dissertationsschrift geht es vornehmlich um eine Annäherung an das, was durch medienethische Bildung vermittelt werden soll: die Befähigung zur Selbstentfaltung und Selbstauslegung des Homo medialis (M. Rath) und die „Betonung einer je individuellen freiheitlichen Verantwortung“ (S. 123). Dagegen ist wenig zu sagen, fraglich ist nur, was es für die Realisierung von Onlinekursen bedeutet. Susanna Endres begnügt sich bei der Beantwortung nicht mit dem Bohren der beiden dicken Bretter Ethik und Medien. Durch die Anlage ihrer Arbeit kommt sie nicht umhin, auch noch das „Bildungs-Brett“ zu bearbeiten. Die Lektüre der rund 80 Seiten (Kap. 5) lohnen nicht nur im Argumentationsgang der Studie, sie entfalten auch einen Kollateralnutzen für diejenigen unter uns, die in überadministrierten Bologna-Studiengängen Kompetenzen vermitteln und evaluieren müssen, statt Bildungsprozesse zu ermöglichen.

Endres versteht unter Bildung das Ergebnis von Lernprozessen und zugleich eine reflexive Transformation des Bildungssubjekts. Ihre praktische Aufgabe zwingt jedoch dazu, evaluierbare Ergebnisse als Zielvorgaben zu formulieren, die sich als Kompetenzen didaktisch operationalisieren lassen. Das wirft die Frage auf, ob es beim Kursangebot um Lernen oder um Bildung geht bzw. wie beides konkret zusammenhängt. Orientiert an Medienkompetenz-Konzepten von Baacke und Büsch entwickelt Endres ein Medienethikkompetenz-Modell (S. 175) und richtet den Blick auf eine ganze Batterie von Teilkompetenzen der übergeordneten ethischen Wahrnehmung‑, Urteils‑, Handlung- und Gestaltungskompetenzen.

Die didaktischen Grundlagen für die Gestaltung eines exemplarischen Onlinekurses (Kap. 6) werden durch ausführliche und facettenreiche „Einblicke in die Praxis“ (Kap. 7) mehr als nur ergänzt: 180 Seiten Literaturstudie, Sekundäranalyse von Daten sowie vier Experteninterviews mit akademischen Medienethikern und 15 mit potenziellen Anwender*innen aus der medienethischen Bildungspraxis helfen, kursrelevante Themenfelder und didaktische Erwartungen zu identifizieren.

Die Probe aufs Exempel erfolgt im Anschluss: Mithilfe von Leitfadeninterviews mit sieben der Alltagsexpert*innen sowie neun (der rund 550) Kursteilnehmer*innen wird „Anstand im Netz“ evaluiert. Wenig verwundert die insgesamt positive Bewertung, denn unzufriedene Drop-outs nehmen daran in der Regel nicht teil. Mehr Aufmerksamkeit hätte ich mir bei einigen Befunden gewünscht: Gerade die hoch gepriesenen digital-interaktiven Onlineinstrumente werden kaum genutzt. Erweisen sich die mit viel guter Absicht und Aufwand geschaffenen Foren und Videos in der Praxis als technologiegetriebener Didaktik-Schnickschnack? Und: Lassen sich medienethische Bildungserfolge ohne ein Paneldesign valide erheben?

Als Ertrag der umfangreichen theoretischen, empirischen und vor allem praktischen Studie formuliert Endres sieben, als Hypothesen zu verstehende, Gestaltungsprinzipien für Bildungsangebote. Nicht alle davon sind überraschend, aber sie basieren auf Erfahrungen und Bewertungen statt nur auf Deduktion. Mindestens zwei Prinzipien, nämlich die Nutzung ästhetischer und emotionaler Elemente sowie der Mut von Lehrpersonen, die eigene Position (als eine von vielen) zu vertreten, statt in Gleichgültigkeit zu verharren, scheinen bedenkenswert.