FormalPara Sammelrezension
  1. 1.

    Haim, Mario: Computational Communication Science: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2023. 358 Seiten. Preis: € 34,99.

  2. 2.

    Jünger, Jakob/Gärtner, Chantal: Computational Methods für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2023. 462 Seiten. Preis: Open Access.

Mario Haim sowie Jakob Jünger und Chantal Gärtner haben fast zeitgleich Lehrbücher veröffentlicht, die „Computational“ im Titel tragen. Computational Communication Science (CCS) und ihre Forschungsmethoden sind im Kern der Kommunikationswissenschaft angekommen. Bereits Bachelor-Studierende sollen von den Grundlagen der CCS gehört haben und möglichst niedrigschwellige Angebote erhalten, um sich in den Methoden auszuprobieren. Den Autor:innen der beiden Lehrbücher gebührt uneingeschränkter Respekt dafür, sich der Herausforderung gestellt zu haben, ein neues Lehrbuch und damit auch ein Curriculum für CCS zu entwerfen. Beide Bücher können wir, soviel vorweg, weiterempfehlen. Die Empfehlung muss aber die unterschiedlichen Profile der nur auf den ersten Blick ähnlichen Bücher berücksichtigen.

Computational Communication Science: Eine Einführung (Haim) bietet eine dezidiert kommunikationswissenschaftliche Perspektive. Anhand der 14 Kapitel ließen sich eine Einführungsvorlesung oder ein Überblicksseminar strukturieren, nach dessen Besuch die Teilnehmer:innen CCS-Forschung einordnen und nachvollziehen können. Im Fokus steht, wie sich kommunikationswissenschaftliches Erkenntnisinteresse durch CCS befriedigen lässt. Fast durchgängig werden neben methodischen und technischen auch forschungsethische und rechtliche Fragen angesprochen. Haims Präsentation ist im Vergleich zu Jünger und Gärtner weniger technisch und praxisorientiert, was sich im Verzicht auf direkt nutzbaren Code innerhalb des Buchs zeigt. Auch die späteren Kapitel lassen sich selbst dann gut lesen, wenn man die einführenden Kapitel zu technischen Grundlagen übersprungen hat. Dadurch kann die Lektüre der meisten Kapitel auch einzeln zum Einstieg in ein Thema empfohlen werden. Weniger geeignet scheint uns das Buch für diejenigen, die direkt in die angewandte CCS-Forschung starten wollen. Die kleineren praktischen Anwendungen im digitalen Begleitmaterial sind sicher geeignet, Berührungsängste absoluter Einsteiger:innen abzubauen. Von angewandter Forschung sind sie jedoch sehr weit entfernt. Zu den fortgeschrittenen Kapiteln 10 bis 14 werden aktuell keine praktischen Übungen angeboten. Gerade hier wäre der Bedarf an zugänglichen Praxismaterialien aber groß.

Computational Methods für die Sozial- und Geisteswissenschaften (Jünger & Gärtner) wendet sich an ein breiteres Publikum. Neben den Computational Social Sciences sollen auch die Digital Humanities angesprochen werden. Die Zielgruppen bestimmen dabei vor allem die Auswahl der Werkzeuge und die relativ voraussetzungslose Art der Vermittlung. Wie sich sozial- oder geisteswissenschaftliche Methodologie in Computational Methods widerspiegelt, ist kein Thema. In drei Teilen (Grundlagen, Programmierkonzepte, Anwendungsfelder) und zwölf Kapiteln werden zunächst technische und konzeptionelle Grundlagen ausführlich erklärt. Das Material führt auch in – aus Sicht der durchschnittlichen Sozial- oder Geisteswissenschaftler:in – fortgeschrittene technische Themen wie Versionsverwaltung oder paralleles Rechnen ein. Die Anwendungen zur Datenerhebung und -analyse werden eng entlang der praktischen Umsetzung erläutert. Stilbildend sind annotierte Screenshots und Codebeispiele. Diese werden auch im Online-Begleitmaterial zusammen mit Daten zugänglich gemacht und vertieft. Die vielen technischen Details dürften je nach Rezipient:in wohl unterschiedlich wirken: Wer bereits fest vorhat, praktische Fähigkeiten zu erwerben, wird zum Mit- und Nachmachen angeregt. Weniger Technikaffine werden durch die schiere Masse vermutlich eher abgeschreckt. In einem ersten CCS-Kurs würden wir das Material eher nicht als Grundlagentext für alle verwenden. Es ist stattdessen ein Buch, das wir in diesem Kurs denjenigen Studierenden geben, denen es schon in Sitzung 3 zu langweilig wird. Sie können sich hier inspirieren lassen und selbstständig tiefer in die Umsetzung und eigene Forschungspraxis einsteigen.

