Wenn es stimmt, was man sich auf internationalen Konferenzen bisweilen erzählt, dass nämlich die deutsche Kommunikationswissenschaft sehr stark positivistisch geprägt sei, dann wäre der natürliche Ort für die Theorieentwicklung des Faches heute außerhalb des Landes zu vermuten. Das im Kontext der International Communication Association entstandene Handbuch ist Ausdruck einer dynamischen Debatte zur internationalen Diversifizierung der Kommunikationstheorie. Dabei ist nicht so sehr der Ruf nach „de-Westernization“ von Belang oder der Versuch, spezifische kulturelle Prägungen herauszuarbeiten, denn solche Versuche sind eher identitätspolitisch als wissenschaftlich bedeutsam und werden von den Herausgeber*innen Yoshita Miike und Jing Yin etwa am Beispiel der Unterscheidung zwischen „Asiacentricity“ und „Asiacentrism“ selbst kritisch hinterfragt. Ein Vergleich theoretischer Ansätze zeigt schnell, dass die Grenzen der globalen Theorie nicht prinzipieller, sondern konjunktureller Natur sind. Unterschiede in den Theorielandschaften hängen von den sozio-politischen Kontexten ab, wobei theoretische Ansätze in den Regionen mit einheimischen Philosophien verbunden werden. Dies verringert aber nicht die Anschlussfähigkeit der Theorien, weil zentrale kommunikationswissenschaftliche Parameter – z. B. grundlegende Analysekategorien von Medien, Diskurs, Interaktion usw. – bestehen bleiben. Die dadurch entstehende „Übersetzbarkeit“ macht Theorieentwicklungen weltweit beachtenswert: Welche theoretischen Innovationen gibt es jenseits des westlichen Horizonts, von denen wir lernen können? Das Handbuch ist ohne Zweifel eine Fundgrube. Nach Kontinenten gegliedert (Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa; Nordamerika und Australien fehlen) bieten 29 Beiträge erste Einblicke in originelle Angebote der jeweiligen Theorielandschaften. Einige Beispiele: arabische Frühaufklärung und die Kommunikationstheorie von al-Farabi und Ibn Khaldun (Merican); Konfuzianismus und Kommunikation (Yum); Kommunikation und Befreiungsideologie bei Paolo Freire (Ramalho); horizontale und dekoloniale Kommunikation (Barranquero/Ramos-Martin); soziale Kommunikation im europäischen Vergleich (Averbeck-Lietz/Cordonnier); kommunikative Partizipationstheorie bei Horányi Özséb (Demeter).

Wenn den Beiträgen eines gemeinsam zu sein scheint, dann ist es die Abkehr von dem als „westlich“ gedeuteten Medienzentrismus und eine Hinwendung zu Phänomenen der direkten und sozialen Kommunikation. Globale Theorieentwicklung wird zu einer Avantgarde eines Strukturwandels öffentlicher Kommunikation, der nicht mehr nur mit den Plattformen der sogenannten „sozialen Medien“ verbunden ist. Theoretische Impulse finden sich bei diesem Paradigmenwechsel vor allem in den Bereichen Nachhaltigkeit und Kommunikation, soziale Bewegungskommunikation und interkulturelle Kommunikation.

Das ursprünglich aus Ländern wie Ecuador und Bolivien stammende Konzept des Buen Vivir (Das gute Leben) ist ein gemeinschaftsorientiertes und auf Nachhaltigkeit zielendes Lebensmodell, das sich heute in Lateinamerika und in Ansätzen auch bereits in Europa in zahlreichen Schulen weiterentwickelt hat. Die Autor*innen des Handbuchbeitrags (Tanco/Calderón) verdeutlichen, dass hier Kommunikation eine zentrale Rolle spielt, da nicht mehr der als zu persuasiv und technikzentriert empfundene Kommunikationsstil der westlich geprägten Moderne, sondern ein interaktives Kommunikationsverhalten in den Vordergrund rückt, das dialog- und verständnisorientiert ist. Während Ansätze der Medienökologie in der westlichen Theorie ein Randdasein fristen, wäre in der Tat zu fragen, ob die allseits geforderte Nachhaltigkeit in Zeiten des Klimawandels nicht auch kommunikativ gedacht werden müsste – was in der deutschen Kommunikationswissenschaft selten geschieht. Brauchen wir nicht weniger schnell produzierte Nachrichten, Infodemien und kaum beherrschbare Fake News und stattdessen mehr vertiefte Interaktion in Lebenswelten, auch über politisch-ideologische Grenzen hinweg? Weniger Nachrichten und Informationen als Wegwerfprodukte und mehr nachhaltiges Kommunizieren statt nur Kommunikation über Nachhaltigkeit?

Die afrikanische Schule des Ubuntu, ein pan-afrikanischer Diskurs, der die soziale Verantwortung der Kommunikation in den Vordergrund rückt, ist ähnlich ausgerichtet (Sesanti). Buen Vivir und Ubuntu gehen in ihrem Anspruch auf eine grundsätzliche Neuausrichtung moderner Kommunikation über den „ökokulturellen Ansatz“ von Milstein und Mocatta hinaus, die sich für eine De-Elitisierung der globalen Umweltkommunikation einsetzen.

Was soziale Bewegungskommunikation angeht, ist die indische Befreiungsbewegung von Mahatma Gandhi bis heute das Maß aller Dinge. Dabei wird kaum beachtet, dass Gandhis pazifistische Philosophie des Ahimsa in zentraler Weise auf Kommunikationsannahmen beruhte, was mittlerweile zu Arbeiten an einer entsprechenden Kommunikationsethik geführt hat (Kumar). Anders als in modernen Protestbewegungen von Black Lives Matter über Fridays for Future bis zum Arabischen Frühling und iranischen Aufständen stand bei Gandhi nicht allein die mediale Resonanz im Vordergrund, sondern er zielte auf eine Einheit von Protest und Protestierenden. Weniger gelegentliche Demonstrationen als die Projektion einer humanistischen Lebenspraxis verschafften Gandhi und seinen Weggefährt*innen (und in ähnlicher Weise auch Figuren wie Martin Luther King oder Nelson Mandela) eine auf symbolischer Kommunikation basierende langfristige Wirkung.

In der interkulturellen Kommunikation zeigen Dai und Martin, dass in der weltweiten Theoriedebatte – anders als vielfach im Westen – nicht isolierte Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es hier um die „interkulturelle Persönlichkeit mit multikultureller Kompetenz“ (besser: awareness). Derartige Modelle erscheinen viel voraussetzungsvoller als die in unseren Breiten so beliebten interkulturellen Kommunikationstrainings in der Tradition von Watzlawick oder von Thun, da sie auf eine Erneuerung des Bildungskanons gerichtet sind, was zu strukturellen Veränderungen in der Kommunikationssituation beitragen soll.

Insgesamt ist der vorgelegte Band ein wertvoller Beitrag zur globalen Debatte der Kommunikationstheorie, der innovative Impulse für die Kommunikationswissenschaft bereithält.