Vor 100 Jahren, am 29. Oktober 1923, findet die Übertragung des ersten offiziellen Rundfunkprogramms in Deutschland aus dem Berliner Vox-Haus mit einem provisorischen Röhrensender statt. Stephan Krass nimmt das Jubiläum zum Anlass, um die Geschichte des Radios von ihren Anfängen in der Weimarer Republik über die Gleichschaltung im Nationalsozialismus, die „On-Air“-Streitgespräche der frühen Bundesrepublik bis hin zu Piratensendern und Podcasts in einem Essayband auf 254 Seiten zu besprechen.

Das Buch setzt ein mit den „wilden Anfangsjahren“ (S. 19) des Mediums, in denen das Radio als „Versuchsanstalt, Spielwiese und Lehrkanzel“ (S. 19) dient und in denen das Programm dominiert wird von Musik, Vorträgen, Lesungen und Rezensionen. In dieser Zeit werden mitunter ganz besondere Beiträge gesendet: Dazu gehören die Live-Berichte über die Atlantiküberquerung von Charles Lindbergh 1927. In den Äther schafft es auch die Radio-Reportage von Herbert Morrison zum Absturz des Luftschiffs Hindenburg 1937, die für den Autor von Radiozeiten eines der „bewegendsten Dokumente der amerikanischen Radiohistorie“ (S. 42) ist. Ein anderes, weitaus geläufigeres Beispiel ist das Radio-Hörspiel „War of Worlds“ von Orson Welles, das 1938 die fiktive Landung von Außerirdischen direkt „in die Wohnzimmer eines alarmierten Radiopublikums“ (S. 44) bringt. Gerade in seinen frühen Jahren kommt das Radio vielen Hörer:innen unheimlich vor: Bedenken gegenüber dem neuen Massenmedium sind weit verbreitet. Mit „seinen ungeklärten Fragen zur Herkunft der körperlosen Stimmen und der dislozierten Geräusche“ (S. 69) gibt das Radio seinem Publikum damals noch Rätsel auf.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wird das Radio in Deutschland in ein staatlich gelenktes Programm und in einen zentralen Kanal für die nationalsozialistische Ideologie zwangsüberführt: Aus „Hören wird Gehorchen“ (S. 71), wie Krass pointiert zusammenfasst. Der Volksempfänger dient dabei bekanntermaßen als „propagandistische Allzweckwaffe“ (S. 103). Der gleichgeschaltete Rundfunk erreicht mit seiner Mischung aus Propaganda und Unterhaltung große Teile der Bevölkerung.

Ausführlich und kenntnisreich beschäftigt sich Krass anschließend mit dem neu gegründeten, öffentlich-rechtlichen Radio der Nachkriegszeit. Für ihn ist es gleichermaßen „Diskurs, […] Dissens, […] Dissidenz“ (S. 136). Nach 1949 gilt das öffentlich-rechtliche Radio „nicht nur als Lautmedium, sondern schlechthin als Leitmedium“ (S. 162). Denn gerade im Radio wird der intellektuelle Diskurs der jungen Bundesrepublik wie in keinem anderen Kanal geführt: Das Radio ist „Medium und Movens jener Gründungsdebatten, die den Neuanfang der jungen Republik begleiteten“ (S. 172).

Danach widmet Krass sich den Piratensendern, die den „etablierten Sendern mit ihrem oft steifen Verlautbarungsjournalismus“ (S. 200) bald gegenhalten. So schaffen die „Äther-Piraten, Disc-Jockeys und Musikproduzenten“ (S. 200) neue, anfangs illegale Angebote. Piratensender wie Radio Caroline strahlen ihr Programm zunächst im Ärmelkanal von Booten aus – und senden damit außerhalb des rechtlichen Geltungsbereichs und wider dem damaligen Verbot von privaten Radiostationen. Während den rebellischen Piraten, die die Privatisierung im Bereich des Rundfunks einläuten, ein ganzes Kapitel gewidmet ist, erhalten die kommerziellen Sender nur wenig Aufmerksamkeit – obwohl sie in Deutschland seit 1984 fester Bestandteil des dualen Mediensystems sind. Auch wenn die Mehrzahl der reichhaltigen Wortbeiträge, Informations- und Kultursendungen oder Hörspiele unstrittig vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern zu suchen (und zu finden) ist, verdienen die privaten Stationen sicherlich mehr Aufmerksamkeit. Tatsächlich ist bundesweit, rein zahlenmäßig betrachtet, das kommerzielle Lokalradio (mit Abstand) die stärkste Angebotskategorie im Hörfunk. Die meisten unter ihnen agieren in diffizilen Rahmenbedingungen. Sowohl Forschungs- als auch Diskussionsbedarf bestünde hier also durchaus.

Auf den letzten Seiten steht schließlich der „Aufstieg der Podcasts“ (S. 219) im Mittelpunkt. Der Autor sieht in Podcasts längst „kein Nischenphänomen“ (S. 219) mehr, für ihn sind sie vielmehr der Beginn einer „neuen Audio-Ära“ (S. 219). Den Grund für die neue Hochkonjunktur des Hörens sieht er im Trend zur nicht-linearen Rezeption: „Wer Podcasts hört, steuert sein Medienverhalten selbst und kann unabhängig von angestammten Programmplätzen und jenseits von festen Sendezeiten sein eigenes Hörpensum zusammenstellen“ (S. 220 f.). Der Oral Turn, die Begeisterung für eine neue Mündlichkeit und für das Hören, stimmt Krass merklich optimistisch für die Zukunft der Audio-Branche.

Insgesamt ist Radiozeiten reich an scharfsinnigen Reflektionen und vielseitigen Anekdoten aus der 100-jährigen Geschichte des Mediums. Wer sich mit der Entwicklung des Radios befassen möchte, findet in den 14 Essays einen oft unterhaltsamen, immer lesenswerten Ausgangspunkt. Stephan Krass gelingt ein facettenreicher Überblick, der die komplexe, vielschichtige Entstehung des Mediums mit all seinen Erfolgen und Rückschlägen bis hin zu den Trends der Gegenwart ausleuchtet.