Bei der Lektüre beider Bücher fällt schnell auf, wie herausfordernd es ist, im dynamischen Feld CCS grundlegende Lehrinhalte zu definieren und diese aktuell zu halten. Sollen Lehrbücher eher etablierte Verfahren vorstellen, um vor allem Lektürekompetenz für bereits publizierte Forschung zu schaffen? Oder sollen sie neuere Verfahren diskutieren und damit Anschlussmöglichkeiten an die aktuelle Forschung bieten? Dies ist eine folgenreiche Entscheidung, wie beispielhaft an den Kapiteln zur automatischen Textanalyse zu erkennen ist: In beiden Büchern werden sehr ausführlich das Preprocessing von Textdaten sowie verschiedene klassische Analyseverfahren (Worthäufigkeiten, Diktionäre, Bag-of-Words-Modelle) vorgestellt. Aktuelle Large Language Models kommen bei Haim nur auf zwei Seiten am Ende des Kapitels und neuronale Netze bei Jünger und Gärtner vor allem im Kontext von Bildanalysen vor. In der aktuellen Forschungspraxis, so jedenfalls unser Eindruck, ist das Verhältnis genau andersherum. Die meisten dargestellten Verfahren sind durch Transformer- und Transfer-Learning-Modelle entweder obsolet geworden oder so weit verändert, dass die praktische Umsetzung und relevante Entscheidungen im Forschungsprozess fundamental anders aussehen als in den Büchern beschrieben.

Aktualisierungen in kleinerem (z. B. Anpassungen von Codebeispielen an neue Software-Versionen) und größerem Umfang (z. B. Veränderungen der digitalen Medienlandschaft; methodische Weiterentwicklungen) werden also immer wieder nötig sein. So kommt „Twitter“ in den aktuellen Versionen 99 (Haim) bzw. 115 (Jünger & Gärtner) mal vor. Haim nutzt Twitter-Daten unter anderem als leitendes Beispiel für die Erklärung von Datenbanken und zeigt eine Netzwerk-Analyse von Politiker:innen auf Twitter. Jünger und Gärtner zeigen im Kapitel zu automatisierter Datenerhebung, wie Daten über die Twitter-API erhoben werden. Beide Teams haben auf den Wegfall dieser Datenquelle reagiert: Haim mit einer inhaltlichen Diskussion im Kapitel zur „APIcalypse“, Jünger und Gärtner durch ein neues Beispiel zur API-Nutzung im Online-Material, das nun die Erhebung von Telegram-Daten zeigt.

Dies bringt uns zum wichtigsten Kritikpunkt dieser Rezension: Warum haben die Autor:innen ihre Bücher ausschließlich gedruckt und auf Springer.com veröffentlicht?Footnote 1 War es die Aussicht auf den Kuchen in Buchform oder die sozialisierte Gewohnheit, die Form der Lehrbücher aus dem eigenen Studium fortzuschreiben? Uns geht es hier nicht vorrangig um Ideale oder Zugangsfragen – Jünger und Gärtner haben vorbildlich unter einer Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Auch Haims Buch dürfte dank der Paket-Deals der Universitäten mit dem Verlag den meisten Studierenden kostenlos zugänglich sein. Das Zusatzmaterial zu beiden Büchern findet sich bereits außerhalb des Verlagsangebots. Gerade angesichts der Gegenstände der Texte ist die (ausschließliche) Publikation als Buch und auf Springer.com aber aus der Zeit gefallen, unpraktisch und mindert spätestens mittelfristig auch den Wert der Inhalte. Blicken wir auf die internationale Konkurrenz auf dem Lehrbuchmarkt: Die populäre CSS-Einführung Bit by Bit (https://www.bitbybitbook.com/), Computational Analysis of Communication (https://cssbook.net/) oder Text Mining with R (https://www.tidytextmining.com/) – alle sind zwar als Printversion bei kommerziellen Verlagen erschienen, aber auch in einer offenen und freien, für das Lesen im Browser optimierten Version verfügbar. Im Vergleich dazu ist der Umgang mit den digitalen Springer-Büchern mühsam. Das Layout ist weiterhin für Buch und PDF-Version optimiert. Den HTML-Versionen fehlt Code Highlighting (und überhaupt eine Code-Formatierung über Festbreitenschrift hinaus). Annotierter Code endet als Screenshot-Bilddatei ohne Kopier- oder gar Probiermöglichkeit. So machen die ersten CCS-Gehversuche gleich weniger Spaß. Die starre Bindung an eine Verlagsversion erschwert zudem kurz- und mittelfristige Anpassungen. Wie schön wäre es, wenn etwa die oben genannten Überarbeitungen zur Twitter-API (oder wenigstens Hinweise zur Kontextualisierung) bereits in einer aktualisierten Online-Version zu lesen wären.

Fazit:Wir gratulieren den Kolleg:innen zu ihren gelungenen Lehrtexten und würden uns freuen, die nächsten Auflagen in einer noch zugänglicheren und praktischeren Publikationsform weiterempfehlen zu können.